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Das unsterbliche Volk
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eBook286 Seiten4 Stunden

Das unsterbliche Volk

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Über dieses E-Book

Max Barthel (* 17. November 1893 in Loschwitz; † 17. Juni 1975 in Waldbröl), auch bekannt unter den Pseudonymen Konrad Uhle und Otto Laurin, gehörte zusammen mit Heinrich Lersch und Karl Bröger im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit kommunistischer und später sozialdemokratischer Orientierung zu den bekanntesten Arbeiterdichtern. Ab 1933 bekannte er sich anfänglich offen zum Nationalsozialismus und war auch in den Folgejahren in die nationalsozialistische Kulturpolitik verstrickt. Nach 1945 verfasste er – abgesehen von einer Autobiographie – unpolitische Chortexte und Kinderverse. (Auszug aus Wikipedia)
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Jan. 2016
ISBN9783958642621
Das unsterbliche Volk
Autor

Max Barthel

Max Barthel, auch bekannt unter den Pseudonymen Konrad Uhle und Otto Laurin, (* 17. November 1893 in Loschwitz; † 17. Juni 1975 in Waldbröl) war ein deutscher Schriftsteller. Er gehörte zusammen mit Heinrich Lersch und Karl Bröger im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit kommunistischer und später sozialdemokratischer Orientierung zu den bekanntesten Arbeiterdichtern. Ab 1933 bekannte er sich anfänglich offen zum Nationalsozialismus und war auch in den Folgejahren in die nationalsozialistische Kulturpolitik verstrickt. Nach 1945 verfasste er – abgesehen von einer Autobiographie – unpolitische Chortexte und Kinderverse. (Wikipedia)

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    Buchvorschau

    Das unsterbliche Volk - Max Barthel

    ernten.

    Erstes Kapitel

    Der Mensch ist ein Geschöpf, das ja sagt und hofft. Jakob Bundschuh, ein Bauer mit kantigem Gesicht und kühner Nase über dem bartlosen, kräftigen Mund, kam vom Gemeindehaus und ging nachdenklich die breite, bestaubte Dorfstraße hinunter. Es war am 1. Mai, und der Redner mit den fahrigen Händen hatte halb russisch, halb deutsch vom Weltfeiertage der Arbeit gesprochen, vom Vermächtnis Lenins und vom Willen Stalins, der auch die Krim in paradiesische Landschaft verwandeln sollte.

    Die Bauern des kleinen Dorfes Marienthal bei Simferopel in der Krim hatten schon viele Reden gehört, vor dem Krieg und nach dem Krieg, Reden und Versprechungen. Auch heute ließen sie mit unbeweglichen Gesichtern, die Augen waren wachsam, alles über sich ergehen. Der übliche Beifall fiel auf den Mann mit den flatternden Händen. Die vorgelegte Resolution wurde einstimmig angenommen. Und als dann der Redner verschwunden war, blieben die Bauern auf ihren Plätzen. Dann standen sie auf und stimmten die alten Lieder an, die von ihren Vorfahren vor hundert und noch mehr Jahren aus Deutschland mitgebracht und in den Steppen und Gebirgen von Geschlecht aus Geschlecht vererbt wurden.

    Vom Meere wehte ein kühler Wind, tanzte aus der Straße und wirbelte den weißen Staub auf. Auch im Kaukasus hatte der Wind geblasen, aber es war ein andrer Wind gewesen, harscher, wilder und kälter, ein Wind von den Pässen und Gletschern, ein Sturm vom Kasbek und Elbrus. Und noch einen andern Sturm hatte der Dahinschreitende im Kaukasus erlebt. Im Herbst erhoben sich die Bergvölker.

    Der Krieg war zu Ende.

    Der Bürgerkrieg in Rußland begann.

    Vom Herbst bis zum Winter und in den Frühling hinein brannten deutsche und russische Dörfer und Gehöfte. Auch das große Gut Emiljanowka im Terek-Gebiet wurde von den Tataren im späten Herbst überfallen und mußte geräumt werden, Jakob Bundschuh erinnert sich ganz genau. Schwer war dem Vater der Abschied von den Bergen, Tälern, Matten und Weiden gefallen.

    Ohne Erde ist der Bauer wie ein Baum ohne Wurzeln.

    Kuriere jagten damals von Dorf zu Dorf, von Hof zu Hof und nach den Siedlungen, junge Burschen, die Flinten quer im Sattel, erhitzt und den Patronengurt um die Brust. Die Reiter ritten Tag und Nacht. So war auch er geritten. So hatte auch er gegen die Bergvölker gekämpft und Blut und Pulver gerochen. Blut und Pulver um die junge Mannschaft, Blut und Pulver um Emiljanowka, Blut und Pulver um die Dörfer Kaplanowka, Romanowka, Kutan Aul und Katschalay. Blut und Pulver! Feuer und Rauch!

    Der Wind weht vom Schwarzen Meer, und der Bauer denkt jetzt an jenen frostklaren Tag, an dem er mit seinen Kameraden ausgezogen war, vermißte Bauern zu suchen. Sturm stieß von den Bergen und blies ihnen trocknen Schnee in die Gesichter. Der Sturm zerfetzte die Wolken. Es begann zu schneien. Und als sie sich, es war im Februar, dem tatarischen Dorfe Kutan Aul näherten, peitschte ihnen Flintengeschnatter entgegen. Und plötzlich Schattenreiter im wirbelnden Schnee, trabt ihnen eine Reiterrotte entgegen. Sind es die vermißten Bauern? Sind es die Feinde? Es waren Tschentschenzen, sie schießen wild in die Luft, und die Deutschen reiten schnell in das kleine Seitentälchen hinunter. Sie werden verfolgt. Und dann beginnt eine neue Schießerei in den ewigen Niederfall des Schnees hinein. Die Schatten und Schemen der Feinde sind wie Schatten und Schemen aus einer andern Welt. Gedämpft klingen ihre Schüsse, der Schnee dämpft ihren Hall und Schall. Das Feuer geht hin und her, und endlich verschwinden die Tataren.

    Bas Flintengeknalle ist verstummt. Schnee fällt, Schnee wirbelt, Schnee deckt alles zu. Die Deutschen verlassen das kleine Tal und reiten nach Kaplanowka hinüber. Sie hatten keine Verluste. In dem Dorf sind viele Bauern aus Romanowka und Katschalay, Flüchtlinge vor den Bergvölkern. Sie stehen schon drei Tage in heftigen Kämpfen mit den Tschentschenzen. Die Bergvölker haben viele Namen, es sind viele Stämme, die Deutschen nennen sie Tataren.

    Heute war die Rettung gekommen, zweihundert Soldaten aus der Stadt Chassowjurt, alte Männer und neue Rekruten aus der Ukraine. Das letzte Aufgebot. Sie hatten die Tschentschenzen vertrieben, die schwarzen Schatten und Schemen waren selber Flüchtlinge gewesen. Nun lauerten sie in den tiefen Tälern und Schluchten, um am nächsten Tage wieder vorzubrechen. Blut und Feuer im Kaukasus!

    Vor Kaplanowka gab es beinahe ein Unglück.

    Die Soldaten glaubten, die Schatten im Schnee, die sich näherten, seien noch einmal die Tataren. Sie begannen zu schießen. Es hallte und schallte. Die Kugeln sangen und klangen. Das Feuer steigerte sich und wurde immer wilder. Und nun reißt der sechzehnjährige Jakob Bundschuh sein Pferd vorwärts durch das Feuer und den fallenden Schnee. Er liegt aus dem glatten Rücken des Pferdes, er stellt sich in den Steigbügeln auf und schreit:

    »Nicht schießen, Brüder, wir sind Freunde!«

    Die Gewehre verstummten.

    Soldaten laufen ihnen entgegen und Bauern. Es sind die vermißten Freunde. Sie schwenken die Pelzmützen, und alles ist aufgeklärt. Auch vor Kaplanowka, wie in der kleinen Schlucht, wurde kein Mensch von einer Kugel gestreift. Gott hat sie gelenkt. Jakob springt vom Pferd und erzählt von dem Zusammenstoß. Die Vermißten erzählen, und dann ziehen die Bauern von Romanowka und Katschalay in ihre Dörfer. Der Kommandant der Soldaten hat erklärt:

    »Unsre Regierung ist zu schwach, zu schwach in diesen Bergen und Höllenschluchten, in diesen Teufelsverstecken. Wir können euch nicht mehr helfen, Bauern. Der Kaukasus ist im Aufstand. Die Bergvölker haben die Fressen aufgerissen und wollen sich selber regieren. Sollen diese Teufel ihre eignen Regierungen haben! Sie werden uns doch wieder holen, wenn sie nicht mit sich fertig werden. Aber jetzt sind sie stark, und wir sind gekommen, Bauern, euren Rückzug zu decken. Das Terek-Gebiet, das ist Beschluß der Regierung, muß geräumt werden. Macht euch in Gottes Namen auf den Weg, Bauern, solange noch die Köpfe an euren Hälsen sitzen und solange ihr noch Wagen und Pferde habt. Beeilt euch, den letzten beißen die Hunde!«

    Und sie hatten sich aufgemacht, die deutschen Bauern im Terek-Gebiet. Die Reisewagen waren bald mit dem notwendigsten Hausrat beladen, Betten und Truhen, Geschirr und Kleider nahmen sie mit und Mehl und Futter für das Vieh. Das Vieh wurde zusammengetrieben und stand bereit. Hunde bellten. Schafe blökten. Pferde stampften, wieherten und schnaubten. Den bleigrauen Februarhimmel rötete der Feuerschein brennender Dörfer und Höfe.

    Kaplanowka brannte.

    Romanowka brannte.

    Katschalay brannte.

    Ein Riese mit kantigem Gesicht und dunklen Augen, das Haar ist schon ergraut und die Nase springt kühn hervor – Jakob Bundschuh sieht seinen Vater leibhaftig vor sich – der Vater hatte ihn damals gerufen. Und er war gekommen, mit der kleinen Anna Wiesner, deren Eltern von den Tataren im Herbst beraubt und erschossen worden waren. Viele Bauern wurden damals erschossen. Auch die Tataren mußten Blut und Leben lassen.

    »Jakob«, sagt der Vater im schwäbischen Dialekt, »Jakob, wir zünden unser Gut an, unser wieder ausgebautes Emiljanowka. Die Tatarenhunde sollen hier nur Dreck und Funkenasche finden, wenn sie kommen, die Heiden. Geh jetzt und hole den Knecht Andruschka.«

    Er eilt davon.

    Andruschka steht bei den Ochsen und Pferden.

    »Andruschka, du sollst zum Bauern kommen.«

    Und dann war der Vater mit dem Knecht Andruschka ganz langsam von Scheune zu Scheune geschritten, nicht langsamer und nicht schneller, als wenn er über die Felder ging und die Saaten grünen sah. Aber jetzt grünten keine Saaten. Der Vater wurde plötzlich unruhig und begann zu wüten. Mit Andruschka schleppte er Hafer, Weizen und Mehl aus den Hof, unermüdlich schleppten die beiden Männer, verbissen und schweigend. Die prallen Säcke flogen in den Schnee und bauten satte Hügel.

    »Dein Messer, Andruschka!« befahl der Vater.

    Der Knecht gab dem Bauern das krumme Messer, und der schlitzte die prallen Säcke aus. Die Körner rollten und sprangen, als seien sie lebendig. Das weiße Mehl vermählte sich mit dem weißen Schnee. Und nun ging der Vater in die Ställe und erschoß das Vieh, das nicht mitgenommen werden konnte. Die Schüsse knallten.

    »Anzünden!« sagte der Bauer.

    Andruschka verschwand in der Küche und kam mit zwei brennenden Scheiten in den Hof. Und nun warfen die Männer, der Herr und der Knecht, Feuerbrände in die Scheunen. Hui, züngelten die Flammen!

    »Jakob«, rief die Mutter. Sie bemühte sich am Planwagen um eine alte bunte Wiege. »Jakob«, ruft die Mutter, und er hört jetzt an diesem klaren Maientag in der Krim ganz deutlich ihre Stimme, »Jakob, spring herbei und reiche mir die Krippe aus den Wagen.«

    Er hatte nicht auf die Stimme der Mutter gehört. Nein, er reichte nicht die bunte bemalte Krippe aus den Wagen. Er hörte die Flammen sausen, er hörte das Vieh brüllen und die Schüsse knallen. Und da ließ er die kleine Anna stehen, acht Jahre war sie alt, und aus Schritt und Tritt folgte sie ihm mit großen erschrockenen Augen. Ja, er hatte sie stehengelassen und selbst einen Feuerbrand in das alte Haus geworfen, in dem er geboren und aufgewachsen war.

    Überall brannten die Dörfer und Höfe.

    Im Schneewind roch es nach Rauch und geschmortem Fleisch. Von noch unversehrten Kirchen läuteten die Glocken Sturm und Alarm. Überall in den Dörfern standen die Bauern fluchtbereit. Überall brüllte Vieh, weinten Kinder, bellten Hunde, jammerten Frauen. Sie hatten einen langen Weg vor sich. Zuerst den Marsch nach dem wilden Terek, dann durch das Kuban-Gebiet und Taurien und endlich nach der goldnen Ukraine oder noch weiter bis in die besonnte Krim.

    Die große Wagenkolonne, Viehherden trotteten mit, Ochsen, Kühe, Pferde und Schafe, die große Kolonne setzte sich langsam in Bewegung. Volk aus der Flucht, vorn und hinten marschierten und ritten die Soldaten, zweihundert Mann, die bis an den Grenzfluß mitgingen. Unterwegs schlossen sich immer neue Wagen und Herden an.

    Der Vater reiste mit einer Kolonne, die aus sechzig Familien bestand. Auf ihrem Wege stieß sie aus die tatarische Siedlung Kutan Aul. Sie machten halt. Die Soldaten umstellten das Dorf. Der Krieg war vorbei, der Krieg an den Fronten, die Bergvölker hatten einen neuen Krieg begonnen. Sie sollten ihn haben! Den Soldaten schlossen sich viele Bauern an. Auch Jakob war dabei gewesen. Viele deutsche Dörfer lagen in Schutt und Asche. In den tatarischen Dörfern, die am Wege lagen, sollte und durfte kein Stein auf dem anderen bleiben. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Grell und ausgeschneit war der Nachmittag, verlassen das Dorf. Die Soldaten stöberten lachend in den steinernen Häusern und armseligen Hütten herum. Sie zerschlugen Fenster und Türen, und in einem Backofen versteckt, fanden sie zwei alte Männer. Sie wurden ohne Verhör erschossen. Und dann brannte das Dorf in allen vier Windrichtungen. Die Flammen schlugen jauchzend durch die dunklen Rauchwolken. Zwei Tataren erschossen? Das Leben war damals nicht mehr wert wie eine Kerze, die ein Kind ausbläst.

    Es gab keine Gnade, nein.

    Über den wilden Terek waren vor vielen Jahren die deutschen Bauern gezogen. Sie kamen aus der Ukraine, das Land war zu teuer, die Familien waren zu groß, im Kaukasus suchten sie sich eine neue Heimat. Über den wilden Terek mußten sie wieder. Eintausendsechshundert Wagen, eine kleine Völkerwanderung, wälzte sich dem Grenzflusse zu. Jakob sieht das alles noch einmal vor sich. Er selbst fährt einen Wagen, die kleine Anna sitzt neben ihm und knallt mit der Geißel. Und über den sechzehnhundert Wagen steht eine graue Wolke, und nach dieser Wolke schreit das Vieh, wiehern die Pferde, bellen die Hunde.

    Der Terek toste und brüllte, ein Sohn der Gletscher und der rauhen Pässe. Er riß wilde Wirbel und jagte nach seiner Mündung. An den sandigen Ufern wuchsen kleine Laubwälder und Dickichte. Stille Buchten verschilften. Weißer Schaum tanzte aus blaugrünen Wellen. Die Wagenkolonnen bauten ihre Wagenburgen. Die einzige Fähre, die nun sechzehnhundert Wagen übersetzen sollte, mußte erst repariert werden.

    Drei Tage lagerten die Bauern und warteten auf die Fähre.

    Manchmal fielen Schüsse.

    Die Bergvölker schickten wachsame Späher vor.

    Die Frauen und Kinder schliefen in den Wagen aus Säcken und Decken, die Männer und Jünglinge nächtigten auf freier Erde, und wenn sie morgens erwachten, waren sie naß und verfroren vom Regen, Reif oder Schnee. Und das Vieh brüllte vor Hunger. Die Schafe und Pferde suchten sich vorjähriges Gras und knabberten am Schilf und Rohr. Den Ochsen und Kühen aber mußte das Heu wie auf einer Goldwaage zugemessen werden. An den ersten beiden Wartetagen am Terek schneite es. Am dritten Tag fiel Regen.

    »Jakob«, hört der Mann, der die weiße bestaubte Straße in der Krim entlang geht, »Jakob«, hört er die Stimme des Vaters aus der Vergangenheit, »wir müssen noch viele Flüsse auf unsrer Wanderung überschreiten. Einmal sind wir Bundschuhs vom Neckar aufgebrochen, ein Großvater selig hatte sich aus den Weg gemacht, und mir scheint, der Herr im Himmel schickt uns jetzt auf die Heimreise.«

    Die Fähre arbeitete sich am Leitseil über den reißenden Fluß. Der Terek hob und senkte die Flüchtlinge, er hob und senkte die Pferde, die Schafe und die Rinder. Manchmal spritzte er den Frauen und Kindern eine eiskalte Welle ins Gesicht. Die Bauern starrten mit kühlen Augen nach dem jenseitigen Ufer. Dort also lag die Rettung. Sie waren Söhne von Pionieren, die endlose Steppen und abweisende Täler und Gebirge erobert, fruchtbar und bewohnbar gemacht hatten. Ihre Brüder saßen in Sibirien, in Turkestan, an der Wolga, in der Ukraine, in der Baschkirensteppe und in der Krim. Sie waren selber Pioniere und ewige Deutsche, mit der Sehnsucht nach der Welt in ihrem Herzen.

    Am siebenten Tage wurde die Familie Bundschuh mit Hab und Gut, Vieh und Wagen übergesetzt. Schwer kämpfte die Fähre gegen die Strömung. Da drüben führte der Weg anfangs auf einem schmalen Damm weiter. Gegen ihn schlug der Fluß seine Wellen. Und auf diesem Damm faßte das tückische Wasser nach dem ersten Wagen, in dem der Vater mit der kleinen Anna saß. Der Wagen rutschte plötzlich ab und hing schräg nach dem Fluß hinunter.

    An den Angstschrei der Mutter erinnert sich Jakob ganz genau.

    Er hatte diesen Schrei in den Ohren, als er sich kopfüber ins Wasser warf. Der Vater konnte sich mit starken Stößen retten, aber das Kind, das Kind wurde fortgetrieben. Er selbst kämpfte mit den eiskalten Wellen und der reißenden Strömung, furchtbar ist die Gewalt des Wassers, aber er bezwingt die Strömung, das Herz pocht, aber die Arme sind ganz ruhig. Und nun schwimmt er nach dem kleinen Fischerboot, das am Damm schaukelt.

    Der Terek, der wilde, wollte ein Opfer haben.

    Am vergangnen Tage riß er zwei starke Ochsen mit sich fort. Der Geist des Bergflusses brüllte nach größrem Opfer. Und nun rissen die gehorsamen Wellen ein unschuldiges Kind mit in die Wirbel. Da schwimmt sie, die kleine Anna, die Wellen nehmen sie mit. Die Mutter fleht verzweifelt auf dem glatten Damm, ringt die Hände und schreit: »Anna, Anna, Annuschka, mein Kind!«

    Jakob zieht sich in das kleine Fischerboot, die Wellen wirbeln, aber er legt sich männlich in die Ruder. Er zwingt die Wellen, die blaugrünen und wilden, und erreicht Anna, aber da sackt sie unter, schwer und lautlos wie ein Stein. Wasser, Wasser, Gischt und Strudel! Noch einmal schreit die Mutter, und der Vater rennt und ruft:

    »Helft, liebe Brüder, ein Kind ist im Wasser!«

    Die Bauern stehen auf dem glatten Damm und starren in die Wirbel. Sie können nicht helfen. Sie brauchen nicht helfen, Jakob ist sechzehn Jahre alt und gibt den letzten Funken Kraft an die treuen Ruder. Manchmal dreht sich das schwache Boot wie ein Kreisel, dann schießt es gehorsam vorwärts, es tanzt aus den Wellen! Gischt spritzt, Wellen tanzen, Jakob rudert und rudert. Und dann hat er gesiegt!

    Der Terek, der wilde, hatte sich in den sieben Wartetagen an schwarzen Ochsen und fetten Schafen überfressen. Der Geist des Bergflusses gähnte, und ein schäumender Strudel holte die kleine Anna gehorsam aus der Tiefe an das Licht und legte sie dicht an die Bootswand vor Jakobs Hände. Blutleer war ihr Gesicht, zerschunden die Stirn. Und die Augen, die schönen strahlenden Kinderaugen waren geschlossen. Lebte sie noch? Atmete sie? Im braunen Haar hing dunkelgrünes Schilf.

    »Jakob!« schreit die Mutter, »Jakob hat das Kind gerettet!«

    Er brachte das Mädchen sicher an den Damm, die Mutter packte das triefende Kind, die leblose Nixe, in wollene Tücher, der Vater reibt mit großen roten behaarten Händen die eiskalten Kinderhände, und Jakob steht dabei, atemlos von der Anstrengung und glücklich über die Rettung. Lebt Anna? Ja, jetzt schlägt sie die Augen auf, diese schönen, zärtlichen, blauen Strahlenaugen. Ihr erster Blick trifft ihn. Ihre ersten Worte richtet sie an ihn.

    Jakob, der Mann, hört im Wind vom Schwarzen Meer, der mit dem Staub der weißen Dorfstraße tanzt, Anna, das Kind sprechen:

    »Jaschka, da unten im Wasser, auf dem Grund, ist nicht so viel Schlamm wie hier auf dem Damme. Kalt ist es, und Fische gibt es da unten, viele hab ich gesehen, Jaschka, viele Fische.«

    »Warum hast du mir keine mitgebracht, Anna?«

    »Sie schwimmen zu schnell, Jaschka«, antwortet das Kind und schließt die Augen mit den langen Wimpern.

    Bundschuh seufzte und starrt auf die steinigen Felder. Aber er sieht keine Felder, keine Höfe, keine Ziehbrunnen und keine Weiden. Er sieht nur die Vergangenheit, die Tataren, die Flucht, den Terek, die brennenden Dörfer und den Wagen, der nach dem Wasser kippte. Ja, Anna war gerettet, sie erzählte von den Fischen, und die Wagen fuhren weiter.

    Die Wagen fuhren weiter.

    Die erste Kolonne lagerte an einer großen Fischerei.

    Wieder schlafen die Männer unter freiem Himmel, beim Vieh oder unter den Wagen. Die Hunde umkreisen wachsam die Herden. Feuer brennt, Rauch steigt auf und vermischt sich mit den Nebeln. Wasser gurgelt, grenzenlose Öde und Einsamkeit bei Sand, Wasser und Rauch.

    In jener Nacht wird ein Kind geboren, ein zehn Pfund schwerer Knabe. Der Terek brüllt in den ersten kleinen Menschenschrei hinein. Am Morgen schon wird das Kind mit eiskaltem Wasser getauft. Die Mutter ruht erschöpft im Wagen. Drei Frauen sitzen bei ihr. Der Vater ladet seine Freunde zu einem Gastmahle ein.

    Zwei Hammel braten am offnen Feuer, Brot wird gebacken, Fisch geröstet. Der Kaukasierwein ist rot und süß. Nun sitzen die Männer zusammen, essen Brot, Fleisch, Fisch und trinken den Wein. Einen Steinwurf von ihnen entfernt schäumt der Grenzfluß. Vieles haben sie aufgegeben, zwanzig Jahre Arbeit, dreißig Jahre Arbeit, aber ein Kind ist in der Nacht geboren worden. Ein Knabe. Zehn Pfund wiegt er und wiegt vieles wieder auf. Rußland ist groß, Erde gibt es überall, vorwärts, Kopf hoch, sie sind Pioniere.

    Das Brot ist gegessen, das Kind ist getauft, mit der Fähre fahren einige Bauern noch einmal zum andren Ufer. Sie waren gerettet, und das Wasser trennte sie vom Feuer, aber da drüben lagen ihre Höfe. Vielleicht fanden sie noch dieses oder jenes, ein Werkzeug, einen Hammer, einen Pflug, einen zerlöcherten Sack, einen vergessenen Topf oder einen verlausten Pelz. In den Dörfern und Höfen sitzen schon die Aufständischen und antworten mit Schüssen. In den unbesetzten Höfen und Dörfern, in den unverbrannten Siedlungen ist der verlauste Pelz, der zerlöcherte Sack und der vergessene Pflug schon fortgeschleppt worden.

    Oft fielen am jenseitigen Ufer hallende Schüsse.

    Die Soldaten, alte Männer, junge Rekruten, überwachten immer noch den Flußübergang. Am liebsten wären sie auch mitgezogen, hin nach dem stillen Don, hin zur goldnen Ukraine, vorwärts in die Heimat. Aber es war noch Krieg. Es war noch Krieg, und am achten Tage fingen die Soldaten im Schilf des Terek drei Tataren. Es schienen vornehme Herren zu sein. Ihr Führer war Alan Bek, ein würdiger Mann mit schwarzem Bart und vierzig Jahre alt. Er verlangte den Führer der Truppe zu sprechen. Die Soldaten antworteten:

    »Erzähle uns, was zu berichten ist.«

    Und er erzählte:

    »Wir ritten an den Terek, um mit eignen Zügen den Flußübergang zu sehen. Wir haben keine Waffen bei uns. Wir sind auch keine Feinde der Deutschen. Keine Feinde, bei Allah, nein! Ich kenne selbst viele Deutsche, und sie kennen mich, Alan Bek. Fragt den Bauern Bundschuh, der kennt mich und kann sagen, wer ich bin. Was ich bin. Alan Bek bin ich. Die beiden Männer hier, meine Neffen, haben mich begleitet. Führt mich zu eurem Kommandanten. Wir haben keine Waffen. Untersucht uns. Es geschieht nichts ohne Allah.«

    Die Soldaten untersuchten Alan Bek und seine Neffen.

    Nein, sie fanden keine Waffen.

    »Wir wissen schon, wer du bist«, erklärten die Soldaten, »ein Heide bist du, ein Tatarenschwein. »Und wir wissen, was wir mit euch zu tun haben. Ihr werdet erschossen.«

    Der Tatarenbey strich sich den schwarzen Bart und sagte:

    »Bringt mich zu eurem Kommandanten.«

    »Zur Hölle bringen wir dich und deine Neffen«, antworteten die Soldaten, »wir bringen dich hin zu deinem Muhamed.«

    Alan Bek lächelte verächtlich.

    »Es steht geschrieben. Es geschieht nichts ohne Allah«, sagte er. Dann sprach er mit seinen Neffen, die drei Männer verneigten sich ernst nach Mekka, der heiligen Stadt. Es war am Abend. Die Sonne ging unter. Die Tataren beteten, die Dunkelheit kam, dann wurden sie erschossen.

    Der Vater erfährt erst am andren Tage von Alan Beks

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