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Obdachlos: Das Leben des Arno Kilian
Obdachlos: Das Leben des Arno Kilian
Obdachlos: Das Leben des Arno Kilian
eBook922 Seiten21 Stunden

Obdachlos: Das Leben des Arno Kilian

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Über dieses E-Book

Die Wege in der Obdachlosigkeit sind vielschichtig.
Ihnen gemeinsam ist, dass sich die Wenigsten freiwillig auf diesen Weg begeben.
Arno Kilian war einmal glücklich, reich und erfolgreich.
Aufstrebender Wissenschaftler, renommierter Mediziner, liebender Familienvater.
Er landet auf der Straße, er hat alles verloren.
Auch seine Würde.
Wie kann so etwas sein?
Es kann sein.
Es geschieht tagtäglich in unserem Land.
Dieser Roman gewährt einen Einblick.
Gezwungenermaßen wird Arno zum Mörder…
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum14. Juni 2016
ISBN9783740736569
Obdachlos: Das Leben des Arno Kilian
Autor

Torsten Markwirth

Dr. Torsten Markwirth ist Internist und Kardiologe und schreibt seit 2009. Seine bisher sechs Romane beinhalten stigmatisierende Themen und sind mit kriminalistischen Finessen gewürzt. Sie erlangten große Aufmerksamkeit durch mehrere Fernsehauftritte des Autors sowie ein breites Presseecho.

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    Buchvorschau

    Obdachlos - Torsten Markwirth

    „Mama! Was macht der schmutzige Mann da?"

    Das kleine Mädchen, ein Kindergartenkind, zeigt auf mich.

    „Lass ihn. Das ist ein Obdachloser …"

    Die Mutter, eine schlanke, attraktive Frau, zieht das Mädchen rasch fort, in andere Richtung, als könne von mir eine Gefahr ausgehen.

    Nur kurz hatte ich hingeblickt, nur den Bruchteil eines Augenblicks, zu vertraut sind derlei Szenen in meinem Leben.

    Stoisch setze ich meine Suche fort.

    Ich stehe gerade vor einem schwierigeren Objekt.

    Der orangefarbene Plastikmülleimer, an einen Laternenpfahl montiert, besitzt nur eine einzelne ovale, klein bemessene Öffnung, gerade mal zwei Handteller groß.

    Niemand sonst außer dem kleinen Mädchen nimmt auf dem belebten Parkplatz von mir Notiz, wie ich an dem Behältnis herumbossle.

    Zu alltäglich die Erscheinung.

    Drei Null-Fünfer PET-Flaschen sind die Beute meiner Suche, meinem Kramen und Wühlen in dem – zu diesem Zweck – beschwerlich zugänglichen Mülleimer.

    Eine davon ist leicht beschädigt.

    Aber der Pfandautomat im Supermarkt wird sie anstandslos annehmen.

    Drei Flaschen.

    Macht 75 Cents.

    Die meisten Menschen – oder sagen wir: die gewöhnlichen Menschen – begeben sich an einen Bankautomaten, wenn sie Bargeld benötigen.

    Ich gehe zum Pfandflaschenautomat.

    Die PET-Flaschen sind mir am liebsten.

    Nicht nur wesentlich leichter zu tragen, verursachen sie zudem kein Geklirre oder Geklimper wie die Bierflaschen, wenn ich diese in meinen Plastiktüten transportiere. Außerdem gehen die Glasflaschen auch mal schnell zu Bruch.

    Zwei große Tüten, die in der rechten Hand leicht und leise mit den Plastikflaschen, die in der linken mit dem klirrenden Glas, dazu einen Rucksack auf dem Rücken mit meinem gesamten Hab und Gut, schlurfe ich über das Trottoir.

    Hab und Gut.

    Bei mir ist es nur ‚Hab’ zu nennen.

    Gut’ war daran nichts an dem, was ich besitze.

    Gut’ ist eigentlich nichts mehr in meinem Leben.

    Eigentlich praktisch, wenn man alles, wirklich alles an Besitz, mit sich trägt.

    Nirgendwo gibt es etwas, das mir gehört, um das ich mich kümmern oder sorgen müsste.

    Alles am Mann.

    Alles, was man noch hat, alles, was einem noch geblieben ist.

    Ich tappe in Richtung des Einkaufszentrums.

    Passanten überholen mich.

    Hektische Mütter mit quengelnden Kindern, Schülerhorden an ihren Smartphones daddelnd, dynamische Angestellte in schmucken Anzügen.

    Alle überholen mich.

    Denn ich bin langsam.

    Ein recht eigentümliches Gangbild hat man sich angewöhnt, wenn man lebt wie ich.

    Keineswegs bewusst oder gewollt.

    Langsam schlurfend, fast bedächtig, einen Fuß vor den anderen setzend.

    Fast nie hat man es eilig.

    Die Zeit spielt keine Rolle mehr in derartigem Dasein.

    Den Rücken gebeugt als trage er schwere Last.

    Dabei ist der Rucksack ohne nennenswertes Gewicht.

    Es ist eine andere Last, die ihn beugt.

    Eine Last, die man nicht mit den Augen sieht.

    Die Pfandflaschenautomaten befinden sich im Eingangsbereich.

    Heute herrscht dort dichtes Gedränge.

    Das mag ich nicht so sehr.

    Manche Menschen rümpfen unverhohlen die Nase, wenn sie mir nahe kommen.

    Der Geruchssinn verfügt über eine bemerkenswerte Adaptation.

    Ich rieche ihn schon lange nicht mehr, meinen Körper.

    Ich bin froh, in den vergangenen regnerisch kalten Herbstwochen von Parasiten verschont geblieben zu sein.

    Das kann nicht jeder von uns behaupten.

    10 Euro, 25 Cents.

    Der Verdienst meiner heutigen, vierstündigen Wanderung.

    Sehr früh schon hatte ich mich auf den Weg gemacht, eine festgelegte Strecke, 18 Stationen umfassend.

    18 Mülltonnen.

    Aber die Zeit spielt ja keine Rolle.

    Nicht mehr.

    2 Euro 50 Stundenlohn.

    Das war früher anders im Leben des Arnold Kilians.

    Aber schon lange benutze ich ihn nicht mehr, meinen Namen.

    Die wenigen Menschen, die mit mir sprechen, nennen mich ‚Arno’.

    Es sind die Menschen, die so leben wie ich.

    Menschen, die ‚Platte machen’.

    Ich betrete den Supermarkt.

    Einen Einkaufswagen benötige ich nicht.

    So viele Artikel werden es nicht werden.

    Ein großer Ring Fleischwurst. Ein halbes Mischbrot. Zwei Halbliterdosen Bier.

    Keine besonders gesunde Ernährung, ich weiß.

    Aber es ist ja auch kein besonders gesundes Leben.

    Es ist einer meiner Lieblingssupermärkte.

    Im Winter kann man sich hier längere Zeit aufwärmen, ohne gleich weggeschickt zu werden.

    Außerdem gibt es hier einen kostenlosen Trinkwasserspender.

    Ich fülle zwei 1-Liter-PET-Flaschen aus meinem Rucksack.

    Sauberes Trinkwasser ist sehr wichtig, das weiß ich.

    Ein Mann mittleren Alters beobachtet mich.

    Der Detektiv, denke ich.

    Aber ich habe noch nie geklaut.

    Das müsste der Detektiv, wenn es denn einer ist, wissen.

    Denn ich bin sehr oft hier und eine sehr auffällige Erscheinung.

    An der Kasse gewährt mir eine betagte Dame mit vollem Einkaufswagen den Vortritt mit meinen wenigen Artikeln.

    Dabei lächelt sie freundlich.

    Ich gehe an ihr vorbei, danke und freue mich.

    Ja. Ich freue mich.

    Denn es ist ein Ereignis großer Seltenheit, dass man mir mit Höflichkeit oder gar Freundlichkeit begegnet.

    So gibt es zum Beispiel nicht wenige Zeitgenossen, die mich einfach duzen.

    Als sei ich ein Kind.

    In meinem früheren Leben war das anders.

    Da sprachen mich manche mit ‚Herr Doktor’ an.

    Aber dies ist heute und jetzt völlig ohne Belang.

    Es ist gänzlich ohne jede Bedeutung oder Nutzen in meinem jetzigen Leben.

    Hier bin ich einfach der ‚Arno’.

    Hier, in meinem Leben auf ‚Platte’.

    ***

    Ich erreiche meinen Schlafplatz, mein Domizil.

    Ein riesiges, verlassenes Industriegelände.

    Ein Schandfleck der Stadt.

    Passend zu mir.

    An einem ganzen Dutzend abgewrackter, größtenteils stark beschädigter Bauten schlurfe ich vorbei, übersteige verbogene Schienenstränge, stählernen Unrat und illegal deponierten Müll, bis ich da bin.

    Eine Halle, ‚meine’ Halle, ein schmutziger Schlackensteinbau, etwas abseits gelegen vom Zentrum des in den Neunzigerjahren bankrott gegangenen Stahlwerks.

    Eine Ruine, aber immerhin mit weitgehend intaktem Dach.

    Es ist etwas zugig hier, das Gros der Glasfenster ist eingeschmissen.

    Allein bin ich hier und das ist gut so.

    Vor dem Haupttor der Halle stapeln sich riesige Schrottteile zu einem kaum überwindbaren Berg.

    Das Bild erinnert mich an Filmaufnahmen von im Zweiten Weltkrieg bombardierten Industriekomplexen im Ruhrgebiet.

    Früher sah ich mir gerne solche historischen Dokumentationen an.

    Aber das ist lange her.

    Fernsehen gehörte zu meinem früheren Leben.

    ‚Meine’ Halle erscheint auf den ersten Blick von außen nicht mehr zugänglich.

    Durch Zufall hatte ich im vergangenen Winter zwischen verrosteten Eisenungetümen die völlig von dornigem Gesträuch zugewachsene Notausgangstür entdeckt.

    Nie ist jemand hier, in meiner Halle, in meinem Refugium, an meinem Schlafplatz, die Ratten ausgenommen, die mich aber meist in Frieden lassen.

    Nur ihr Getrippel und Gefiepse sowie ihre Hinterlassenschaften nerven manchmal.

    Ich liege an meinen angestammten Platz, zwischen demolierten Maschinen, deren frühere Funktion sich mir nie erschloss.

    Giftefeu sprießt durch den aufgerissenen Betonboden.

    Ich überfliege die vorgestrige Ausgabe der Zeitung.

    Ich hatte sie aus einer der Mülltonnen gefischt.

    Nichts darin ist von Bedeutung für mich, kaum etwas von Interesse.

    Aber sie ist dennoch wichtig, die Zeitung.

    Klopapier ist ein zu teurer Luxus geworden in meinem Leben.

    Ich rolle meinen Schlafsack aus, mein wertvollster und überlebenswichtiger Besitz.

    Ich sehe nochmals in die Zeitung und entdecke doch noch eine Information von Belang und freue mich.

    Der morgige Tag wird ein guter werden.

    Ein Heimspiel in unserer Stadt.

    Zweite Fußball-Bundesliga.

    Es verspricht reiche Beute.

    An Pfandflaschen und Halbliter-Dosen.

    Ich liege da.

    Ich denke an meine beiden Kinder.

    Michelle wurde vor einigen Wochen 14.

    Ich hatte fest an sie gedacht, an ihrem Geburtstag.

    Ich vermochte ihr nichts zu schenken.

    Nicht einmal gratuliert habe ich ihr.

    Ich hatte nicht den Mut, sie anzurufen.

    Vielleicht haben sie auch eine neue Telefonnummer.

    Aber fest und innig und liebevoll habe ich an sie gedacht, an diesem Tag.

    Sie tun sehr weh, diese Gedanken.

    Sie schmerzen.

    Daher tue ich es selten, ich vermeide es.

    Das Denken an früher, an mein anderes Leben.

    Lasse es besser sein.

    Abgebrochen sind die Brücken dorthin, in diese gänzlich andere Welt.

    Unerreichbar ist es.

    Das Leben, das frühere Leben, das nicht mehr ist.

    Aus dem Nichts sind sie jetzt gekommen, ohne konkreten Anlass, meine Gedanken an Michelle und Rebecca.

    Sie schmerzen brutal.

    Ich öffne eine der Bierbüchsen, trinke.

    Was werden sie gerade tun, in diesem Augenblick?

    In ihren Bettchen liegen und langsam einschlafen?

    Ob sie an mich denken?

    Jetzt?

    Oder wenigstens dann und wann?

    Ich trinke hastiger, öffne die zweite Büchse.

    Nicht-Denken! Nicht-Erinnern!

    Ich lenke meine Gedanken nach vorn.

    Für jemand wie mich heißt das: An den morgigen Tag.

    Denn in meinem jetzigen Leben denke ich nur noch von Tag zu Tag.

    Ich plane meine morgige Wegstrecke

    Wie ich am effektivsten und ökonomischsten vor, während und nach dem Fußballspiel die Mülleimer abklappere.

    Nie hätte ich mir dies träumen lassen, in meinem früheren, vergangenen Leben.

    Dass ich mir einmal derlei Gedanken, derartige Pläne für meinen morgigen Tag machen würde.

    Aber heute sind es sehr wichtige Überlegungen.

    Zwanzig Euro würden es sicher werden.

    Zwanzig Euro.

    Wie achtlos ich früher mit einem Zwanzig-Euroschein umgegangen bin … Gedankenlos hatte ich ihn aus der Börse gezückt, hier und dort hingeworfen für die banalsten Dinge.

    Zwanzig Euro.

    Heute ist es Reichtum.

    Für mich, in meinem Leben.

    Sie ersparen mir drei Tage Betteln.

    Das Betteln ist die unterste Stufe.

    Tiefer kann man nicht sinken.

    Es liegt auf einer Ebene mit dem Verkauf des Körpers, wie es einige meiner jüngeren Kolleginnen tun.

    Kolleginnen …

    Wie sich das wandeln kann …

    Meine Kollegen und Kolleginnen in meinem früheren Leben …

    Und heute und jetzt …

    Platte machen sie, meine Kollegen heute.

    Wie ich.

    Ich erinnere mich an das erste Mal.

    Er war hart.

    Der erste Tag, an dem ich bettelte.

    Das Passivbetteln. Das Einfach-Da-Sitzen oder -Liegen.

    Tumb und äußerlich scheinbar teilnahmslos, vor dem Eingang eines Kaufhauses, einer Bank, einer Kirche, einem Bahnhof.

    Ein kleines Behältnis vor sich, eine Pappschachtel, einige kleine Münzen darin.

    Einige meiner Kollegen präferieren ein kleines Schild, beschrieben mit ungelenken Lettern, Hinweise gebend auf ihr Schicksal oder mit einer Bitte und Aufforderung versehen.

    Ich bevorzuge die stumme Variante, ohne Text.

    Die Blicke der Passanten.

    Die Blicke der Vorübergehenden, die achtlos vorbei eilen, mich gar nicht wahrnehmen, mich völlig übersehen.

    Dann die Blicke derer, die mich mustern, analysieren und nichts geben.

    Die Blicke derer, die mit steinerner Miene eine Münze in die Pappschachtel legen.

    Die Blicke, die verstohlen angstvoll umherblicken, als stelle es eine Peinlichkeit dar, mir einige Cents zu hinterlassen.

    Die bösen, die feindseligen Blicke, die mich aggressiv taxieren, die mir anklagend Schuld und Verantwortung für mein Dasein entgegen schleudern.

    Die mitleidigen, die traurigen Blicke derer, die mir einen Euro schenken oder zwei.

    Alle schmerzen.

    Alle diese Blicke gleichermaßen.

    Beim ersten Mal war meine Ausbeute minimal.

    Zwei, drei Euro an einem ganzen Nachmittag und Abend.

    Wahrscheinlich sah ich damals noch zu gut aus, es ist ja auch schon lange her.

    Zu gepflegt damals noch meine Haut, zu genährt mein Körper, zu normal meine Bekleidung.

    Wahrscheinlich hielten mich viele der Vorübereilenden gar nicht für einen Bettler, erkannten mein Ansinnen gar nicht, dachten womöglich, ich hätte mich, aus welchen Gründen auch immer, einfach kurz auf das Trottoir gesetzt.

    Heute ist es unmissverständlich.

    Heute erkennt mich jeder.

    Jeder sieht es sogleich und sofort: Ich bin ein Penner, ein Platte-Macher.

    Zurück zum Schnorren.

    Es besteht noch die Option des Aktiv-Bettelns.

    Eine ungleich schwere Übung.

    Das Ansprechen der Menschen, das Schnorren vor dem Kaufhaus, vor der Fußgängerampel, an der Bushaltestelle, in der Fußgängerzone.

    Es bedarf noch mehr Kraft.

    Noch schmerzhafter die Blicke, die Worte.

    Erst nach längerer Zeit auf Platte hatte ich mich dazu durchringen können.

    Aber irgendwann bestand einfach die pure Notwendigkeit dazu.

    Ich hatte und habe keine Alternative.

    Wie hatte ich mich in dieser Hinsicht eigentlich früher verhalten, in meinem früheren Leben?

    Hatte ich etwas gegeben?

    Einem Menschen auf dem Trottoir, einem schnorrenden Jugendlichen in der Straßenbahn?

    Was hatte ich damals gemacht? Gab ich etwas?

    Hatte ich sie nicht auch oft übersehen?

    Oder wollte gar nicht hinschauen?

    Ich verdränge die Gedanken.

    Nein, nein, nein!

    Nicht an früher denken!

    Schluss, aus, vorbei!

    Ich denke jetzt auch nicht mehr ans Betteln.

    Mit etwas Disziplin und Glück schaffe ich morgen vielleicht sogar dreißig Euro.

    Ich mümmle mich in den Schlafsack und versuche einzuschlafen.

    Ich höre die Ratten trippeln

    Spüre den zugigen Wind in der Halle.

    Rieche das alte Schmieröl.

    Ich versuche, an nichts zu denken.

    Es gelingt nur schwer.

    ***

    Ich erwache.

    Es scheint später Morgen zu sein, ich besitze keine Uhr.

    Sie ist entbehrlich auf der Platte.

    Ich schäle mich träge aus dem Schlafsack, recke mich, die Glieder steif, der Rücken schmerzend, vertilge den übrig geblieben Fleischwurstzipfel, trinke einige Schlucke aus der Wasserflasche, nehme die Zeitung, tappe aus der klammen Halle hinaus ins Freie, in Richtung eines dichten Dickichts aus wilden Sträuchern, weiche kleineren, auf dem Boden liegenden Schrottteilen aus, die mir im Dunkeln schon mehrfach zerschrammte Knie bescherten, und finde mein angestammtes Plätzchen, erkennbar an zahllosen Zeitungsseiten, teils lose, teils zu Konglomeraten zerknüllt.

    Mein Kackplatz.

    Ich gehe in die Hocke, entblößt.

    Scham ist unangebracht, zumindest an diesem verlassenen Ort.

    Scham ist ein Luxus, den man auf der Platte nicht mehr besitzt.

    Es ist kalt, ich fröstele.

    Ich drücke und schaue.

    Verrostete Metallgestänge, ineinander verquollen wie Hühnerknochen, weit aufragende Maschinenteile wie Saurierskelette aus dem Mesozoikum, überwuchert von hässlichem Gestrüpp.

    Es riecht nach einer Melange aus Öl und alten Exkrementen.

    Ich drücke und ich kann nicht.

    Ich drücke stärker.

    Erfolglos.

    Ich kehre zurück in die Halle und packe mein Bündel.

    Manchmal kann ich eine ganze Woche nicht.

    Nun ja, meine Ernährung ist nicht gerade ballaststoffreich.

    Reformhausprodukte stehen nicht auf meiner Einkaufliste.

    Ich mache mich auf den Weg und spute mich.

    Um kurz nach elf trifft der erste Zug am Hauptbahnhof ein, beladen mit Hundertschaften von Fans und potenziellen Leergutspendern.

    Es sind gut und gern fünf Kilometer bis dahin und ich bin nicht allzu schnell.

    Denn ich vermag ihn nicht abzulegen, meinen schlurfenden Gang mit gebeugtem Rücken, diesen eigentümlichen Platte-Laufstil.

    Früher … Ja, früher da hatte ich Sport getrieben.

    Tennis, Squash, sogar einen Halbmarathon hatte ich absolviert.

    Ja, früher … Da war ich noch gut in Schuss.

    Früher … Ja, das war eben ein ganz anderes Leben.

    Es ist mir, als betreffen meine Gedanken einen völlig anderen Menschen.

    Aber der war ich früher ja auch.

    Ein völlig anderer Mensch.

    Und in kürzester Zeit habe ich mich verwandelt.

    In den Platte-Menschen.

    Ich habe es geschafft, ich bin rechtzeitig.

    Gerade eben ist der Zug eingetroffen mit der für mich wichtigen Fracht.

    Die Vorhut der kostümierten Horden strömt grölend auf den weiten Bahnhofsvorplatz, skandiert Gesänge schmähenden Inhalts, teils auch obszönes Liedgut. Die Polizei, mit Helm und Schlagstöcken armiert, beobachtet aufmerksam.

    Auch ich werde von einigen Beamten taxiert, aber nur einen kurzen Augenblick, ich stelle keine Gefahr dar, das Hauptaugenmerk gilt den immer zahlreicher nachströmenden Fans, zu meiner Freude nahezu allesamt mit Flaschen und Büchsen bewaffnet.

    Früher, in meinem vergangenen Leben, hat mich kein Polizist kritisch beäugt.

    Heute werde ich oft eingehend gemustert.

    Und häufig nach meinen Ausweispapieren gefragt.

    Aber die habe ich.

    Eines der letzten Dinge, die ich aus meinem früheren Leben noch besitze.

    Eines der ganz wenigen Dinge, die ich aus meinem vergangenen Leben herübergerettet habe, hierher, in diese, meine Welt.

    Die anfänglich ungeordnete Herde formiert sich nun in eine beinahe militärisch anmutende Marschkolonne und setzt sich in Bewegung.

    Einige der Protagonisten fungieren als eine Art Vorsänger, die die Auswahl über das jeweils aktuelle Liedgut treffen.

    Passanten weichen ängstlich zur Seite.

    Ich bin ohne Sorge, ich bin ja erfahren mit dem Geschehen.

    Ich folge dem Tross im Abstand von einigen Dutzend Metern.

    Sind im Dreißigjährigen Krieg nicht auch die Ärmsten der Armen den Heeren in kurzem Abstand hinterhergelaufen, um deren weggeworfene Hinterlassenschaften aufzuklauben?

    So wie ich heute im Jetzt.

    Der Tross ist heute sehr ergiebig. Das Wetter und die Stimmung der Fans sind gut, der Durst groß.

    Die meisten Büchsen sammle ich von den Trottoirs, aus dem Rinnstein oder aus Hofeinfahrten.

    Die Kavalkade ist sich zu bequem, Mülltonnen oder Abfallkörbe zu bemühen.

    Rasch füllen sich meine Plastiktüten.

    Unsere symbiotische Tätigkeit entbehrt keineswegs einer gewissen Sinnhaftigkeit: Meine Sammlung ist von einem ökologischen Nährwert.

    Beziehungsweise erspart sie der kommunalen Stadtreinigung einige Arbeit.

    Einige Fans, die offensichtlich mit dem Marschtempo nicht Schritt halten konnten, fallen zurück.

    Sie brüllen mir Unverständliches zu.

    Ich zucke mit den Achseln.

    Nichts Ungewöhnliches für mich.

    Ich habe Übung.

    Mindestens zwei Dutzend Mal im Jahr tätige ich diesen Gang, folge dem lärmenden, tausendköpfigen Heerestross, sammle ihre gläsernen oder metallenen Hinterlassenschaften auf.

    Wie im Dreißigjährigen Krieg.

    Zwei aufgedunsene, bierselige Fans legen mir ihre entleerten Flaschen wie ordentliche Grundschüler direkt in die Tüten. Trotz ihrer fortgeschrittenen Trunkenheit haben sie den Zweck meines Daseins erkannt. Ein Dritter, der sich eben an einem Hauseingang einigermaßen schamlos erleichtert hat, ein unglaublich dicker, schnaufender Mensch mit feistem Gesicht, streckt mir eine volle, noch ungeöffnete Bierflasche hin.

    „Da! Die ist für dich, du Penner!"

    Die anderen grölen.

    Ich nehme sie wortlos.

    Früher, ja früher, also am Anfang meines jetzigen Lebens, zu Beginn meines Platte-Lebens, da wäre meine Reaktion noch anders ausgefallen.

    Zu stolz wäre ich damals noch gewesen, um von einem solchen Kerl bei solchen Worten eine Flasche anzunehmen.

    Ja. Damals wäre ich noch zu stolz dazu gewesen.

    Zu stolz …

    Ich muss schmunzeln, fast lachen.

    Stolz …

    Man verliert ihn hier im Rekordtempo.

    Er geht dahin wie bei galoppierender Schwindsucht.

    Er schmilzt weg wie ein Eis in praller Sonne.

    Auf der Platte vergisst man mit der Zeit, was dieser Begriff überhaupt bedeutet.

    Stolz …

    War ich es früher eigentlich gewesen, in meinem anderen Leben?

    Wahrscheinlich hätte ich Grund dazu gehabt.

    Aber war ich es?

    Ich weiß es nicht mehr.

    Es ist unwesentlich und ich denke nicht darüber nach.

    Zum Glück bin ich heute ohne Konkurrenz.

    Es gab auch schon kleinere Rangeleien, teils verbale, teils sogar haptische, mit Platte-Kollegen um eine Büchse oder eine Flasche.

    Ich folge dem Tross und konzentriere mich auf die Beute. Mit der langen Erfahrung meiner Tätigkeit macht man rasch diejenigen in der Gruppe aus, die ihre Flasche oder ihre Büchse gleich leer haben und bald wegwerfen werden.

    Die Tüten füllen sich.

    Der Himmel zieht sich zu, vor dem Stadion angelangt, kommt feiner Nieselregen auf. Die Marschkolonne zerstreut sich vor der von der Polizei abgesperrten Nordkurve.

    Ich stelle mich unter einen Stand und genehmige mir eine Currywurst.

    Es wird meine Hauptmahlzeit sein heute.

    Immerhin etwas Warmes.

    „Na, Vadder, dein Tipp für’s Spiel?" Ein akneübersähter jugendlicher Fan mit dem Schal der Gastmannschaft.

    Ich zucke nur mit den Achseln.

    Früher interessierte mich Fußball.

    Ich hatte sogar ein Abo für einen Sportkanal im Pay-TV.

    39 Euro hatte es gekostet. Monatlich.

    39 Euro …

    Ich schüttle unmerklich den Kopf.

    Zwei warme Winterpullover könnte ich mir heute dafür kaufen.

    Oder im Second-Hand-Shop eine wärmende, wasserdichte Jacke.

    Beides würde ich bald brauchen. Es wird kälter.

    Für Beides habe ich keine Mittel.

    Ein kurzer Gedankenblitz aus dem früheren Leben.

    In Gourmet-Restaurants war ich häufiger gewesen.

    Nicht der höchsten, aber schon der oberen Kategorie.

    300 Euro hatte man dort zu Zweit in wenigen Stunden eines Abends verfressen.

    Heute würde ich mich damit fast zwei Monate lang ernähren.

    Wahnsinn …

    Ich verdränge die Gedanken eilig.

    Nicht erinnern, nicht erinnern!

    Es ist früher Abend, ich kehre zurück in die Halle.

    Fast hätte ich gesagt: nach Hause.

    So falsch wäre es nicht.

    Es ist mein Refugium.

    Die allermeisten Nächte verbringe ich hier, abgeschieden von Menschen, abgeschieden von der Welt.

    Es ist ein Privileg, einen solchen festen Schlafplatz zu haben.

    Ein Privileg für Menschen wie uns, wie wir Platte-Macher.

    Vergangenen Winter verbrachte ich einige Nächte in der ‚Insel’, einem Obdachlosenheim.

    Es war unvermeidbar, es ging nicht anders.

    Es war einfach zu kalt gewesen, unter zehn Grad minus.

    Es ging nicht mehr, in meiner Halle mit der kalten Zugluft.

    Schreckliche Eindrücke und Erlebnisse, dort in diesem Asylum.

    Ich möchte nicht daran denken.

    Verdrängen, verdrängen!

    Eine Zeit lang war in sehr kalten Nächten das nahe gelegene Diakoniekrankenhaus eine gute Alternative gewesen.

    Ein Lieferanteneingang stand dort nachts offen.

    Ich nächtigte im zweiten Untergeschoss, in den Katakomben der Klinik, unter einem Treppenabsatz der Technikabteilung.

    Warm und behaglich.

    Aber es hatte sich rasch herumgesprochen unter uns Platte-Menschen, auch ohne Mobiltelefone und E-Mail verfügen wir über eine exzellente Kommunikation.

    Rasch fand sich an den klirrend kalten Abenden eine immer größer werdende Schar in den Kellern ein.

    Es fiel auf und die Klinikleitung verschloss fortan die Tür, ein Pförtner begab sich auf nächtliche Patrouillen und verscheuchte uns.

    Es ist ein weiter Weg bis hierher, in mein Refugium. Meine Füße schmerzen.

    Aber er ist der Mühe wert, dieser Weg.

    Denn ich bin hier ungestört, keine Menschenseele verirrt sich hierher.

    Und das ist gut.

    Ich setze mich auf meinen angestammten Platz in meiner Halle.

    Der stärker gewordene Regen tremoliert auf das beschädigte Flachdach.

    Kein weiteres Geräusch, nicht einmal die Ratten sind zu hören.

    Trotz leichter Bauchschmerzen trinke ich langsam eine Büchse Bier.

    Die Knie schmerzen von meinem langen Weg, ich bin durchnässt, ich wechsle Unterhemd und Pullover.

    Meine Garderobe ist übersichtlich, jedes Bekleidungsstück besitze ich genau zwei Mal.

    Den Gang in den Waschsalon genehmige ich mir äußert selten.

    Weil ich es nicht kann.

    35 Euro erbrachte das Heimspiel.

    Ein weit überdurchschnittliches Ergebnis.

    Ich spare für einen wasserdichten Anorak.

    Bislang muss ich mir mit gelben Müllsäcken behelfen, wenn es stark regnet.

    Ich schneidere mir daraus eine Art Gewand, das sogar mit einer Kapuze mein Haupt überdeckt und vor Nässe schützt.

    Kinder lachen über mich, wenn sie mich in diesem Aufzug erblicken.

    Manchmal auch Erwachsene.

    Ich sitze da und warte auf den späteren Abend, um dann einzuschlafen.

    Ich versuche, an Nichts zu denken.

    Nicht an das Jetzt, nicht an das Morgen, und schon gar nicht an früher.

    Es gelingt mir.

    Ich habe Übung darin.

    ***

    Ich fahre plötzlich aus bleiernem Schlaf hoch.

    Nach der Helligkeit zu urteilen, ist es schon später Morgen.

    Geräusche in der Halle.

    Keine Ratten.

    Ein Mensch.

    Ich höre Schritte.

    Sie sind schlurfend.

    Ich entspanne mich sofort.

    Es kann nur einer sein.

    Der einzige Mensch, den ich hier jemals in der Halle gesehen habe.

    Sie steht vor mir.

    Eine Papiertüte untergeklemmt, zwei Pappbecher Kaffee in den Händen.

    Ein Lächeln.

    Blanka.

    „Guten Morgen. Ich war beim Bäcker."

    Sie setzt die Kaffeebecher auf den ölverkrusteten Betonboden.

    „Ich hab’ Croissants mitgebracht."

    „Croissants?"

    Viel zu teuer.

    „Geklaut … Nur den Kaffee hab’ ich bezahlt."

    Ich versuche, eine strenge Miene aufzusetzen, muss aber schmunzeln.

    „Lass dich nicht erwischen ..."

    Blanka lächelt mir ihre braune Zähne entgegen, schüttelt den Kopf, der von einer Art Sturmhaube bedeckt ist.

    Der Kaffee ist überraschenderweise noch warm.

    Wir umarmen uns kurz.

    Sie riecht nach Urin.

    Pumakäfig.

    Aber es ist nicht wesentlich.

    Meinen eigenen Geruch nehme ich schon lange nicht mehr wahr.

    Wir frühstücken in meiner Halle.

    Unser Schmatzen hallt von den kahlen Wänden.

    Blanka hustet bellend.

    Sie sieht schlechter aus, fällt mir auf.

    Ihre kleinen, braunen Augen glänzen fiebrig.

    Die Furchen in ihrem Gesicht noch tiefer und fahler, ihr dunkelbrauner Pferdeschwanz, der unter ihrer Kopfbedeckung vorschaut, staubig und gräulich, ihre Finger zitternd wie bei einer alten Frau.

    Der Tribut der Straße.

    Blanka ist einer meiner wenigen Freunde in meinem diesseitigen Leben.

    Eine Freundin.

    Keine Partnerin.

    So etwas gibt es ohnehin selten auf der Platte.

    Ich mag sie, ich brauche sie, wir tun uns gut.

    Liebe ich sie?

    Schon lange liebe ich niemanden mehr.

    Habe diese Empfindung vergessen, verloren, hier draußen auf der Platte.

    Aber ich habe sie sehr gern, die liebe Blanka.

    „Träumst du?"

    Ich lächle oder versuche es.

    „’Bin noch nicht richtig wach ..."

    Ich erzähle von dem erfolgreichen, aber anstrengenden Flaschensammeltag beim gestrigen Fußballspiel.

    „Du solltest dir ein Antibiotikum holen. Dein Husten gefällt mir nicht.

    Wenn du willst, komme ich mit."

    Sie nickt nur.

    Doktor Cullmann, ein schon bejahrter niedergelassener Internist, ein Hausarzt der alten Schule, behandelt uns unentgeltlich.

    Uns.

    Uns Platte-Macher.

    Ohne Versicherungskarte. Ohne Papier zu erzeugen.

    Ein Robin Hood in der modernen Medizinwelt.

    Ein Arzt, der seine Berufsbezeichnung verdient.

    Fast immer, wenn ich in seiner Praxis war, traf ich Kollegen.

    Kollegen …

    Kollegen heißt in meinem jetzigen Leben: Platte-Macher.

    Solche wie ich, solche wie wir.

    „Ich bin noch müde. Darf ich noch ein Stündchen bei dir schlafen?" Ihre Stimme ist heiser. Sie legt ihren Kopf an meine Schulter.

    Klar. Ich habe heute keine Termine.

    Wir haben noch nie miteinander geschlafen.

    Aber oft nebeneinander.

    Haben uns gewärmt.

    Gewärmt an unseren Körpern, wenn es draußen kalt war.

    Gewärmt an unseren Seelen, wenn es innen in uns kalt war.

    Was ja meist immer der Fall ist.

    Ich merke, wie ich selbst auch langsam eindöse.

    Blanka beginnt zu schnarchen.

    ***

    Blanka fuhr ihren schwarzen Audi A8 in die erste Reihe auf den für sie reservierten Stellplatz.

    Führungskreis’ prangte auf dem silberfarbenen Schild davor.

    Hier parkte die erste Liga.

    Blanka blieb noch einen Moment im Wagen sitzen, zog ihren Lippenstift nach, dachte an die vergangene Nacht.

    Der Doktorand war fünf Jahre jünger als sie.

    Er war unerfahren, fast unschuldig.

    Er war schon gekommen, wenige Sekunden nachdem er in sie eingedrungen war.

    Mit brüchiger Stimme hatte er darauf entschuldigende Worte gestammelt, einem grünohrigen Pennäler gleich.

    Aber dann, nach einem weiteren Glas Veuve Cliquot, hatte sie ihn in den Mund genommen und zu neuer, jetzt anhaltenderer Standhaftigkeit verholfen.

    Und sie hat ihn brutal gevögelt.

    Sie ihn, nicht umgekehrt.

    Ihren ersten Orgasmus würde sie noch als gewöhnlich bezeichnen, aber dann …

    Als sie auf ihm ritt und sie ihm seinen Zeigefinger tief in ihren gespreizten Anus justierte, war es ekstatisch.

    Sie hatte sie nicht gezählt, ihre Explosionen.

    Ebenso wenig ihre gellende Schreie.

    Gegen drei Uhr morgens hatte sie den zum Ende hin leicht verstört wirkenden Jüngling nach Hause geschickt.

    Etwas bedröppelt hatte er dabei dreingeschaut.

    Übernachten kam nicht in Frage.

    Nicht mit so einem.

    Womöglich käme der Bursche noch auf den Gedanken, es könne sich Tieferes entwickelten.

    Er hatte sie befriedigt und das war das Ziel der Übung gewesen.

    Blanka erreichte ihre Ziele immer.

    Sie wollte gestern einen jungen Kerl zum Ficken und nahm sich einen.

    Sie war eine sehr attraktive Frau.

    Und ein Man-Eater.

    Blanka blieb noch immer in ihrem Wagen sitzen, schwelgte noch ein wenig in Gedanken.

    Sie hatte tief und entspannt geschlafen, hinlänglich befriedigt in ihrer exklusiven Penthousewohnung im teuersten Viertel der teuren Stadt.

    Früher, während ihres Betriebswirtschafts-Studiums, hatte sie bisweilen festere Partner.

    Aber nach zwei, drei Monaten war aus ihrer Sicht regelmäßig die Luft raus gewesen und sie schickte die Männer in die Wüste.

    Jetzt, in dieser Lebensphase, war für derlei Ballast partout kein Platz.

    Dafür bot ihr übervoller Terminkalender auch viel zu wenig zeitliche Valenz.

    Sie nahm sich, wenn es ihr Hormonhaushalt verlangte, was ihr diesbezüglich das Leben bot.

    Und das war überaus viel.

    Ihrer erotischen Erscheinung war bislang jedes männliche Opfer erlegen.

    Sie blieb noch immer sitzen, schaute in einen strahlend blauen Himmel.

    Sie war steil auf dem Weg nach oben.

    Nach ganz oben.

    Und wenn sie dort oben sein würde, dort ganz weit oben, dann wäre noch immer Zeit und Gelegenheit, sich nach einem festen Begleiter umzusehen, wenn ihr danach sein sollte.

    Oder alternativ so weiter machen wie bisher.

    Immer wieder mal eine durchvögelte Nacht.

    Man-Eater.

    Sie nehmen, die Männer, und dann nach Gebrauch wieder abgeben.

    Blanka bemerkte einen Krümel auf ihrem Businessjacket.

    Erst dann registrierte sie die beiden Wachmänner des Werkschutzes, die wohl schon geraume Zeit neben ihrer Fahrertür postierten.

    Sie stieg aus und grüßte flüchtig.

    „Ihre Schlüssel bitte", antwortete der Ältere von beiden, einem feisten Endfünfziger, dessen vom Bier aufgedunsener Körper in einer karnevalistisch anmutenden Uniform steckte.

    „Alle", ergänzte er. In seiner Stimme klang Bestimmtheit.

    „Wie meinen Sie?"

    „Ihre Schlüssel. Alle." Der Mann streckte seine akromegal große, fleischig unförmige Hand aus.

    „Warum in aller Welt sollte ich denn Ihnen …?"

    „Order der Geschäftsführung."

    „Aber ich bin in der Geschäftsführung. Ich bin im Führungskreis als ..."

    „Befehl von ganz oben. Ihre Schlüssel bitte."

    Der zweite, bislang schweigende Wachmann trat einen Schritt näher.

    Blanka erkannte ihn jetzt als den Leiter der Security.

    „Frau Ladowski, lassen Sie uns das unauffällig über die Bühne bringen. Ich habe den Auftrag, Sie zu begleiten. Gehen wir."

    In Trance erreichte Blanka mit ihren Aufpassern ihren weitläufigen Bürokomplex. Am Eingangstresen schauten die Empfangsdamen und Sekretärinnen beschämt zu Boden.

    Wissend.

    Fred, einer ihrer Assistenten, Blanka hatte ihn auch ab und an gevögelt, grüßte fahrig, offensichtlich ebenfalls bereits wissend, hetzte hektisch von dannen.

    Blanka sah sich um und verstand.

    Und wusste es jetzt auch.

    Es war aus.

    Mitarbeiter in Blaumännern entleerten bereits die Schubladen ihres Schreibtischs, trennten Persönliches von Firmeneigentum, kabelten Laptops ab.

    Ein junger Stutzer schraubte gerade ihr Namensschild von der Tür.

    Es war vorbei.

    ***

    Blanka nahm ihr Bündel und trat auf den Gang hinaus.

    Begleitet von zwei Beamtinnen.

    Es roch penetrant nach Bohnerwachs.

    Ihre Schritte hallten durch die weitläufigen Gänge des riesigen Gebäudes.

    Blanka trug ihre neuen, unifarbenen Kleider.

    Sie würde sie längere Zeit nicht mehr ablegen.

    Unter ihrem Arm Unterwäsche, zwei Handtücher und eine Zahnbürste.

    Ihre Habseligkeiten für die nächste, längere Zeit.

    „Bärbel", stellte sich ihre Mitbewohnerin vor.

    Sie schien Anfang vierzig.

    „Wie lange?"

    Die Tür ins Schloss, gefolgt von der Schließmechanik.

    „Zwei Jahre und vier Monate", murmelte Blanka.

    „Wegen was?"

    „Äh … Kompliziert ... Blanka schluckte, sah sich in der kahlen Zelle orientierend um. „Wie lange sind Sie schon hier?, fragte sie vorsichtig.

    „Sie? Mädel, wir duzen uns hier! Bärbel lachte höhnisch. „Oder bist du was Bessres? Ihre grauen Augen blickten listig. „Oder besser gesagt:

    Warst du was Bessres?"

    Blanka rannen Tränen.

    Es war das erste Mal in den turbulenten letzten Monaten, dass sie weinte.

    Es würde nicht das letzte Mal sein.

    „Komm ... Überraschend sanft nahm sie Bärbel in den Arm. „Die ersten Tage hier sind für alle die schlimmsten ...

    Sie hielten sich.

    Blanka erzählte.

    Von dem unterschlagenen Geld.

    Nur geborgt hatte sie es sich.

    Nur für passager, nur für kurze Zeit.

    Wie ein Darlehen …

    Es war absolut sicher.

    Das Geld und die Nummer mit der Aktienspekulation.

    Nach wenigen Monaten hätte sie es doch unauffällig rücktransferiert in die Firma, niemand hätte einen Schaden gehabt.

    Ja. Ganz bestimmt hätte sie das getan.

    Ja, wenn sich die Börsenkurse so entwickelt hätten, wie sie geglaubt hatte.

    Ja, und dann war das da noch mit den Steuern.

    Der Plan war doch genial und ganz sicher, wie hatten die das was bemerken können?

    Es war alles perfekt geplant.

    Und dennoch flog alles auf.

    Bärbel hörte geduldig Blankas stammelnden Worten.

    Nur Bruchstücke verstand sie.

    „Dass man dich wegen so was gleich einbuchtet ..."

    „Hm … Nun ja … Die Summe war halt ziemlich hoch ..."

    „Wegen was bist du denn hier?", fragt Blanka leise.

    „Totschlag. Acht Jahre. Mein Ex-Mann ..."

    ***

    Schon lange kenne ich Blankas Geschichte.

    Nicht jeder von uns erzählt aus seinem früheren Leben, von unseren Schicksalen, von unseren Niedergängen, von unseren Abstürzen.

    Ich auch nicht.

    Nicht einmal eine Handvoll Menschen wissen, wie und warum ich hierher gekommen bin.

    Hierher, nach ganz unten, auf Platte.

    Niemand tut es freiwillig.

    Nein.

    So sehr schön ist es hier nicht, auf Platte.

    Es gibt zwei Wege, die hierher, in dieses gänzlich andere Leben führen.

    Einen langsamen und einen schnellen.

    Den langsamen Weg gehen Menschen, dessen Leben ganz allmählich, sukzessiv bergab geht, Stück für Stück auseinander bricht.

    Langsam aber stetig.

    Langsam aber sicher.

    Blanka bestritt den schnellen Weg.

    Sogar den ganz schnellen.

    Von weit oben rasant schnell nach unten.

    Nach ganz weit unten.

    Knast, Zusammenbruch, Platte.

    Die Menschen auf diesem schnellen Weg, auf dieser rasanten Talfahrt haben es meistens schwerer, mit der Platte klarzukommen.

    Sie waren ihre früheren Lebensstandards zu gewohnt, die Erinnerung daran ist noch zu frisch.

    Ihr Sturz hatte eine zu hohe Fallhöhe.

    Da haben es die Kollegen auf dem langsamen Weg oft eine Spur leichter.

    Sie nähern sich erst allmählich, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe der Hölle.

    Dies gewährt einigen die Möglichkeit der Anpassung.

    Wenngleich nicht allen.

    Ich selbst hatte auch den schnellen Weg gewählt.

    Nein …

    Gewählt hatte ich ihn mit Sicherheit nicht.

    Das Schicksal hatte ihn für mich vorgesehen.

    Gewählt habe ich ihn fürwahr nicht.

    Blanka hustet bellend im Schlaf.

    Ich drücke sie etwas fester an mich.

    Es tut gut, einen Körper zu spüren.

    Selbst wenn er wenig ansehnlich ist und übel riecht.

    Aber es ist ein Mensch, der da an meiner Seite liegt.

    Ein Mensch, der mir wichtig ist, der mir sogar sehr wichtig ist.

    Und mir ist nicht mehr viel wichtig in diesem Leben.

    Ich betrachte die tief schlafende Blanka in meinen Armen.

    Es ist eine schöne Körperlichkeit, die ich erfahre.

    Denn sie ist ohne Falschheit.

    Sie ist anders, gänzlich anders als in Blankas früherem Leben.

    Wie auch in meinem.

    Ich versuche mir, Blanka in der Zeit vor der Platte vorzustellen.

    Es gelingt mir nicht angesichts des Anblicks von ihr.

    Was ein paar Jahre Knast und Platte aus einem Menschen äußerlich machen können …

    Von der Seele ganz zu schwiegen.

    ***

    Ich verabschiede mich von Blanka am Südbahnhof.

    Sie besteigt eine abfahrbereite Straßenbahn.

    Sie hat keine Fahrkarte und kein Ziel.

    Aktivschnorren.

    Sie wird jetzt durch den Gang gehen und rechts und links, vorne und hinten die Fahrgäste um einen Euro anpumpen.

    Der wesentliche Vorteil dieser Technik besteht darin, dass sich die Angesprochenen der Bitte nicht durch Flucht entziehen können.

    Wie in der Fußgängerzone oder auf dem Trottoir, wenn sie vor deiner ausgestreckten Hand hektisch davoneilen.

    Blanka ist langjährig erfahren.

    Sie weiß, wie sie dem Schaffner entgeht und Ärger meidet.

    Sie weiß, wen sie von den Gästen anschnorrt und bei wem sie das besser unterlässt.

    Solange es keine Unruhe gibt, tolerieren die Verkehrsbetriebe stillschweigend ihre Mitfahrt.

    Ich kenne auch Platte-Kollegen, die in der Straßenbahn Gedichte rezitieren, wie Eugen, der Baudelaire vorträgt, oder singen, wie Rosi, die Schlager aus den Siebzigern trällert, und die anschließend mit dem Bettelbecher reihum gehen

    Der Erfolg ist meist bescheiden.

    Tunlichst zu vermeiden sind Fahrten in der falschen Linie zur falschen Uhrzeit.

    Dann kann es gefährlich werden für Unsereins.

    Blanka weiß, auf welchen Strecken das seriöseste Klientel und das spendabelste Publikum fährt.

    Früher führte sie eine ganze Zeit lang akribisch Buch, welche Linien am ergiebigsten waren, generierte Statistiken, sortiert nach Strecke und Uhrzeiten.

    Als wären es Unternehmensbilanzen.

    Aber das waren sie ja auch.

    Zumindest im weitesten Sinne.

    Die Straßenbahn setzt sich ruckelnd in Bewegung.

    Ich blicke ihr nach.

    Blanka im letzten Wagen.

    Sie beginnt schon, durch die Sitzreihen zu gehen, die Hand mal nach rechts, mal nach links ausgestreckt. Die ersten Fahrgäste schütteln unwirsch den Kopf, verschanzen sich hinter Zeitungen und Smartphones.

    Ich sehe Blanka nach, sehe ihren schlurfenden Gang, ihren gebeugten Rücken.

    Wie eine alte Frau …

    Noch vor fünf Jahren, vor fünf lächerlichen Jahren …

    stand Blanka in einem anderen Leben …

    Attraktiv und begehrt war sie.

    Fuhr in edelsten Luxuskarossen …

    Nicht bettelnd in der Straßenbahn ohne einen Fahrschein.

    Früher war sie ganz oben, die Menschen buckelten vor ihr.

    Jetzt meiden sie die Zeitgenossen, rümpfen angewidert ihre Nasen, wenden sich peinlich berührt ab, tuscheln und lachen über sie.

    Früher jonglierte Blanka mit Millionen.

    Jetzt ist sie froh, pro Stunde Fahrt zwei, drei Euro zu ergattern.

    Früher genoss sie Canapés mit Kaviar und Austern fines de claire.

    Jetzt isst sie fette Currywürste und manchmal auch Abfälle.

    Früher befahl sie einen Stab Assistenten und Sekretärinnen, und auf einen kurzen Wink bekam sie, was sie wollte.

    Heute klaut sie zwei Croissants, weil sie unbezahlbar geworden sind.

    Früher nächtigte sie in den teuersten Hotels dieser Erde.

    Heute hat sie Schlafplätze unter der Brücke, am Kanal, im Obdachlosenasyl oder bei mir in einer abgewrackten verlassenen Industrieruine.

    Was für ein Lauf im Leben.

    Aber bei mir ist es ja nicht anders.

    Ich trotte in die Fußgängerzone.

    An einer verspiegelten Glasfassade wende ich rasch den Blick ab.

    Weg von dem Menschen, den ich da für einen Sekundenbruchteil erkennen musste.

    Ich erreiche einen meiner drei Stammplätze.

    Durch einen Vorbau überdacht und damit regengeschützt.

    Ich erschrecke.

    „He, das ist mein Platz hier!"

    Der junge Mann am Boden, noch ein Jugendlicher, schaut mich feindselig an. Er scheint aus Südeuropa zu sein, vielleicht auch ein Roma mit seinen blauschwarzen Haaren und seinem dunklen Teint.

    Er kauert auf meinem Platz, in seiner Pappschachtel vor sich befindet sich eine beträchtliche Anzahl an Münzen.

    Rasch mache ich den Grund seiner überdurchschnittlich hohen Einnahmen aus.

    Der Kerl wedelt mit einem entblößten Unterarmstumpf mit einer hässlichen Amputationsnarbe, reckt sie den Passanten entgegen wie eine obszöne Geste.

    Die fixen Plätze von uns Passiv-Schnorrern sind unter uns klar festgelegt.

    Das ist ungeschriebenes Gesetz.

    Und jeder hält sich dran.

    Und dieser Platz hier ist mein Revier.

    „Hast du mich nicht verstanden? Verstehst du kein Deutsch? Das hier ist mein Platz!" Ich versuche forsch und selbstbewusst aufzutreten.

    Wahrscheinlich klingt und wirkt es einfach nur lächerlich.

    „Verschwind! Oder ich hole Kollega! Viele Kollega, sehr vielllle Kollega!", zischt der Einhändige. Seine winzigen Augen funkeln bösartig.

    Ich wäge kurz ab.

    Es hat keinen Wert.

    Ich schenke seinen Worten Glauben.

    Sie würden kommen, die ‚Kollega’.

    Ohne Zweifel.

    Er wird Mitglied in einer organisierten Bettlerbande sein.

    Der arme Kerl wird einen Großteil seines Verdienstes abzuliefern haben.

    Hoffentlich ziehen sie bald weiter, in eine andere Stadt.

    Ich fluche und tappe weiter.

    Programmänderung.

    Aktivschnorren steht jetzt auf dem Plan.

    Es liegt mir nicht.

    Es ist so entsetzlich erniedrigend.

    Aber ich brauche das Geld.

    Ich formuliere höflich, drücke mich bei meinen Ansprachen in der Fußgängerzone gewählt aus.

    Distinguiert spreche ich die Menschen an, als sei ich ein Sommelier, der höflich nachfragt, ob er noch etwas Chateauneuf-du-Pâpe kredenzen darf.

    Es kostet Kraft, verdammt viel Kraft.

    Nicht nur physisch, denn man ist schließlich gezwungen, permanent agil auf den Beinen zu sein.

    Auch die Antworten, die Reaktionen der Menschen kosten mich Kraft.

    Egal ob sie wohlwollender oder ablehnender, ob sie freundlicher oder mitleidiger oder aggressiver, geistreicher oder tumber Natur sind.

    Manchmal übersteigt es meine Reserven.

    Nach zwei Stunden habe ich vier Euro fünfzig.

    Ich lege eine kurze Pause ein.

    Interessant, dass mich viele Zeitgenossen in den kurzen Dialogen duzen.

    Aber das erzählte ich ja bereits.

    Dennoch muss ich immer wieder darüber staunen.

    Früher, in meinem anderen Leben, machten manche Menschen sogar eine angedeutete Verbeugung, wenn sie mich ehrfurchtsvoll begrüßten.

    Aber damit ist’s vorbei.

    Mit den Verbeugungen.

    Und mit der Ehrfurcht erst recht.

    Ich mache weiter.

    „Geh’ doch was arbeiten, du fauler Penner!", schnauzt mich ein Pensionär an.

    Er trägt einen Schnurrbart, der vor siebzig Jahren in Mode war.

    Wahrscheinlich gleichsam wie seine politischen Ansichten.

    Eine junge Familie zerrt ihre beiden an mir interessierten Kleinkinder von mir weg.

    Als stelle ich eine Gefahr dar oder sei vom Aussatz befallen.

    Als könnten Parasiten auf sie überspringen.

    Wobei … das wäre nicht gänzlich ausgeschlossen.

    Zwei junge Asiatinnen photographieren mich kichernd.

    Ich scheine für sie eine Attraktion zu sein.

    Ich lege eine weitere Pause ein, meine Knie schmerzen.

    Es geht mir heute nicht gut.

    Relativ betrachtet.

    Denn gut geht es mir in diesem Leben nie.

    Aber heute ist es noch dunkler als sonst.

    Weiter.

    Ein halbes Dutzend Halbwüchsiger umringt mich.

    Allesamt smartphonebewaffnet und mit Markenkleidung drapiert.

    Reich und schön.

    Wie auf Kommando zücken sie ihre Geldbörsen.

    Alle zugleich nehmen eine Handvoll Münzen und werfen sie über den Asphalt.

    Dreißig, vierzig Münzen.

    Fast nur kupferfarbene Cents, wie mein geübtes Auge rasch erfasst.

    Aber immerhin.

    Es klimpert in alle Richtungen.

    Ich bücke mich, spüre den stechenden Schmerz in meiner Lendenwirbelsäule, klaube Münze für Münze auf, eile davonrollenden nach.

    Die Jungs grölen feixend.

    Wahrscheinlich filmen sie mich.

    Stellen mich ins Netz.

    „Hier gibt’s noch ein Nachschlag, Alter!"

    Erneutes Klimpern.

    Erneutes Bücken.

    Erneuter Schmerz in meinem Rücken.

    Und in meiner Seele.

    „Wie beim Tauben füttern!" Lachend zieht die Horde ab.

    Knapp zwei Euro.

    Ich musste es tun.

    Ich habe keine Wahl.

    Verdammt, wie tief bin ich gesunken.

    ***

    Ich sitze in einem der zahlreichen, kleinen Parks der Stadt.

    Eine milde Sonne scheint, es ist angenehm warm.

    Ich habe eine freie Bank gefunden.

    Mein Rücken schmerzt.

    Meine Seele heute noch mehr.

    Ich blicke auf flanierende junge Pärchen.

    Verliebte, Arm in Arm untergehakt oder sich an den Händen haltend, liebevoll lächelnd oder glücklich lachend, alle mit einem besonderen Glanz in ihren Augen.

    Liebe …

    Auch ich habe sie erlebt, habe sie gelebt, in meinem früheren, meinem vergangenen Leben.

    Eine Familie füttert Enten mit altem Brot an einem künstlich angelegten Tümpel.

    Die beiden Buben im Kindergartenalter lachen fröhlich, ihre jungen Eltern betrachten sie glücklich.

    Vertraute Bilder.

    Auch ich habe es erlebt.

    Michelle und Rebecca.

    Sie lässt sich heute, an diesem melancholischen Tag, mit keiner Kraft der Welt verdrängen, die Erinnerung an damals.

    Wie glücklich wir vier waren …

    Meine beiden kleinen Prinzessinnen …

    Wo mögt ihr heute sein? Wie mag es euch gehen?

    Denkt ihr ab und zu noch an mich?

    Und wenn, wie denkt ihr über mich?

    Fragt ihr euch, wo ich bin, wie ich lebe?

    Ich liebe euch, meine kleinen Prinzessinnen, auch wenn ihr heute ja schon fast erwachsen seid.

    Eine Zeit lang hielt ich euch an der Hand.

    Immer werde ich euch im Herzen halten.

    Trotz allem, was geschehen ist.

    Trotz dieser unermesslichen Grausamkeiten und Fürchterlichkeiten, die das Schicksal für uns vorgesehen hat.

    Ich liebe euch, trotz allem, was passiert ist.

    Ich balle die Fäuste zusammen, die schmutzigen, langen Nägel bohren sich in meinen Handballen.

    Er schmerzt so sehr, der Anblick dieser glücklichen Menschen hier.

    Sie martern, die Erinnerungen an früher.

    Klara.

    Ihr Bild vor geistigem Auge.

    Ich schüttle mich, zucke am ganzen Körper, werfe die Gedanken ab, schiebe sie weg, weit weg.

    Denn sie zerstören mich, diese Erinnerungen.

    Sie zerstören den letzten Rest von mir, das wenige, das noch von mir übrig geblieben ist.

    Nur Blanka und einigen ganz wenigen Plattekollegen, einer an einer Hand abzählbaren Anzahl, habe ich von meinem früheren Leben erzählt.

    Und wie es ein jähes Ende fand, dieses unbeschwerte, glückliche Leben.

    Wie ich im Sturzflug auf die Platte aufschlug.

    Ich hatte den schnellen Weg gewählt, nicht den sukzessiv langsamen.

    Oder besser gesagt: Das Schicksal hat ihn für mich gewählt.

    Nur wenige von uns Platte-Machern erzählen von früher, von vorher.

    Manche, wenn sie betrunken sind oder im Delir.

    Wie Meinrad, einer meiner wenigen Freunde.

    Freunde …

    Was hatte ich früher für einen Freundes- und Bekanntenkreis …

    Wo sind sie geblieben?

    Entschwunden sind sie, in Luft aufgelöst haben sie sich.

    Auf einen Schlag waren allesamt verschwunden, als es passiert ist.

    Als ich aus der Gesellschaft weggespült wurde.

    Haben mich fallen lassen.

    Allesamt.

    Ich vermisse dich, Blanka.

    Wie schön wäre es, wenn du jetzt neben mir säßest, hier auf dieser Bank.

    Du fühltest, dass es für mich heute ein dunklerer Tag ist.

    Ein noch dunklerer Tag als ohnehin.

    Du würdest mich in den Arm nehmen und läsest meine Gedanken.

    Das würde mir jetzt gut tun.

    Wenn du einfach da wärst.

    Die junge Familie am Tümpel isst Obst.

    Der ältere der beiden kleinen Buben kommt etwas zögerlich auf mich zu.

    „Möchten Sie auch einen Apfel?"

    Seine kleine Hand streckt mir einen roten Boskoop entgegen.

    Ich danke und lächle.

    ***

    Ich betrat den Hof.

    Vorsichtig, achtsam.

    Er war mir noch fremd.

    Erst mit der Zeit würde er mir vertraut werden.

    Sehr vertraut.

    Die Männer standen in kleinen Gruppen.

    Ausnahmslos Männer, keine Frauen.

    Alle gleich bekleidet.

    Bis auf die Wärter, die trugen eine dunkelblaue Uniform.

    Die Männer in den kleinen Gruppen tuschelten leise.

    Ich stand unschlüssig, ohne Ahnung, was mit der Zeit des Hofgangs anzufangen sei.

    Es begann, leicht zu nieseln.

    Ich stellte mich unter das Vordach eines der Gebäude an der Längsseite des Hofs.

    Ich schaute durch die staubigen Fenster nach innen.

    Eine Werkstatt mit mehreren Drehbänken, es roch nach Schweiß und Schmierfett.

    „Hey du, komm mal rein!" Ein herkulischer Riese mit absonderlich tätowierter Glatze.

    Den Bruchteil eines Augenblicks später packten sie mich.

    Sie hatten keine Antwort erwartet.

    Drei, vier Kerle, ich konnte sie nicht sehen, allesamt hinter mir.

    Sie verrenkten mir meine schmächtigen Arme nach hinten, es schmerzte bestialisch, jemand drückte mir die Kehle zu.

    Prankenhände rissen mir meine Anstaltshose herunter.

    Das ging sehr schnell.

    Wir hatten hier ja keine Gürtel.

    Sie bogen meinen Rumpf nach vorn wie bei einer absurden Gymnastikübung.

    Mein Kopf schlug dabei gegen eine der Drehbänke, Blut rann die Stirn herab, vermischte sich mit meinem Angstschweiß.

    Noch immer drückte die Hand unbarmherzig auf meine Kehle.

    Einer der Kerle stand am Fenster, blickte nach draußen auf den Hof, das sah ich.

    Dann nickte er.

    Kein Schließer in Sicht.

    So nannten sie hier die Justizvollzugsbeamten.

    Ich schaute auf den verdreckten Boden.

    Die Hand an der Kehle lockerte ihren Griff, ich konnte wieder Luft holen, fühlte aber sogleich eine andere Hand auf meinem Mund.

    Dann spürte ich einen bestialischen Schmerz.

    Nicht von außen, nicht von einem Hieb oder einem Stich.

    Innen fühlte ich, unfassbar tief in mir.

    Es zerriss mir die Gedärme.

    Es war nicht nur ein Gefühl oder ein Eindruck.

    Ein diabolisch scharfer Schmerz im Innersten meines Körpers ließ mich aufstöhnen.

    Die Hand presste fester auf meinen Mund.

    Kein Laut kam mehr hervor.

    Erneut schlug er zu, der bestialische Schmerz in meinem Leib.

    Wieder und wieder.

    Mir war zunächst unklar, was passierte.

    Zumindest wusste ich es nicht … genau.

    Man rammte mir etwas in den Anus.

    Etwas sehr Großes.

    Den Boden einer Flasche?

    Nein …

    Hier gab es ja gar keine Flaschen, in der JVA.

    Hatte ich ganz vergessen.

    War ja erst seit wenigen Tagen hier, meine Gedanken waren noch in den Kategorien des normalen Lebens verhaftet.

    Des normalen Lebens, das jetzt für mich ein Ende genommen hatte.

    Ein jähes Ende.

    Die Riese mit der tätowierten Glatze grunzte.

    Es war der Riese, das erkannte ich an der Stimmlage.

    Seine Kumpanen begannen, ihn mit leisen, aber entschlossenen Stimmen anzufeuern.

    Ihre Griffe an meinem Körper wurden fester.

    Der Schmerz in meinem Unterleib immer stärker.

    Die Hand auf meinem Mund wechselte wieder an die Kehle, unterdrückte meinen Schrei.

    Das Stoßen wurde stärker und schneller.

    Dann …

    Ein Gefühl, als hätte ich Durchfall.

    Unkontrollierbaren Durchfall.

    Es lief aus mir heraus, unhaltbar.

    Ein Bach.

    Ich vermochte es nicht zurückzuhalten, es plätscherte einfach auf den Boden, ich konnte es nicht sehen und wollte es nicht sehen.

    Der Griff an meiner Kehle lockerte sich kurz, für einen Atemzug und presste dann wieder zu.

    Dann ein neuer Schmerz.

    Der nächste.

    Der nächste Schmerz, der nächste Kumpan.

    Er ist …

    kleiner.

    Und er ist schneller fertig.

    Dann der nächste.

    Dann der übernächste.

    Dann …

    Ihre Griffe lockerten sich, ich klappte zusammen.

    Ende.

    Sie zerstreuten sich.

    Ich blickte auf den Boden.

    Eine Melange aus Rot und Weiß und Braun.

    Ja.

    Rot, Weiß und Braun.

    Und ich wusste, für welche Substanz jede Farbe stand.

    Ich kämpfte mich hoch, trat gebeugt in die Tür zum Hof.

    Der Riese stand plötzlich vor mir, packte mich mit seiner Pranke im Gesicht. Sie erschien mir so groß wie ein Tennisschläger. Seine Augen funkelten glänzend. „Und Arno? Hat es dir gefallen?" Ein höhnisches Lachen.

    „Und das nächste Mal, Arno, ..." Sein Lächeln erstarb abrupt.

    „... wirst du einen Steifen haben, wenn ich dich ficke! Ist das klar?" Er griff mir in meine Hose, umfasste mein Glied und zog daran wie an einer Reißleine.

    Es war wie ein Elektroschock.

    Sofort griff mir eine Kumpanenhand wieder an die Kehle.

    Der Riese riss jetzt noch brutaler an meinem Glied.

    „Das nächste Mal will ich, dass du geil bist dabei", flüsterte er mir ins Ohr.

    „Das will ich. Und ich krieg hier alles, was ich will. Capisco?"

    Dann versetzte er mir einen Schlag auf mein rechtes Auge.

    Es wurde Nacht.

    Sie rappelten mich hoch, mein Kopf dröhnte, eine Glocke läutete.

    Ende des Hofgangs.

    „Ein Wort und du bist tot", zischt mir jemand ins Ohr.

    Sie stützen mich, stellen mich in die Reihe, mühsam verschloss ich meine Anstaltshose.

    Ich konnte kaum gehen.

    Ein bestialischer Schmerz in meinen Eingeweiden.

    Ich spürte, wie es wieder hinten aus mir herauslief.

    Ich blickte nach unten und sehe, dass sich meine Hose auch vorn verfärbte.

    Rot.

    Aus meinem Glied.

    Ich erreichte meine Zelle.

    „Was ist mit deinem Auge passiert?" Sergej, mein Genosse.

    Saß wegen Raubmord.

    „Sie haben mich ..."

    Sergej nickte wissend. „Ludger. Das war Ludger aus Block 5. Böse … Sehr böse Sache ..."

    Sergej drückte mich kurz an sich.

    „Sie haben dich besonders auf dem Kieker. Du bist neu hier. Und du kommst aus anderer Welt. Nicht aus ihrer Welt. Und du bist schwach ..."

    Ich legte mich auf die Pritsche und weinte.

    Schweißgebadet wache ich auf.

    Vielleicht hatte ich geschrieen.

    Aber das hört hier niemand.

    Auch wenn es noch so laut gewesen wäre.

    Ein Albtraum.

    Ein mir sehr vertrauter.

    Er ist keine Fiktion.

    Ich rapple mich aus meinem Schlafsack, strecke meine steifen Glieder.

    Ich betrachte den ölverschmierten Betonboden meiner Halle.

    Er riecht genauso wie dort …

    Wie dort, beim ersten Mal …

    Wie oft mögen sie es gemacht haben?

    Besser nicht darüber nachdenken.

    Einige Male war es auch in der Dusche geschehen.

    Die anderen Häftlinge waren Zeugen.

    Jeder von ihnen war froh, dass er nicht …

    Nie hatte ich versucht, es zu melden, es anzuzeigen bei den Beamten, den Schließern.

    Nicht einmal nachgedacht hatte ich darüber, keine Sekunde.

    Andere Gesetze herrschten dort.

    Gesetze, die ich anfangs nicht kannte.

    Gesetze, die keiner draußen kennt.

    Draußen, im normalen Leben.

    Ich spüre einen brennenden Schmerz in meinen Eingeweiden.

    Ist es ein Pawlowscher Reflex?

    Bestimmt meine Verdauungsprobleme …

    Ich verdränge.

    Verdränge die Gedanken an Geschehenes, verdränge meinen Schmerz.

    Den Schmerz meiner Gedärme, den Schmerz meiner Seele.

    Nur bedingt gelingt es mir.

    ***

    Ich warte auf Blanka.

    Es ist zehn Uhr am Vormittag, ich stehe am ‚Sebastians-Grill’ am Rathausplatz.

    Einer unserer Treffpunkte.

    Sebastian spendiert mir eine Currywurst.

    Ein reichlich verschrumpeltes, wahrscheinlich vom gestrigen Tag übrig gebliebenes Exemplar auf dem fettigen Grill.

    Es ist nett von ihm.

    Sebastian mag uns.

    Ich tauche die kleinen

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