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Abgang in Zartwasser: Roman
Abgang in Zartwasser: Roman
Abgang in Zartwasser: Roman
eBook688 Seiten8 Stunden

Abgang in Zartwasser: Roman

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Über dieses E-Book

Das könnte jedem von uns passieren. Mitten im Leben stehend, entwickelt der 46jährige Bildhauer Armin Bodenschön eine ebenso ungewöhnliche wie seinerseits unerwünschte Fähigkeit: Er sieht die Geister Verstorbener. Übersinnliche Begegnungen bringen ihn von da an regelmäßig an seine Grenzen und nicht selten darüber hinaus, denn die Spukgestalten bitten ihn, Aufträge für sie auszuführen. Armin, der sich nicht im Mindesten für Übersinnliches interessiert, lässt nichts unversucht, um sich aus dieser Situation zu befreien. Gleichzeitig legt er großen Wert darauf, seine Fähigkeit geheim zu halten, was die Sache nicht einfacher macht. Doch der unfreiwillige Held wächst mit seinen Aufgaben, während sich im Schneckentempo möglicherweise eine neue Beziehung anbahnt. Er entpuppt sich als liebenswerter Sisyphos, der nach jedem Hochwuchten seines metaphorischen Felsklotzes inständig hofft, es möge das letzte Mal gewesen sein. Der höchst amüsante Episodenroman enthält sage und schreibe 18 Happy Ends und ist damit wahrscheinlich das Buch mit der größten Happy-End-Dichte seit der Erfindung des Buchdrucks! Aufgrund der Episodenstruktur bietet der Roman sowohl Liebhabern kurzer literarischer Formen, als auch solchen Lesern, die gern genießerisch in die Welt eines umfangreichen Werkes eintauchen, ein spannendes Lesevergnügen. Und oftmals schimmern hinter dem skurrilen Humor unvermutet die großen Themen des Lebens hervor.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Aug. 2016
ISBN9783000533945
Abgang in Zartwasser: Roman
Autor

Birgit Schilling-Hutter

Birgit Schilling-Hutter wurde 1960 geboren und lebt mit ihrem Mann sowie zwei Hunden, zwei Katzen und drei Schildkröten in Süddeutschland.

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    Buchvorschau

    Abgang in Zartwasser - Birgit Schilling-Hutter

    Allen gewidmet, die mich inspiriert haben

    (und das sind viele)

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    ARMINS ERSTER TAG

    Ein Ego wird geschreddert

    Neubeginn

    Unheimlich

    Ein Auftrag also

    EINE BLUME

    Über Lesezeichen

    Minnies Triumph

    Zurück in Armins Welt

    Verwandlung

    EINE NEUE FREUNDSCHAFT

    Vertraut

    Punkt ohne Wiederkehr

    Ein Traum

    Noch mal davongekommen

    LETZTER WILLE

    Besuch zum Tee

    Angelausflug

    Ein neuer Verbündeter

    Ein Geist über dem Wasser

    VON EINEM, DER AUSZIEHT

    Eine Berühmtheit treffen

    Kein Entkommen

    Eine Eröffnung

    Der Auszug

    BITTE KOMM NICHT NACH

    Im Kino

    Verschiedene Welten

    Das wird nicht leicht

    Ein neues Spiel

    DER DÜMMSTE UNFALL ALLER ZEITEN

    So was passiert immer nur mir

    Ein Eisbrecher

    Das ist kein Zufall

    Kinder

    UNZEITIGES ABLEBEN

    Eine Einladung

    Ein Besuch im Dunkeln

    Jeder ist verdächtig

    Ja, warum nur

    TONI UND DER SCHOTTE

    Fluchtversuch

    Ein Selbstmörder?

    Zwei Gefälligkeiten

    Déjà vu

    DER ILLUSIONIST

    Verwirrung

    Klarheit

    Echte Schwierigkeiten

    Hilfe

    DIE RENOVIERUNG

    Mütter

    Die Tochter

    Schwedisches Design

    Fragen

    AUF FESTEM BODEN

    Nicht direkt betrunken

    Poltergeist

    Entscheidungen

    Beinah eine Katastrophe

    VÄTER UND SÖHNE

    Ein Brief

    Wahre Liebe

    Der Sohn

    Ein oder zwei unangenehme Wahrheiten

    THERAPIE

    Noch ein Fluchtversuch

    Alternativprogramm

    Verzweiflung

    Durchbruch

    DER EINSAME BENJAMIN

    Ein Notfall

    Lebensretter

    Eine Verabredung

    Im Zoo

    BIS DASS DER TOD UNS SCHEIDET

    Zu viel Freiheit

    Business

    Wie heißen Sie nochmal?

    Doch noch geschafft

    DIE GEWINNERIN

    Darf ich dir die Gewinnerin vorstellen?

    Ein Abenteurer

    Klappt das noch?

    Improvisation

    KANINCHEN UND SCHLANGE

    Tomatensauce

    Das läuft schief

    Unvereinbare Ansichten

    Ungewissheitstoleranz

    Prolog

    Eine Mitarbeiterin des Bettengeschäfts schließt die Tür ab und begibt sich in die Mittagspause. Die Kirchturmuhr schlägt Eins.

    Aus Tüten essende Menschen gehen vorüber und scheuchen Tauben auf, die nach Verzehrbarem in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen fahnden. Vor einem Restaurant stehen vollbesetzte Tische in der Sonne; nur im Schatten gibt es freie Plätze. In Kürze wird es genau umgekehrt sein, aber noch ist jeder Sonnenstrahl willkommen. Unfassbar zutrauliche Spatzen suchen unter den Tischen nach Krümeln. Kreischende Kinder spielen am historischen Springbrunnen in der Mitte des Platzes. An der höchsten Stelle des Brunnens thront eine Möwe, die alles überblickt.

    Die meisten Häuser rings um den Marktplatz von Zartwasser waren bereits altehrwürdig, als Mozart die Zauberflöte komponierte. Einige von ihnen standen sogar schon an diesem Ort, als sich Columbus auf den Seeweg nach Indien machte, den er bekanntlich nicht fand.

    Gemächlich kommen zwei Männer um eine Ecke. Einer von ihnen schleckt ein Eis. Dem anderen wird an diesem Tag noch etwas sehr Unerfreuliches geschehen.

    Beide sind dunkelhaarig und überaus ansehnlich. Um die Unterschiede im Erscheinungsbild der Männer in wenigen Worten anschaulich zu machen, möge die Vorstellung dienen, sie seien Teilnehmer an einer landwirtschaftlichen Tierschau. In diesem Fall könnte der eine – er heißt Philipp Arendt – als zartgliedrig gebautes Pferd mit beweglichen Nüstern und unentwegtem Ohrenspiel beschrieben werden, wogegen der andere als schönheitspreisgekrönter, kraftvoller, prächtiger Bulle mit breiter Stirn und klugem, gutmütigem Blick imaginiert werden kann.

    Sein Name ist Armin Bodenschön.

    Die beiden Männer überqueren den Platz und schlendern die Marktstraße hinauf. Ihnen entgegenkommend, erklimmt ein Auto eine Verkehrsberuhigungsschwelle. Armin erkennt den Fahrer und hebt freundlich lächelnd die Hand zum Gruß. Die Leute im Wagen winken ihm zu, worauf sie in die Sitze gepresst werden, da die Fahrzeugfederung beim Abstieg von der Schwelle in die Knie geht.

    Philipp war am Vormittag im Fitness-Studio und hat sich daher zwei Eiskugeln genehmigt. Der soeben erfolgte gestische Austausch von Nettigkeiten ist ihm entgangen, denn er ist höchst konzentriert darauf, mittels Zunge zu verhindern, dass schmelzende Tropfen außen an der Waffeltüte herunterlaufen. Jetzt sieht er Armin seitwärts an.

    „Ich kann’s immer noch nicht fassen, dass du dir kein Eis gekauft hast."

    Einen begehrlichen Blick auf das Eis kann Armin zwar nicht unterdrücken, doch er erwidert tapfer:

    „Ich versuche Gewicht zu verlieren."

    „Schon wieder? Du bist echt der Poster-Boy des Jojo-Effekts."

    Die Fäuste gegen die Hüften gestemmt, bleibt Armin stehen und mimt Empörung. Er hat auffallend große Augen, und wenn er sie aufreißt, verleiht ihm dies etwas Komödiantenhaftes.

    „Hey!" droht er.

    Lachend dreht sich Philipp zu ihm um.

    „Das war ein Kompliment, Mann! Ich hab dir ein Kompliment gemacht!"

    „Ach? Na, der Teil muss mir wohl entgangen sein."

    „Immerhin hab ich dich einen Poster-Boy genannt."

    „Das soll ein Kompliment sein? zweifelt Armin. „Es gibt wahrscheinlich auch einen Poster-Boy des Zahnverfalls. Hast du dir schon mal die Poster im Wartezimmer beim Zahnarzt angesehen?

    Philipp verzieht das Gesicht.

    „Das versuche ich zu vermeiden."

    „Und es gibt mindestens einen Poster-Boy für Adipositas."

    „Du könntest erst noch rechthaben", räumt Philipp ein.

    Sie setzen sich wieder in Bewegung.

    „Hautkrankheiten?" Armins Humor, einmal in Gang gesetzt, ist schwer zu bremsen. Er findet Gefallen an dem Thema.

    Die beiden Männer sind an Philipps Arbeitsstätte angekommen. Seine Werkstatt hat er in den Räumen einer ehemaligen Apotheke hier im historischen Stadtzentrum von Zartwasser eingerichtet.

    Er leckt seine Finger ab, zieht einen Schlüssel aus der Tasche und sperrt das Schloss auf.

    „Also dann. Ich seh‘ dich um sieben."

    „Nagelpilz! – Soll ich dich abholen?"

    „Nein, ich komme zu dir. Könnte ein bisschen später werden."

    Eine antike Ladenglocke erklingt, als Philipp das Gebäude betritt. Während sich hinter ihm die Tür gemächlich zu schließen beginnt, kommt Armin draußen erst richtig in Fahrt.

    „Akne! Garantiert gibt‘s einen Poster-Boy für Akne! Werbeagenturen brauchen so was für die Kosmetik!"

    Kurz bevor die Tür ins Schloss klickt, ertönt Philipps Stimme von drinnen:

    „Armin! Lass es!"

    Mit einem selbstzufriedenen Grinsen wendet der sich ab und geht weg.

    01

    ARMINS ERSTER TAG

    Ein Ego wird geschreddert

    Es ist kurz vor neunzehn Uhr. Der kühle Abendwind fährt durch Philipps Haar, als er seine Wohnung verlässt. Die Zugänge in dem Mietshaus liegen im Freien; zu erreichen sind sie über eine Metalltreppe und eine Art lange Balkons, von denen sich auf jedem Stockwerk einer über die gesamte Längsseite des Gebäudes zieht. Philipp zögert, entscheidet sich jedoch gegen eine wärmere Jacke, schlägt stattdessen seinen Kragen hoch und trabt die Treppe hinunter.

    Wie Armin Bodenschön ist auch er in Zartwasser geboren und hat nach etlichen bewegten Lebensjahren hierher zurückgefunden. Er wohnt in einem Ein-Zimmer-Apartment im obersten Stockwerk, wohin er sich einst nach einer Trennung vorübergehend zurückgezogen hat. Dort lebt er inzwischen seit sechzehn Jahren.

    Praktischerweise hat er es nicht weit, und so macht er sich zu Fuß auf, um seinen Freund abzuholen. Dessen Heim ist schon von weitem zu erkennen, auch für jemanden, der nicht – wie Philipp – den Weg dorthin im Schlaf finden würde. Zwar ist es ein durchschnittliches Vorstadt-Einfamilienhaus mit Einzelgarage und Stellplatz, mit pflegeleichter Vorgartenbepflanzung und Terrasse sowie Spielrasen hinter dem Wohnhaus, doch schafft es der Anblick des Grundstücks nicht selten, den vorbeiziehenden Straßenverkehr zu verlangsamen. Denn Armins Haus ist umgeben von riesigen Steinbrocken, bizarren rostigen Metallteilen aus der Industrie, interessanten Wurzelhölzern, rostigen Schienenstücken, antiken Stelen, Findlingen und dergleichen mehr. Ein kleiner Gabelstapler steht da, ein paar Leitern sowie verschiedene Gerüste und Maschinen, die ein Bildhauer für seine Tätigkeit braucht. Nicht zuletzt jedoch finden sich hier etliche halbfertige und fertige Kunstwerke von Armin Bodenschön, der seit seiner Rückkehr nach Zartwasser vor neunzehn Jahren sein Atelier in der Garage und im Garten hinter dem Haus betreibt. Seine künstlerische Aktivität ist raumgreifend. Es ist vorgekommen, dass er eine Ausschreibung nicht für sich entscheiden konnte, weil er sich weigerte, die vorgeschriebene Größenbeschränkung der projektierten Skulptur zu akzeptieren.

    Neben all diesen unübersehbaren Indizien für Armins Tätigkeit fallen die wenigen Gartengeräte und die zwei Fahrräder, die auf dem Rasen neben der Einfahrt liegen, kaum auf. Die Nachbargrundstücke sind von hohen, blickdichten Hecken umgeben.

    Armin Bodenschön ist 46 Jahre alt, 1,91 groß, ein kräftig gebauter Mann mit ebenholzfarbenem, nackenlangem Haar. Wenn er unrasiert ist, offenbart sich der neuerdings ergrauende Bartansatz. Und wer sehr genau hinschaut, kann vereinzelt graue Haare im Bereich der Schläfen entdecken. Was dagegen deutlicher ins Auge fällt, ist das eine oder andere Speckröllchen, das sich über den Hosenbund mogelt. Seit Jahren führt Armin einen zähen Kampf gegen das Übergewicht – mit wechselndem Erfolg.

    Ebenfalls von wechselndem Erfolg gekennzeichnet ist sein künstlerischer Werdegang, wenngleich er einiges vorzuweisen hat. Etliche Bankfoyers, Hotellobbys, Marktplätze, Firmen, ein Bahnhofsvorplatz und sogar ein Friedhof haben durch seine Arbeiten an ästhetischem Reiz gewonnen.

    Armins Ehefrau ist Schulrektorin. Als Freischaffender profitiert er von der Sicherheit ihres geregelten Einkommens, wenn es bei ihm beruflich phasenweise nicht ganz so gut läuft – so wie jetzt, beispielshalber. Und in letzter Zeit überhaupt. Das ist freilich nicht Armins Schuld. Welche Gemeinde, welcher Industriebetrieb ist heutzutage noch bereit oder auch nur in der Lage, Geld für Kunst auszugeben?

    Es sind zwei scheinbar belanglose Unachtsamkeiten, die an diesem Abend im Mai einen Riss durch Armins Leben verursachen:

    Zum einen hat er sich mit seinen Freunden verabredet – in seiner Stammkneipe, der „Libelle" –, ohne zu bedenken, dass er bereits mit seiner Frau verabredet war. Doris hat den Abend lange schon geplant: Theaterkarten sind reserviert, ebenso ein Tisch in einem Speiselokal.

    Zum zweiten liegt eine Bandschleifmaschine auf dem Glas-Edelstahl-Design-Couchtisch im Wohnzimmer, als Zeugnis der Tatsache, dass sogar das Innere des Hauses ständig Gefahr läuft, von Armins Arbeitsmaterialien überschwemmt zu werden. Und dies scheint nun wirklich eine Lappalie zu sein. Eine reichlich abgewetzte Metapher drängt sich auf, um zu erklären, warum diese Lappalie solche Bedeutung für die Betroffenen bekommt: der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das soll aber nicht zur Gewohnheit werden; ich distanziere mich hiermit von der weiteren Verwendung überstrapazierter Phrasen. Doch genau das geschieht bei den Bodenschöns an diesem Abend im Mai. Die Bandschleifmaschine auf dem Couchtisch ist tatsächlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die massenhafte Verwendung sprachlicher Bilder hat schließlich ihren Grund: Sie haben sich bewährt. (In diesem speziellen Fall könnte das deplatzierte Gerät auch als Lunte bezeichnet werden, die das Pulverfass hochgehen lässt.)

    Philipp ist mittlerweile auf dem Gehweg vor Armins Grundstück angekommen. Mit heiterer Miene nähert er sich dem Eingang des Hauses und hebt die Hand, um zu klingeln. Doch sein Lächeln gefriert, und sein Zeigefinger bleibt in der Luft vor dem Taster in der Schwebe. Er neigt sein Ohr der Tür zu. Es hört sich an, als ob im Haus gestritten würde. Während Philipp lauscht, sinken seine Mundwinkel simultan mit seiner Hand nach unten. Er legt sein Gesicht in Falten, teils aus Anstrengung, mitzubekommen, was gesprochen wird, teils aus Sorge um seinen alten Freund. Denn was er hört, gefällt ihm gar nicht. Armins Frau ist offenbar ziemlich in Fahrt. Es geht um – Geld und um Verantwortung und – um Erwartungen, die er nicht erfüllt. Prioritäten. Um die Zukunft der Kinder. (Ihm fällt auf, dass Armins Stimme gar nicht zu hören ist.) Es geht darum, dass – Armin lange nichts verkauft hat. Und um einen – einen Bandschleifer? Das kann nicht sein. Er muss sich verhört haben. Das Folgende ist jedoch einigermaßen verstehbar: Unfreiwillig wird er Zeuge, wie Doris die Beziehung für beendet erklärt. Philipp bekommt erschrockene Kinderaugen. Diesmal hofft er, sich verhört zu haben. Aber das nächste, was er vernimmt, sind die unmissverständlichen Worte: „Wir sind Geschichte!"

    Im Wohnzimmer stehen Doris und Armin einander gegenüber – zwischen ihnen der Couchtisch, auf dem die beanstandete Bandschleifmaschine liegt. Der üblicherweise so eloquente Armin ist verstummt.

    Doris ist eine hochgewachsene Frau. Für gewöhnlich ist ihre Haltung elegant und aufrecht, denn sie hatte lange Zeit Ballettunterricht. Obwohl sie nicht grazil gebaut ist, scheint sie weniger zu gehen als kraftvoll zu gleiten. Mit ihrem blonden Kurzhaarschnitt, ihren hohen Wangenknochen und ihren breiten Schultern ist sie eine imposante Erscheinung. Seit vielen Jahren gelten die Bodenschöns als eines der attraktivsten Ehepaare in Zartwasser. Und während die Konkurrenz in ihrem Umfeld dank altersgruppenbedingter Bäuche, Glatzen und Schwimmringe zunehmend dezimiert wird, haben sich Doris und Armin hervorragend gehalten.

    Doch das ist im Moment bedeutungslos; Armins Frau ist im Ausnahmezustand. Ihr Gesicht ist gerötet, sie atmet schwer. Sie ist nicht bösartig, durchaus nicht, sondern frustriert, ausgebrannt und seit langem geduldig. Und in diesem Augenblick ist Doris Bodenschön vollkommen außer Kontrolle. Das kommt so gut wie nie vor. Wenn Menschen ausrasten, die das sonst niemals tun, kann es bekanntlich dramatischer werden als bei weniger Beherrschten. Und das ist vermutlich der Grund, warum sie auch noch das Folgende ausspricht:

    „Ich hab‘ es so satt, vier Kinder zu haben anstatt drei Kinder und einen Mann!"

    Diese Bemerkung verletzt Armin zutiefst. (Sie ist außerdem teilweise ungerechtfertigt.) Doris kann die Schwere der Verletzung sehen, sogar durch die roten Nebelschwaden ihres Zorns hindurch, und für einen kurzen Moment empfindet sie Mitleid mit diesem großen Jungen, mit dem sie seit neunzehn Jahren verheiratet ist und der jetzt wie erstarrt vor ihr steht. Das ist kein Ehestreit, sondern eine Vernichtung. Ein Ego wird geschreddert. Doris kämpft mit sich selbst. Trotz ihres Mitgefühls tut es ihr maßlos gut, all das nach so vielen Jahren endlich einmal ausgesprochen zu haben. Und trotz des tiefgreifenden Schreckens, den sie selbst empfindet über das Gesagte, spürt sie, wie befreiend es sich anfühlt, einen Schluss-Strich gezogen zu haben. So viele Jahre, in denen sie geduldig und tolerant gewesen ist, oh ja, das ist sie gewesen! Und so beschließt Doris Bodenschön, Gewissensbisse und Rücksichten außer Acht zu lassen und es stattdessen mit dem Triumph zu halten. Sie verlässt den Raum und rennt die Treppe hinauf in den ersten Stock. Armin folgt ihr. Auf dem Weg nach oben werden sie beide überholt von Minnie, der Hündin der Familie, die höchst besorgt ist wegen des ungewöhnlichen Verhaltens ihrer Menschen. Wie eine Furie rast Doris ins Schlafzimmer und öffnet das Fenster so heftig, dass der Flügel gegen den Rahmen prallt und zurückgefedert wird.

    Philipp, der immer noch unten vorm Eingang lauscht, flüchtet um die Ecke des Hauses und bleibt dort stehen, im Bestreben, vom Schlafzimmerfenster aus nicht gesehen zu werden.

    Doris reißt den Schrank auf, zerrt einen Stapel von Armins Hosen heraus und wirft sie aus dem Fenster. Währenddessen schreit sie:

    „Was ich hier alles aushalten muss! Ich kann keinen Schritt machen in diesem Haus oder im Garten oder wo auch immer, ohne über irgendeine halbfertige Skulptur oder über dein beschissenes Spielzeug zu stolpern." Sie stutzt. „Werkzeug! Ich wollte sagen ‚Werkzeug‘, verflucht noch mal!"

    Als nächstes kommt ein Stapel T-Shirts dran. Unentwegt geht sie zwischen dem Schrank und dem Fenster hin und her und fährt fort, Armins Bekleidung in den Vorgarten zu schleudern. Die Szene wird zunehmend grotesk.

    „Und der Steinstaub, er ist überall!" tobt sie weiter. „Sogar zwischen meinen Zähnen! Wach endlich auf! Ich hab genug! Das ist vorbei, hast du gehört? Das hier ist vorbei! Aus und vorbei."

    Urplötzlich kaltblütig scheinend, dreht sie sich zu ihm um.

    „Du wirst das Haus verlassen, jetzt sofort. Und bis zum Ende des nächsten Monats hast du dein Zeug hier weggeschafft. Andernfalls kümmere ich mich darum. Und du kannst dir denken, was das heißt."

    Draußen schaut Philipp nicht minder hilflos drein als der geschasste Ehemann. Mit zitternden Fingern holt er sein Smartphone hervor und tippt: Wird nix heute Abend. Armin auch nicht. Andermal. Sich aus der Deckung wagend, bückt er sich und hebt ein Hemd auf, das zufällig in seiner Nähe gelandet ist. Er hört die Haustür aufgehen und beobachtet, wie Armin herauskommt, langsam die Tür hinter sich zuziehend. Und wie er dann unbeweglich und untröstlich auf der Schwelle verharrt und all das betrachtet, was vor ihm liegt: Die Kleidung und Unterwäsche, die überall im Vorgarten verstreut ist, hat das Chaos noch unvergleichlich vergrößert.

    „Ich helf‘ dir beim Aufsammeln."

    Armin fährt herum und bemerkt erst jetzt, dass Philipp nur wenige Meter von ihm entfernt ist. Er will ihm antworten, doch erst nachdem er den Kloß im Hals weggeräuspert hat, murmelt er:

    „Okay."

    Die beiden Männer fangen an, die Sachen einzusammeln. Sie packen sie in Armins altgedienten Nissan-Pickup Truck, der auf der Einfahrt parkt. Dass sie dabei beobachtet werden, bemerken sie nicht. Armins Kinder – alle drei im Teeniealter und ausschließlich in ihrem eigenen emotionalen Labyrinth unterwegs – haben in ihrem unausgereiften Innenleben keinen Platz für die Vorstellung, dass auch Eltern komplizierte Emotionen haben, mit denen sie bisweilen überfordert sind. Dass sie gar eine Art ausgewachsene Pubertierende sein könnten. Auf diffuse Weise sind die drei dennoch erschüttert. Wie ihr Vater scheinen auch sie in eine Art Starre gefallen zu sein. So stehen sie unbeweglich, ein jedes gerahmt von einem separaten Fenster. Ein siebzehnjähriger Junge, ein sechzehnjähriges Mädchen, ein vierzehnjähriger Junge. Ohne erkennbare Regung sehen sie zu, wie ihr Vater und sein alter Kumpel im Vorgarten Kleidungsstücke aufsammeln. Wie sie sich emotional zu der Katastrophe stellen werden, haben sie noch nicht entschieden.

    Einige Minuten später findet in dem schreckensstarren Haus immerhin eine Gefühlsäußerung statt: Die Hündin Minnie fiept leise, als das Motorengeräusch von Armins Pickup sich entfernt.

    Und eine halbe Stunde danach sitzt Doris weinend im Schlafzimmer. Doch das hört niemand.

    Neubeginn

    Nach seinem Rausschmiss ist Armin mit Philipp direkt zum Yachthafen gefahren. Das klingt nobler als es tatsächlich ist. Es gab in früheren Zeiten in Zartwasser eine Art Edel-Tourismus. Daher ist die Stadt bis heute geprägt von einem verfeinerten Urlaubs-Lebensgefühl, von einigen imposanten Bauten, besagtem Yachthafen und einer kurzen Uferpromenade, die im Nichts endet.

    Im Hafen liegt Armins Motoryacht. Da er sie von einem Mozart verehrenden Großonkel geerbt hat, trägt sie den Namen „Pamina". Sie bietet keinen übermäßigen Komfort, ist jedoch recht geräumig. Die Pamina ist achtunddreißig Jahre alt; Armin kennt sie seit seiner Kindheit. Er liebt dieses Boot und hat stets darauf bestanden, es zu behalten, trotz Doris‘ ausdauernder Privatfehde gegen diesen unnötigen Luxus (bzw. Ballast – alles nur eine Frage der Sichtweise), und trotz der Instandhaltungskosten, der Gebühren für den Liegeplatz und der Miete für den Stellplatz des Bootsanhängers.

    Armin hat beschlossen, auf der Yacht zu übernachten und gegebenenfalls einige Zeit hier zu wohnen, bis sich zu Hause die Wogen geglättet haben. Gemeinsam mit Philipp hat er die Kleidungsstücke an Bord verstaut.

    Nun sitzt er auf dem Achterdeck am Boden, mit leerem Blick, angelehnt an die Kajütenwand.

    Philipp kommt aus der Kajüte herauf. Mit besorgter Miene bleibt er bei Armin stehen.

    „Möchtest du vielleicht was essen gehen?"

    Armin verneint stumm, indem er seinen Hinterkopf an der Wand hin- und her rollt.

    Sich am Oberarm kratzend, versucht Philipp, mit der unerwarteten Situation zurechtzukommen. Auf die Rolle des loyalen Freundes in der Not war er nicht vorbereitet, ist jedoch gewillt, sie einzunehmen.

    „Was hältst du davon, wenn wir bei mir zu Hause was essen?"

    Abermals schüttelt Armin den Kopf unter Einbeziehung der Kajütenwand, ergänzt durch ein desolates:

    „Nein. Danke."

    Als er neben ihm in die Hocke geht, knackt Philipps rechtes Knie.

    „Du hast absolut nichts zu essen an Bord, Mann. Nicht mal Cracker oder abgelaufene Oliven. Ich hab gerade nachgesehen."

    „Hab keinen Hunger."

    Mit einem hilflosen Seufzen erhebt sich Philipp. Sein Blick gleitet über die still daliegenden Boote sowie über ein Dutzend dösende Möwen. Im Wachzustand erfreuen sich diese Vögel stets besten Appetits. Möwe müsste man sein. Da wären die Probleme überschaubar. Er fokussiert sich wieder auf seinen schwer angeschlagenen Freund.

    „Was ist, wenn du später Hunger bekommst?"

    „Es wird mir nicht schaden, eine Mahlzeit auszulassen."

    Armin ist nicht daran gewöhnt, der Gegenstand von Mitleid zu sein. Er fühlt sich extrem unwohl in dieser Rolle. Aus Unbehagen nimmt er seine Zuflucht zu einer Banalität.

    „Ich muss schließlich meinem Ruf als Poster-Boy des Jojo-Effekts gerecht werden."

    Obwohl Philipp sein Unbehagen spürt, geht er nicht auf das Ausweichmanöver ein.

    „Ist das ein guter Moment für Sarkasmus?"

    Trostlos lächelt Armin zu ihm hoch.

    „Ich weiß deine Hilfe echt zu schätzen. Aber am liebsten würde ich jetzt… hör mal, wie wär‘s, wenn ich dich nach Hause fahre und wir sehen uns morgen?"

    Um die Situation zu entspannen, kehrt Philipp zu seiner üblichen, gelasseneren Haltung zurück und signalisiert Einverständnis.

    „Du willst allein sein. Versteh ich total. Also dann, lass uns gehen."

    Nachdem er die Nacht an Bord verbracht hat, verlässt Armin die Kajüte. Er ist bereits angezogen, obwohl es sehr früh am Morgen ist. Noch während die Sonne sich über den östlichen Horizont hievte, ist er aufgestanden. Er schließt ab und will sich auf den Weg in die Stadt machen, um dort zu frühstücken. Am See ist es noch ruhig. Die Boote werfen endlos lange Schatten. Selbst die Möwen sehen so aus, als hätten sie schlecht geschlafen.

    Er bleibt zunächst auf Deck stehen und blinzelt über den See. Der Morgen verspricht einen ebenso wunderschönen, sonnigen Tag wie den gestrigen. Ein Mensch, der stärker von seinem Ego gesteuert wäre als Armin, könnte das freundliche Wetter als Hohn der Natur auffassen. Als ob die zauberhafte Atmosphäre dazu bestellt sei, dem Jammervollen sein Elend unter die Nase zu reiben. Doch ihm ist es nahezu unmöglich, bei so herrlichem Wetter ernsthaft Trübsal zu blasen. Zudem ist er davon überzeugt, dass das einzige, was ihm in seiner Lage helfen kann, der Blick nach vorne ist.

    In der Nacht hat er nachgedacht und ist fest entschlossen, sich so bald wie möglich einen Job zu suchen, in dem er es halbwegs aushalten kann. Er ist zuversichtlich, dass sich zu Hause alles wieder einrenken wird, sobald er erst ein regelmäßiges Einkommen hat. Abgesehen davon braucht er in jedem Fall Geld, selbst wenn der worst case eintreten sollte: Wenn die Trennung von Dauer wäre, müsste er neben den eigenen Lebenshaltungskosten auch noch Unterhaltszahlungen für die Kinder aufbringen.

    Armin ist gerade von Bord gegangen und will sich zu seinem Pickup begeben, als er plötzlich Minnie, die Hündin der Bodenschöns, am Kai bemerkt. Verdutzt bleibt er stehen.

    „Minnie! Was machst du denn hier?"

    In der Hoffnung, eines seiner Kinder oder gar seine Frau sei auf der Suche nach ihm hergekommen, sieht er sich um. Aber es ist niemand zu sehen. Er geht vor Minnie in die Hocke.

    „Bist du ganz allein hierhergelaufen? Das kannst du doch nicht machen, das ist gefährlich!"

    Voller Wehmut streichelt er ihr wuscheliges Fell, während sie mit dem Schwanz wedelt. Ein weiterer Rundblick beweist ihm, dass tatsächlich niemand aus seiner Familie in der Nähe ist. Er richtet sich auf.

    „Komm, Süße. Ich bring dich nach Hause."

    Nachdem er die Ausreißerin daheim abgeliefert hat, fährt Armin in die Innenstadt. Für sein Frühstück wählt er ein Café, in dem die Tageszeitungen ausliegen. Er holt sich das Regionalblatt und überfliegt die Stellenausschreibungen. Halbherzig streicht er die eine oder andere Anzeige an, aber das wäre höchstens etwas für den Notfall. Während er noch darüber nachdenkt, ob dieser Notfall bereits eingetreten ist oder nicht, entdeckt er ein Inserat, das sein ungeteiltes Interesse weckt! Ein ansässiger Steinmetzbetrieb sucht jemanden, der die Anfertigung von Grabmalen übernehmen kann. Und wenn es eines gibt, was Armin Bodenschön, der gelernte Steinmetz und studierte Bildhauer, beherrscht – dann ist es das: Steine bearbeiten. Er zückt sein Smartphone und fotografiert das Inserat. Triumphierend blickt er um sich, doch die wenigen Gäste im Café stellen verschlafene, missmutige Gesichter zur Schau. Armin schiebt die Zeitung weg und greift nach der Speisekarte. Dann besinnt er sich, blättert die Zeitung wieder auf und reißt sorgsam die Seite mit der Anzeige heraus, faltet sie und lässt sie unauffällig in seiner Hosentasche verschwinden. Sicher ist sicher. Jetzt erst widmet er sich dem Studium der Speisekarte.

    Am Ende der Neptunstraße, auf der rechten Seite, steht ein einstöckiges, schlicht hellgraues Gebäude aus Beton mit einem weitläufigen Vorplatz. Es hat die Hausnummer 95. Eine Aufschrift prangt in großen, gravitätisch wirkenden Buchstaben an der Fassade.

    HANNES MANDER

    GRABMALE

    Auf dem Rasen neben dem Parkplatz sind einige Exemplare ausgestellt, die einen Eindruck sowohl von der Kunstfertigkeit des Steinmetzes als auch von der Vielfalt der Gesteinsarten vermitteln sollen. Darüber hinaus zeugen diese Mustersteine von unterschiedlichen Herstellungstechniken. In vorderster Reihe beeindrucken sie durch zeitintensive Handbearbeitung mit Methoden, wie sie schon vor tausend Jahren angewendet wurden. Dahinter folgen mit Hilfe vorgefertigter Schablonen teilmaschinell gestaltete Exemplare. Schamhaft in der letzten Reihe versteckt sich die preisgünstigste Variante: industriell vorgefertigte Steine mit aufgeklebten Buchstaben.

    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich ein zweistöckiges Gebäude mit der Nummer 94, dessen Straßenfront in dunklem Braun gehalten ist, vergleichbar mit Bitterschokolade. Die unteren Hälften der Fensterscheiben im Erdgeschoss sind dezent weiß-gefrostet und tragen je eine stilisierte, floral anmutende Verzierung. Ein Messingschild vor dem Haus verkündet:

    Bestattungen

    Friederike Einklam

    Um diese Tageszeit ist hier draußen kein Mensch zu sehen.

    Die Neptunstraße mündet rechtwinklig in die Friedhofstraße, welche ihren Namen – wenig überraschend – einem weitläufigen Friedhof verdankt. Aus reinem Pragmatismus gibt es hier außerdem zwei Blumengeschäfte sowie zwei Gastronomiebetriebe für Trauerfeiern. Touristen verlaufen sich nie hierher.

    Auch Armin war noch nicht oft in diesem Teil der Stadt, lediglich bei Beerdigungen. Seine Steinmetzausbildung absolvierte er als junger Mann woanders, ganz zu schweigen von seinem Kunststudium. Erst vor neunzehn Jahren kehrte er nach Zartwasser zurück, als er und Doris eine Familie zu gründen beabsichtigten. Schon lange zog es ihn zurück an den See. Die Wahl des Wohnorts fiel mit zwei Umständen zusammen: Sein Großonkel hatte ihm die Yacht sowie einen Bauplatz vererbt. Und seine Frau fand in Zartwasser eine Stelle als Lehrerin.

    Er parkt auf dem Platz vor dem Steinmetzbetrieb, steigt aus und betrachtet die Front des Gebäudes. Mit billigendem Expertenblick streift er im Vorübergehen die Mustergrabsteine. Die Frau, die aus dem Eingang des Bestattungsinstituts mit der Hausnummer 94 tritt, bemerkt er nicht. Sie dagegen bleibt stehen und beobachtet ihn, im grellen Sonnenlicht blinzelnd. Die Frau ist Anfang vierzig, hat lange, blonde Mädchenhaare und eine zarte Figur. Einer ihrer oberen Schneidezähne hat eine minimale Fehlstellung – eine charmante Unvollkommenheit, die sie noch jugendlicher wirken lässt. Einige Sommersprossen umzingeln ihre Nase. Sie trägt einen dezenten schwarzen Hosenanzug, erweckt aber den Eindruck, als bevorzuge sie in ihrer Freizeit nicht unbedingt dunkle Hosenanzüge – sondern eher abgeschnittene Jeans und Flipflops.

    Ihr Blick folgt Armin, wie er an der Bank neben dem Eingang vorbeigeht, ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt aus seiner Gesäßtasche zieht und es entfaltet, wobei er ein wenig mit dem Wind zu kämpfen hat, der kräftig von Westen, also aus der Richtung des Friedhofs weht. Offenbar gefällt ihr, was sie sieht.

    Erst als er in dem betongrauen Gebäude verschwunden ist, macht sie Anstalten, in ihr Büro zurückzukehren, muss jedoch feststellen, dass die Tür sich selbsttätig hinter ihr geschlossen hat. Sie versucht sie zu öffnen, doch vergeblich. Sie rüttelt daran. Sie rüttelt heftiger. Dann klopft sie ihre Taschen nach einem Schlüssel ab – bedauerlicherweise ebenfalls vergeblich.

    Der Steinmetz Hannes Mander ist Anfang dreißig. Er ist einer der wenigen Menschen, die noch größer sind als Armin. Ein sanfter, schwergewichtiger Zwei-Meter-fünf-Riese, der überaus begeistert ist von dem Fang, den er da gemacht hat. Denn ihm selbst wurde die Beteiligung an einer prestigeträchtigen Kirchenrenovierung angetragen. Genauer gesagt, er hat einen Tipp erhalten und hofft nun darauf, einen Fuß in die Kirchentür zu bekommen. Hierfür bleibt ihm von nun an ausreichend Zeit, während Armin in der Werkstatt weitgehend selbständig das Tagesgeschäft übernehmen soll.

    Dieser ist maßlos erleichtert. Besser hätte es nicht laufen können für ihn. (Außer wenn alles unverändert geblieben wäre, versteht sich.) In euphorischer Stimmung verlässt er Hannes Manders Betrieb, schwingt sich in seinen Pickup und fährt weg.

    Er bemerkt nicht einmal, dass an der seitlichen Wand des Bestattungsunternehmens eine Frau im schwarzen Hosenanzug versucht, durch ein ziemlich schmales Erdgeschossfenster einzusteigen. Ihre Beine zappeln in der Luft, während ihre verborgene obere Hälfte zweifellos im Innern nach einem Halt sucht.

    Unheimlich

    Der darauffolgende Morgen gleicht dem letzten aufs Haar – außer dass Armins emotionale Lage schon deutlich aufgehellt und gefestigt ist. Seiner Einschätzung nach erhöht die Aussicht auf ein regelmäßiges Einkommen die Chancen, bald zu seiner Familie zurückzukehren, ganz erheblich. Das Wetter lässt nichts zu wünschen übrig, und so grinst der notorische Frühaufsteher gutgelaunt zu den Möwen hinüber, während er an Land geht. Auch heute begegnet er Minnie, der Hündin, die ihn bereits auf dem Kai erwartet, wo sie sich neben Armins Pickup-Truck in der Morgensonne niedergelassen hat. Sie streckt sich und wedelt freudig mit dem Schwanz, als er sich ihr nähert. Offensichtlich ist sie wieder allein hergekommen. Und so sieht er sich erneut genötigt, sie nach Hause zurückzubringen, wo er seine Frau und seinen jüngsten Sohn Emmett vor dem Haus antrifft.

    „Guten Morgen! Ich bringe unsere Ausreißerin zurück."

    Er legt seinen Arm um Emmetts Schultern.

    Doris ruft den Hund zu sich und kniet nieder.

    „Komm, Emmett, lass uns ihr Fell nach Zecken checken."

    Folgsam geht ihr Sohn zu ihr, aber sie durchkämmt bereits das Fell des Tieres mit den Fingern. Somit steht der Junge nur unbeholfen und tatenlos da.

    Armin fängt an, ein Step-Tänzchen zu improvisieren, und intoniert rhythmisch:

    „Lass uns Zecken checken, lass uns Recken wecken, lass uns Flecken schlecken, lass uns…"

    Emmett beginnt zu lächeln. Im Gegensatz zu ihm reagiert seine Mutter gereizt.

    „Verflucht noch mal, Armin! Was ist bloß los mit dir!"

    Der Hauch von Fröhlichkeit in Emmetts Gesicht erlischt.

    Armin nimmt seine Zuflucht zu einem alten Trick: Er macht Bambi-Augen.

    „Sorry…"

    Bei Doris erreicht er damit nichts mehr. Sie bleibt ebenso kaltherzig wie streng.

    „Ich nehme an, du hast Minnie wieder die ganze Nacht im Freien gelassen."

    Und er tappt in die Falle.

    „Na dann verklag mich doch! Ich hab ja nicht mal gewusst, dass sie da war! Kannst du nicht besser auf sie aufpassen? Ich meine, das ist schon das zweite Mal in zwei Tagen, dass sie euch wegläuft!"

    Er holt tief Luft. Ihm kommt zu Bewusstsein, dass er sich vorgenommen hat, nie mehr in diese eingeschliffenen Fahrrinnen des Streits zu geraten. Traurig betrachtet er seine Frau, während sie das weiche Fell des Hundes durchsucht. Vor fünfzehn Jahren, da hätte seine Step-Tanz-Improvisation, sein Herumalbern sie noch umgestimmt, sie hätte geschmunzelt und vergeben – was immer es auch gewesen sein mochte, das zu vergeben war. Doch diese Zeiten sind vorüber, ohne dass Armin wirklich verstanden hätte, weshalb.

    Im Lauf der Jahre hat sich in seiner Frau eine Mischung aus Frustration, Erschöpfung und den Folgen der Selbstausbeutung verfestigt. Aufgrund ihrer Neigung zu übertriebener Verantwortlichkeit sind ihr zusehends Leichtigkeit und Schwung abhandengekommen. Niemand kann ihr aus dieser eingefahrenen Spur heraushelfen – allenfalls sie selbst. Es ist ihr zu wünschen. Aber Armin kann es nicht mehr.

    Abrupt richtet sich Doris auf und deutet auf die offenstehende Eingangstür.

    „Minnie, geh ins Haus."

    Die Hündin blickt zu Armin hoch, bevor sie sich entscheidet, zu gehorchen. Unaufgefordert schlurft Emmett ihr nach, ohne sich nach seinem Vater umzusehen.

    Im Hineingehen sagt Doris immerhin:

    „Einen schönen Tag noch."

    „Wenigstens kann mein Tag jetzt nicht mehr schlimmer werden, brummt ihr Mann, „das ist doch was.

    Eine dreiviertel Stunde später ist er am Arbeitsplatz. Er hat die Fertigstellung einer begonnenen Kolumbariumsplatte von seinem neuen Arbeitgeber übernommen. In die Oberfläche ist eine Portrait-Fotografie des Verstorbenen integriert. Der Namenszug in serifenlastigen Lettern lautet ‚Bernhard Kring‘. Umgeben ist die Inschrift von Ornamenten. Die Platte ist nach Armins Geschmack überladen und kitschig, doch ihm ist klar, dass er von nun an Aufträge ausführen wird, bei denen seine eigene Kreativität nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Stil und Geschmack sind ein Luxus des Künstlers. Der Handwerker dagegen kann bestenfalls versuchen, die Wünsche der Kunden in diesem Sinne zu beeinflussen. Armin kennt beide Welten. Und glücklicherweise hat er das Talent, immer das Beste aus den Gegebenheiten zu machen.

    Wie sehr Hannes Mander ihm vertraut, ist daran zu ermessen, dass er ihm bereits am ersten Morgen die Werkstatt überlässt. Kaum hatte er ihn eingewiesen, da war er auch schon verschwunden, aufgrund irgendeines längst fälligen Ämterganges, für den er bislang keine Zeit gefunden hatte.

    Armin ist damit beschäftigt, Feinkorrekturen mit Fäustel und Eisen (der Steinmetz-Ausdruck für Hammer und Meißel) an einem Rosenmotiv anzubringen. Mit Ausnahme der Fäustelschläge ist es im Raum völlig still, weswegen er lediglich eine Schutzbrille trägt. Atemmaske und Gehörschutz werden nicht benötigt; sie liegen auf einem Tisch. Hin und wieder nimmt Armin einen Schluck Wasser.

    Es versteht sich von selbst, dass das hier nicht sein berufliches Ideal ist, doch wenn er mit den Händen etwas gestalten und Materialien verändern kann, hat er Spaß. Mehr als nur Spaß: Diese Tätigkeit erfüllt ihn mit Freude. Es ist ihm anzusehen, dass er mit ganzer Seele bei der Sache ist. Auch die jahrzehntelange Erfahrung in der Steinbearbeitung ist augenfällig, ebenso wie das ästhetische Gespür und die sichere Hand. Der Bildhauer ist vertieft in sein Tun und vollkommen bei sich.

    Währenddessen gehen hinter seinem Rücken sonderbare Dinge vor sich. An einer Stelle verändert sich die Luft, so als verdichte sie sich und nehme einen unbekannten Aggregatzustand an. Zunächst entsteht eine Art dreidimensionale, transparente Projektion. Allerdings fehlt ein Projektor. Dieses Schauspiel findet lautlos statt, sodass Armin davon nichts bemerkt. Das vage Bild eines Menschen formt sich – er entpuppt sich als ein etwa siebzigjähriger Mann. Seine Durchsichtigkeit verliert sich nach und nach, bis er schließlich tadellos materiell wirkt. Er hält sich sehr nah hinter Armin auf und folgt jedem seiner Handgriffe höchst aufmerksam. Der Herr wirkt etwa so wie ein Tourist, der einem Künstler wohlwollend und interessiert bei der Arbeit zuschaut – am „Tag des gläsernen Ateliers" zum Beispiel. Nur würde ein Tourist nicht so unangenehm distanzlos-nahe bei einem Künstler stehen, gläsernes Atelier hin oder her.

    Dieser Künstler nimmt noch immer nichts von seiner Umgebung wahr und meißelt eine Weile weiter, bevor er den Beobachter endlich doch bemerkt. Nun allerdings erschrickt er gewaltig! Armin taumelt gegen einen Metallhocker mit drehbarem Holzsitz, der, oft als Stehhilfe dienend, sich in unmittelbarer Nähe befindet, wodurch dieser mit einem lauten Knall umkippt. Gleichzeitig fallen ihm die Gerätschaften aus der Hand und stürzen lärmend auf den Betonboden. Heftig atmend steht er mit dem Rücken zur Wand.

    Seltsamerweise ist auch der ältere Herr erschrocken zurückgewichen. So stehen sie sich gegenüber, bis der Fremde mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und aufkeimender Hoffnung fragt:

    „Können Sie mich sehen?"

    „Was soll das heißen, ob ich Sie sehen kann? keucht Armin, während er sich die Schutzbrille herunterreißt, „natürlich kann ich Sie sehen! Haben Sie gedacht, ich wäre blind? Wie sind Sie denn hier reingekommen? fragt er mit Blick auf die schweren Metalltüren, welche geräuschlos zu öffnen oder gar zu schließen vollkommen unmöglich ist.

    Enthusiastisch ruft der andere aus:

    „Sie können mich sogar hören!"

    In dem hoffnungslosen Versuch, von irgendwoher Beistand zu bekommen, sieht Armin sich um. Das ist sozusagen nur eine Formalität seines Unterbewusstseins, denn er weiß sehr wohl, dass niemand sonst anwesend ist. Tief Atem holend bemüht er sich, seine Selbstkontrolle zurückzugewinnen.

    „Ja, ich höre Sie sehr gut. Jetzt fasst er sein Gegenüber genauer ins Auge. „Und es kommt mir so vor, als hätte ich Sie schon mal gesehen. Kennen wir uns irgendwoher?

    Der Herr schüttelt bedauernd den Kopf.

    „Nein, ich glaube nicht. Nicht, dass ich wüsste."

    Armin hat eine Eingebung, sodass er von selbst darauf kommt, woher er dieses Gesicht kennt. Von dem auf Porzellan gedruckten Foto nämlich, das in die Travertinplatte für das Urnenfach integriert ist. Er wirft einen Blick auf das Bild und wird sehr, sehr bleich. Schaut zu dem Herrn hinüber. Betrachtet nochmals das Bild. Tonlos murmelt er:

    „Also kann der Tag doch noch schlimmer werden."

    Das Gespenst legt eine Hand ans Ohr.

    „Wie bitte? Was sagten Sie?"

    „Nichts", krächzt Armin.

    Unauffällig fasst er die stählerne Konstruktion an, auf welcher die Grabplatte aufgebockt ist – teils um sich zu stabilisieren, teils um festzustellen, ob er etwas spürt. Er drückt kräftig zu, so lange, bis es schmerzt. Kein Zweifel: Er ist wach.

    Mit dem kleinen Finger reibt sich der unheimliche Besucher den Nasenrücken.

    „Sehen Sie, es ist traurig, wenn einen niemand wahrnehmen kann, beschwert er sich. „Und es ist lästig, sofern man was zu sagen hat. Alles in allem ist dieser Zustand ganz schön frustrierend.

    „Sie werden sich bestimmt daran gewöhnen", hofft Armin.

    „Eine vernünftige Tasse Kaffee würde mir auch helfen, klagt der Herr sehnsüchtig. „Sagen Sie, würden Sie mir einen Gefallen tun?

    „Das kommt drauf an. Geht’s dabei um Kaffee?"

    „Nein."

    Nach dem ersten Schock beginnen Armins Gehirnwindungen wieder zu arbeiten. Er strafft sich ein wenig.

    „Kann ich ablehnen?"

    „Ich fürchte nein", bedauert der Fremde.

    „Na ja. Es war den Versuch wert."

    „Sehen Sie, ich habe ein Problem."

    „Das ist offensichtlich", bemerkt der unfreiwillige Geisterseher lakonisch.

    „Außer der Tatsache, dass ich tot bin, wollte ich damit sagen."

    „Ah ja. Hören Sie, Herr… – Armin wirft einen Blick auf die Kolumbariumsplatte – „Herr Kring. Die Sache ist die: Ich kümmere mich grundsätzlich nicht um anderer Leute Probleme. Das hab‘ ich noch nie gemacht. Das ist einfach nicht mein – mein Stil. Ich mag nicht in die Affären anderer Leute reingezogen werden. Nicht mal dann, wenn sie noch am Leben sind.

    Mit bedauerndem Blick beharrt Herr Kring:

    „Es tut mir sehr leid, aber ich muss darauf bestehen. Sehen Sie, ich bin ganz unerwartet gestorben. Sie müssen was Dringendes für mich erledigen." Bevor die Spukgestalt weitersprechen kann, besinnt sich der Bildhauer und fasst sich an die Stirn.

    „Das ist lächerlich. Absurd. Ich rede mit einer Erscheinung."

    Er bückt sich und stellt den Arbeitshocker wieder senkrecht. Danach hebt er die heruntergefallenen Werkzeuge auf und fährt halb bewusst mit dem Finger über die Spitze des Meißels, um zu überprüfen, ob sie bei dem Sturz Schaden genommen hat.

    Herr Kring sieht ihn eindringlich an.

    „Sie müssen mir helfen. Bitte! Sehen Sie, es ist eigentlich nur eine Kleinigkeit."

    (Dies ist eine dreiste Verharmlosung, doch das weiß Armin noch nicht.)

    „Und wenn ich mich weigere? lauert er. „Was werden Sie dann tun?

    Das Gespenst überlegt, mit dem Zeigefinger sein Kinn beklopfend.

    „Ja ich weiß nicht; sich an dieses – dieses Totsein zu gewöhnen, braucht seine Zeit… Vielleicht könnte ich irgendwie bei Ihnen spuken oder so? Das finde ich noch raus. Tut mir leid, ich war auf dieses Gespräch nicht vorbereitet. Armin öffnet den Mund (vermutlich um zu sagen „ich auch nicht), entscheidet sich jedoch dagegen, presst die Lippen aufeinander und schweigt.

    Indessen zeigt sich Herr Kring weiterhin beharrlich:

    „Wegen meines Problems…" Eine Idee durchzuckt Armin. Diese Situation muss beendet werden. Irgendetwas muss geschehen.

    „Warten Sie, sagt er, obwohl er sich das Gegenteil wünscht, „ich bin gleich wieder da.

    Fluchtartig verlässt er die Werkstatt und hastet nach draußen ins Freie.

    Die Sonne strahlt gleißend über dem mit Blütenstaub überzuckerten Vorplatz. Neben der Sitzbank steht ein Granit-Aschenbecher auf dem Boden. Er ist voller Kippen. Armin bleibt bei der Bank stehen und versucht seine Fassung zurückzugewinnen. Hier draußen ist alles beruhigend real. Er legt seine Hand auf die Lehne der Bank. Da zieht etwas Neues seine Aufmerksamkeit auf sich: Eine hübsche blonde Frau in dunklem Hosenanzug und weißer Bluse kommt die Einfahrt herauf und geht direkt auf ihn zu. Sie lächelt ihn an. Offenbar weiß sie, wie gut ihr dieses Lächeln steht. Doch sie ruiniert den ersten Eindruck, indem sie über eine Unebenheit stolpert. Es folgen mehrere ungraziöse Schritte und wildes Fuchteln mit den Armen, wobei die Papiere, die sie in der Hand hält, ein flatterndes Geräusch erzeugen. Die Frau erweist sich als sportlich und schafft es, nicht zu stürzen. Sie fängt sich und setzt ihren Weg fort. Trotz seiner Erschütterung erwägt Armin, sie zu fragen, ob sie okay ist. Aber sie kommt ihm zuvor.

    „Hi. Ich bin Corinne. Darf ich ‚du‘ sagen?"

    Armin nickt.

    „Ich arbeite gegenüber im Bestattungshaus, fährt sie fort, „und auf Stundenbasis für Hannes.

    „Hannes?"

    „Dein neuer Boss."

    „Ah, ja, klar, besinnt sich Armin, „der Steinmetz. Hannes. Ich heiße Armin.

    „Weiß ich. Sie sieht sich um. „Ist das nicht ein herrlicher Tag? Hier, bevor ich’s vergesse: Hannes hat mich gebeten, dir das auszudrucken. Er kommt heute nicht mehr ins Haus, soll ich dir ausrichten.

    Sie reicht ihm die Blätter, aber Armin hat eine Idee. Anstatt sie ihr abzunehmen, sagt er:

    „Ach – wärst du so nett und würdest mir die Papiere auf den Tisch in der Werkstatt legen? Ich wollte gerade, ich muss – kurz weg."

    „In die Werkstatt? Nicht ins Büro?"

    „Lieber in die Werkstatt, kontert er geistesgegenwärtig, „damit ich es nicht vergesse.

    „Gerne", singt sie charmant.

    Als Corinne wenige Sekunden später wieder aus dem Gebäude kommt, scheint sie die Seelenruhe selbst. Allerdings ist sie überrascht, Armin noch anzutreffen. Verwundert fragt sie:

    „Sind Sie – ich meine, bist du schon zurück?"

    „Was? Nein. Nein nein, ich hab jemanden gesucht. Ein Freund von mir, er war eben noch hier. Ungefähr siebzig Jahre alt, etwa so groß wie du, schlank, grauer Anzug, weißes Hemd, ein höflicher Mensch – … hast du…"

    „Ja, unterbricht sie, „ich hab die Papiere in der Werkstatt auf den Tisch gelegt. Und falls du noch was brauchst, weißt du ja jetzt, wo du mich findest. Geradeaus über die Straße, drinnen die erste Tür links.

    Sie setzt sich in Bewegung.

    „Warte!" Ein Aufschrei.

    Corinne wendet sich um und hebt eine Augenbraue an, wodurch Armin ein wenig durcheinandergerät.

    „Ich wollte sagen: Moment noch bitte. Dieser, dieser Freund, den ich suche, hast du den nicht zufällig in der Werkstatt getroffen?"

    „Nein, da war niemand. Aber du warst doch vor einer Minute selbst noch drin."

    „Ja…?"

    „Also weißt du, dass er nicht dort ist."

    „Natürlich. Danke."

    Er sieht ihr nach, wie sie, diesmal ohne zu stolpern, die Einfahrt hinuntergeht – wobei sein Blick ihr nur mechanisch folgt, weil sie das einzige ist, was sich in seinem Gesichtsfeld bewegt. Seine Gedanken drehen sich dabei keineswegs um Corinne, die mittlerweile die Straße überquert und im Bestattungshaus verschwindet, sondern um die seltsame Erscheinung in der Werkstatt. Armin ist verstört. Er fühlt sich so hilf- und ratlos wie noch nie zuvor, ohne die geringste Ahnung, was mit ihm vor sich geht oder wie er damit umgehen soll. Nur eins ist ihm klar: Er kann nicht ewig hier draußen stehen bleiben. Die Arbeit macht sich nicht von selbst. Bedrückt schleppt er sich zurück ins Gebäude.

    In der Werkstatt erwartet ihn Herr Kring mit kritischem Blick.

    „Scheußliche Angewohnheit, das Rauchen."

    Armin scheitert an dem Versuch, diese Bemerkung zu deuten.

    „Warum sagen Sie das? Sind Sie an Lungenkrebs gestorben?"

    „Nein. Schlaganfall. Ich habe Sie gemeint."

    „Mich? wundert sich Armin. „Wieso mich?

    „Sind Sie nicht rausgegangen, um eine Zigarette zu rauchen?"

    Nach dem Spektrum von situationsangemessenen Emotionen, die Armin an diesem Morgen bereits durchlaufen hat, bleibt ihm nur noch eine übrig: Er wird wütend.

    „Nein. Ich bin rausgegangen, weil ich gehofft habe, ich würde Sie nicht mehr sehen, nachdem ich ein bisschen frische, saubere, gesunde Luft geatmet hätte!"

    „Man kann ja immer hoffen, kommentiert die Spukgestalt. „Wie war doch gleich Ihr Name?

    „Den habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt."

    „Richtig. Und wie ist Ihr Name?"

    Er nennt seinen Namen und ärgert sich dabei über sich selbst, da er jetzt auch noch höflich ist, obgleich nur reflexartig. Ihm ist nämlich nicht im Mindesten nach Höflichkeit zumute.

    Zu Armins Überraschung verändert sich nun Herrn Krings Habitus. Seine Höflichkeit scheint sich als Kommunikationsmittel inzwischen verbraucht zu haben;

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