Die Vermessung von Architektur: Von Pareto, Parmenides und dem schönsten Weihnachtsbaum
Von Ralph Heiliger
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Die Vermessung von Architektur - Ralph Heiliger
Ralph Heiliger
Die Vermessung von Architektur
Von Pareto, Parmenides und dem schönsten Weihnachtsbaum
Mein Dank geht an das Bistum Münster und die GALERIA Kaufhof
Ralph Heiliger
Die Vermessung von Architektur
Von Pareto, Parmenides und dem schönsten Weihnachtsbaum
Alle Rechte vorbehalten!
© Frühjahr 2016
Impressum
ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30
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Tel.: (0 22 46) 94 92 61
Fax: (0 22 46) 94 92 24
www.ratio-books.de
eISBN 978-3-939829-76-8
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Inhalt
0 „Was wollen Sie werden? Vermessungstechniker?"
1 Warum werden Gebäude vermessen?
1.01 Bauaufmaß zwischen Tradition und Moderne
1.02 Ein neues Leistungsbild entsteht
2 Mangelt es an Bestandskenntnis?
2.01 Gutes Planen braucht gute Grundlagen
2.02 Wollen Architekten gut planen können? Können sie wollen?
3 Wie geht das: vermessen?
3.01 Wieso überhaupt vermessen?
3.02 Im Dreischritt: Messen, Denken, Zeichnen
3.03 Messen
3.04 Denken
3.05 Zeichnen
3.06 Prüfen: Q wie Qualität
4 Über den Zweck hinaus
4.01 Darf es etwas mehr sein?
4.02 Was ist mit Fortschritt?
5 Die ewigen Gegner
5.01 Streit der Intellektuellen
5.02 Einfalt der Akteure
6 Entgegen aller Theorie
6.01 Sich finden
6.02 Sich entscheiden
7 Personenregister
8 Literaturverzeichnis
0 „Was wollen Sie werden? Vermessungstechniker?"
In meiner Familie finden sich Maurer, Schreiner, Kranführer, Heizungsmonteure. Nahezu unvermeidbar wurde mein Interesse schon in jungen Jahren aufs Bauen gelenkt. In den Schulferien jobbte ich am Bau. Ich war vierzehn Jahre und verdiente 5 Mark die Stunde, das sind rund 2,50 Euro pro Stunde. Viel nutzen konnte ich dem Bauunternehmer nicht. Ich konnte Schaltafeln saubermachen, Nägel aus Brettern ziehen, kehren, den Ofen in der Bude am brennen halten und mittags einkaufen gehen. In den nächsten Ferien durfte ich dann schon am Kübel stehen, wenn die Fracht des Betonmischers vorsichtig hineingeschüttet und mit dem Kran befördert wurde. Für mich war das alles hochinteressant. Ich sah, wie ein Bauwerk wuchs, wie gewendelte Treppen geschalt wurden, wie man Stahlmatten verdrahtete und Decken betonierte. Es waren überaus lehrreiche Ferienjobs.
Mathematik, Physik, Deutsch, Kunst und Erdkunde – das waren die Schulfächer, die den Beruf des Vermessungstechnikers in mein Blickfeld rückten. Mein Berater beim Arbeitsamt fragte mich entsetzt: „Was wollen Sie werden? Vermessungstechniker? In ein paar Jahren wird alles vermessen sein, dann sind Sie arbeitslos!" Das war 1975. Er sagte das nicht, weil er den Beruf nicht mochte. Er sagte es aus Überzeugung.
Ich bin dankbar, dass ich dennoch diesen Beruf ergriffen habe. Spannende Jahre sollten folgen: In den 1970er Jahren wurden die mechanischen Instrumente elektronisch, in den 1980ern startete das Global-Positioning-System (GPS). Mit dem Fall der Mauer und der Europäisierung bekamen wir neue Koordinatensysteme: Die Universal-Transversal-Mercatorprojektion (UTM) löste das Gauß-Krüger-Koordinatensystem ab, und statt über Normal-Null (NN) messen wir heute über Normal-Höhen-Null (NHN).
Mein Lehrherr hatte einen richtigen Computer: die Olivetti P203. Man saß an ihm wie an einer Bügelmaschine, die Beine unter der Tastatur, oberhalb die Schreibmaschine, rechts der Magnetkartenleser, dessen Karten so groß wie ein längs gefaltetes A4-Blatt waren. Zwei Jahre später investierte er in einen neuen Computer: die Olivetti P6060. Das war ein Geschoss! Interner Speicherplatz: 8 Kilobyte. 1982 kam der legendäre C64 auf den Markt, und mein Freund Norbert Haas und ich programmierten tage- und nächtelang: Primzahlengenerator, Flugbahnberechnung, Fahrsimulation. Wir programmierten in Maschinensprache. Deswegen waren wir auch enttäuscht, als die ersten IBM-PCs herauskamen: Sie stellten sich als wahre Schnecken gegenüber unserer Maschine heraus.
Die 1980er Jahre waren dem Studium der Geodäsie gewidmet – der Wissenschaft von der Vermessung der Erde. An der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn studierte ich das Theoriengebäude, in das ich das Praxiswissen einordnen und vertiefen konnte. Photogrammetrie und Städtebau vereinigten sich mit der Programmierung.
Zu jener Zeit erreichte das Thema Denkmalschutz unsere Gesellschaft. Mit den Denkmalschutzgesetzen enden nach und nach die Abbrüche und Totalsanierungen historischer Bauten. Das Erhalten denkmalgeschützter Gebäude, aber auch das Bauen im gewöhnlichen Bestand nahm allmählich zu.
Anfang der 1990er Jahre löste das rechnergestützte Zeichnen Tusche und Lineal ab. Der Bedarf der Architekten nach digitalen Bestandsdaten als Planungsgrundlage trat offen zutage. Es war diese Nachfrage, die zur Gründung des Büros IngenieurTeam2 führte. Unser Angebot: Wir vermessen Bauwerke und liefern digitale Bestandspläne. Unsere Aufmaßsoftware programmierten wir selbst. So stand die „2" im Firmennamen von Beginn an für zwei Geschäftsfelder: Architektur-Vermessung und Software-Entwicklung.
Warum schreibe ich? Ein Buch muss sich rechtfertigen. Seit der Firmengründung im Jahre 1991 konnte ich ein Vierteljahrhundert Erfahrungen sammeln. Die Vermessung von Architektur gilt nach wie vor als schwer vermittelbare Leistung. Da vielfach Baubestand vermessen wird, der unter Denkmalschutz steht, entbrennt unter den Beteiligten – Bauherr, Projektsteuerer, Denkmalpfleger, Bauforscher, Architekt, Vermessungsingenieur – immer wieder Streit über die richtige Art und Weise des Bauaufmaßes. Dabei steht die Praxis des gewöhnlichen Bauaufmaßes der Theorie des denkmalpflegerischen Bauaufmaßes anscheinend unversöhnlich gegenüber. Doch das Bauaufmaß ist schon längst kein ausschließliches Metier mehr der Denkmalpfleger und Bauforscher. Nach wie vor spielen sie eine Rolle, aber Maßstäbe in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht setzen andere.
Mit Beginn des 21. Jahrhunderts setzte eine Digitalisierungswelle ein, die ihresgleichen sucht. Das Projekt „Neues Kommunales Finanzmanagement", mit dem die Kommunen von der Kameralistik zur doppelten Buchführung wechselten, führte zu einer bis dahin nicht gekannten Digitalisierung von Gebäudedaten, oft ohne Rücksicht auf ihre Verwendbarkeit in der Bauplanung. Das Vorgehen hatte kaum etwas mit dem gegenwärtig propagierten Begriff der Nachhaltigkeit zu tun. Zudem bemerkte man einen kulturellen Werteverfall, dessen Wirkung sich beispielsweise in der Auflösung der echten Kooperation, des Für- und Miteinanders von Auftraggeber und Auftragnehmer zeigt. Was bleibt, sind nüchterne Ausschreibungen, in denen der Billigste den Zuschlag erhält. Selbst über Jahre gewachsene Beziehungen lösen sich auf bei der Suche nach dem billigsten Angebot.
Wenn ich über diese Dinge berichte, erzähle ich nichts Neues. Ich versuche lediglich, die persönlichen Erfahrungen zu ordnen, sie in einen Zusammenhang zu stellen. Er mag ungewohnt erscheinen; ich versuche, die Sicht auf die Dinge mal anders zu wählen. Das ist alles.
Den Auftraggebern möchte ich Mut machen, die Leistung Architektur-Vermessung in Anspruch zu nehmen. Ich möchte Großimmobilienbesitzer wie Kommunen, Kirchen und auch Private auf die Möglichkeit der werterhaltenden, aber auch wertsteigernden Bestandsdaten hinweisen. Selbstverständlich sind die in dem Metier Tätigen angesprochen: Denkmalpfleger und Bauforscher, Restauratoren, Architekten und Vermessungsingenieure, eigentlich alle Ingenieure, gleich welcher Fachrichtung, die sich mit dem Bauaufmaß im engeren oder weiteren Sinn befassen oder deren Leistung auf einem Bauaufmaß aufbaut.
Nahezu fünfzehn Jahre hat es gedauert, bis mir dieses Buch druckreif erschien. In dieser Zeit bin ich fast verzweifelt. Kaum hatte ein Jahr angefangen, war es schon wieder vorbei. Und mein Manuskript hatte kaum an Seiten zugenommen. Insofern gilt mein Dank der Trägheit des Systems, der Standhaftigkeit der Bauforscher in ihren traditionellen Anschauungen, der dauerhaften Blindheit mancher Vermessungskollegen gegenüber dem Wesen des Bauaufmaßes. Ich verdanke dieses Buch allen Widersachern. Ohne die vielen Gesprächspartner, die sich unbeeindruckt von der Bedeutung qualitativ stimmiger Planungsgrundlagen zeigten, und die mir zu verstehen gaben, dass andere Gedanken für Entscheidungen ausschlaggebend sind, wäre mir manches unbewusst geblieben. Also danke ich all jenen, die mir den Kontrast vor Augen geführt haben, der zwischen meiner Vorstellung und der Vorstellung anderer liegt und der nicht wegzudiskutieren ist. Jeder hat auf seine Art Recht.
Mein Ziel ist erreicht, wenn unser sorgloser, oft unbedachter Umgang mit Bestandsdaten ein wenig infrage gestellt wird, wenn sich ein Gefühl dafür entwickelt, welch positive Wirkung mit Bestandsdaten einhergeht, die sich auf die reale Welt beziehen, und welch großartige Chance in der Informationsnutzung steckt. Mut gehört dazu, dies zu wollen.
Mutig waren vor allem zwei Auftraggeber: das Bistum Münster und GALERIA Kaufhof. Ihnen verdanke ich vieles!
Bonn, im März 2016
Ralph Heiliger
1 Warum werden Gebäude vermessen?
Von den Grundlagen für das Planen im Bestand
1.01 Bauaufmaß zwischen Tradition und Moderne
„Darf ich Sie mal fragen, was Sie hier machen?"
„Wir vermessen das Gebäude."
„Aha. Und wofür braucht man das?"
„Das Haus soll umgebaut werden, und für die Planung braucht der Architekt Bestandspläne."
„Aber es hat sich doch nichts verändert! Das Haus steht doch immer noch so, wie es gebaut wurde."
Im Witz gelingt es uns regelmäßig, den gegenteiligen Standpunkt einzunehmen und uns dabei köstlich zu amüsieren: „Ich bin außen, ruft der Mathematiker, dem die Aufgabe gestellt ist, eine möglichst große Fläche mit einem Draht gegebener Länge abzustecken, und er – statt diese Fläche, wie jeder normal denkende Mensch es tun würde, im Kreis oder als Vieleck im Gelände zu markieren – sich selbst im Draht einwickelt und seine Position schlicht als „außen
deklariert. Unerwartet und voller Scharfsinn trifft uns diese Antwort. Doch im gewöhnlichen Alltag fällt es uns schwer, einen Sachverhalt einfach mal umzudrehen: Warum wird dieses Haus vermessen?
Es fehlt das Quäntchen Heureka: Nicht das Gebäude ist der Grund für die Vermessung; es ist der einstige Plan des Gebäudes. Der hat sich vielleicht auch nicht verändert. Aber es wurde oft nicht so gebaut wie geplant, weil vielleicht andere Verhältnisse beim Bau vorgefunden wurden als bei der Planung angenommen. Zum Beispiel die Grundstücksbreite der Baulücke, die nun doch kleiner ist als im Kataster angegeben, oder der archäologische Fund, der rasch eine Änderung des Kellers erforderlich machte. Allzu oft werden solche Spontanänderungen im Plan nicht nachgeführt. Die Planung passt dann nicht mehr mit dem tatsächlich Gebauten überein. Und sobald das Haus steht, interessiert sich ohnehin niemand mehr dafür.
Nicht vergessen, sondern archiviert bleiben die Pläne in den Bauaktenarchiven der Städte, Kreise und Gemeinden. Sie gibt es seit dem 19. Jahrhundert.¹ Mit jedem Bauantrag werden Pläne, Baubeschreibung, Statik und Lageplan der zuständigen Baubehörde zur Genehmigung eingereicht. Als Nachweis des Genehmigungsbescheides verbleiben sie im Bauaktenarchiv. Sie dokumentieren die beabsichtigte Planung, also das Bauvorhaben vor Baubeginn. Ein Nachführen der Pläne auf den Stand nach dem Bau ist nicht vorgesehen, ist aber auch nicht Aufgabe der Baubehörde. Und so sind amtlich archivierte Pläne für anstehende Sanierungen oder Umbauten mit Vorsicht zu gebrauchen. Nur in seltenen Fällen repräsentieren sie das tatsächlich Gebaute.
Da kann der Bauherr schon besser vorsorgen. Sein Auftrag an den Architekten umfasst in der Regel mehrere Leistungsphasen: Sie reichen von den ersten Gesprächen, in denen gemeinsam die Vorstellungen und das Machbare diskutiert werden, über die Phase des Entwerfens und Planens bis hin zur Ausführung des Bauvorhabens. Die letzte Phase ist der Dokumentation gewidmet. Hier erhält der Bauherr vom Architekten den letztgültigen Stand der Planung. Damit wäre es doch eigentlich getan, und der Bauherr könnte bei Umbauten auf diese Pläne zurückgreifen. – Ganz so ist es leider nicht. Denn die Dokumentation bezieht sich auf den letztgültigen Stand der Planung, nicht auf das tatsächlich Gebaute. Dieser feine Unterschied kann im Falle eines Umbaus zu heftigen Missverständnissen führen.
Manche Archivpläne erwecken zudem den Eindruck, als zeigten sie ein ganz anderes Gebäude als den Altbau, um den es geht. Dann nämlich, wenn Umbauten, Erweiterungen und Teilabrisse das Gebäude so in seiner Struktur verändert haben, dass man den Ursprungsbau kaum noch herauslesen kann. Wind und Wetter tun ihr Übriges, der Konstruktion beispielsweise historischer Fachwerkbauten zuzusetzen. Balken und Decken können sich unter der Last wechselnder Nutzungen verformt haben. Selbstverständlich zeigen Pläne, so denn überhaupt noch welche vorliegen, diese schleichenden und oftmals verborgenen Veränderungen nicht. Wie soll der Architekt dann zuverlässig planen? Wie soll der Statiker seriös berechnen, ob das Tragwerk hält? Ohne Kenntnis des aktuellen Zustandes können wir schlecht planen. Unser Tun ist vom Glauben an das Richtige geprägt, nicht jedoch von der Gewissheit, auch das Richtige zu tun.
In den 1980er Jahren nahm das Bauen im Bestand in Deutschland allmählich zu. Die Neubauphase der Nachkriegsjahre war zu Ende. Das Interesse an historischen Bauten stieg. Immer häufiger wurden Altbauten saniert. Anfang der 1990er Jahre betrug der Anteil des Bauens im Bestand allein im Wohnungsbau in den alten Bundesländern fast sechzig Prozent.² Heute hat allgemein das Bauen im Bestand den Neubau überholt.
Bestandskenntnis bildet die Voraussetzung für Entscheidungen, Planungen und Folgenabschätzung: Wie können wir die Grundrissteilung optimieren, so dass sie einer modernen wirtschaftlichen Nutzung entspricht? Welche Mauern können wir abreißen, welche müssen stehen bleiben? Was muss aus statischen Gründen konstruktiv verstärkt werden? Diese Fragen wiegen umso schwerer, wenn der Altbau das Siegel des Denkmalschutzes trägt. Das Denkmal steht unter unser aller Schutz. Und damit der Schutz in einem Rechtsstaat wie dem unseren keine Worthülse bleibt, ist er gesetzlich verankert. Und die Maßnahmen, die daraus für den Erhalt der Denkmäler folgen, fassen wir unter der Denkmalpflege zusammen.
Wenn wir ein Denkmal pflegen wollen, müssen wir wissen, was erhaltenswert ist und was geändert werden darf. Wenn es aber keine Beschreibung gibt, keine Aufzeichnung und keine Begründung des erhaltenswerten Bestandes, wie können wir dann sagen, was erhaltenswert ist und was nicht? Unser Handeln soll pfleglich mit dem Denkmal umgehen. Aber auch wenn wir uns mit Herz und Seele dem Denkmal verbunden fühlen, fehlt uns mitunter die Kenntnis beispielsweise historischer Bauweisen oder bestimmter Materialien. Wie können wir dann behutsam und denkmalgerecht planen und bauen?
Das Bauen im Bestand erfordert von uns dieselbe Sorgfalt, wie sie auch der Chirurg im Krankenhaus an den Tag legt: Bevor er das Skalpell ansetzt, wird er den Patienten gründlich untersucht haben. Wenigstens vertraut man darauf. Auch ein Richter wird vor seinem Urteilsspruch die Sach- und Rechtslage hinreichend geprüft haben. Hoffentlich! Denn sonst herrschte Willkür, und die Folgen wären chaotisch. Nicht chaotisch, aber schon riskant wirkten sich Baumaßnahmen aus, die ohne Bestandskenntnis loslegten: finanziell, denn niemand kann die Investition zuverlässig kalkulieren; statischkonstruktiv, denn wenn eine tragende Mauer abgebrochen wird, können die Folgen fatal sein; kulturell-gesellschaftlich, denn bei Denkmälern kann wertvolle Bausubstanz vernichtet werden. All das soll nicht sein. Verantwortungsvolle Bauherren wollen weder Geld zuschießen noch böse Überraschungen erleben, und sie wollen auch nicht ihr Denkmal gefährden. Darum steht vor jeder Baumaßnahme im Bestand zuerst eine Bestandsaufnahme.
Mit der Bestandsaufnahme historischer Bauten und besonders von Denkmälern befasst sich in Deutschland die Historische Bauforschung. Sie erfasst systematisch die Bauten und ihre Reste, fragt nach der historischen Bauweise und wie sich das Denkmal in die Geschichte einordnen lässt.³ Die Historische Bauforschung schafft mit der Bestandsaufnahme eine wichtige Grundlage gleich für drei Fächer⁴:
1. für die Planung, indem die Bestandsaufnahme den aktuellen Zustand dokumentiert und belastbare Planungsgrundlagen schafft,
2. für die Kunstgeschichte, indem die Bestandspläne für die Erforschung der Denkmäler dienen und
3. für die Denkmalpflege, weil die Dokumentation die notwendige Orientierung bietet, das Denkmal zu erhalten.
Mit Zunahme der Baumaßnahmen im historischen, denkmalgeschützten Bestand stieg auch der Bedarf an Bestandsaufnahmen. 1984 brachte der Architekt und Bauarchäologe Johannes Cramer das Buch „Handbuch der Bauaufnahme" heraus. Es bietet eine Arbeitshilfe für die in der Bauaufnahme tätigen Fachkräfte. Er gliedert die Bauaufnahme in⁵:
-das Bauaufmaß,
-die Baubeschreibung,
-die Fotografie,
-die Bauuntersuchung und
-die Zeichnung.
Zwei Jahre später erläuterte Gerda Wangerin in ihrem Buch „Bauaufnahme – Grundlagen, Methoden, Darstellung", dass zur Bauaufnahme gehören⁶:
-das Aufmaß vor Ort und
-die zeichnerische Wiedergabe,
-die schriftliche Wiedergabe und
-die Baugeschichte.
Ähnlich formulierten 1993 der Denkmalpfleger Michael Petzet und der Bauforscher Gert Mader in dem als Standardwerk geltenden Buch „Praktische Denkmalpflege" den Begriff Bauaufnahme. Sie zählen hierzu:
-Bestandspläne einschließlich Beschreibung,
-Befundbeobachtung und
-Befunduntersuchung,
-die fotografische Erfassung,
-das Raumbuch und
-archivalische Nachforschungen.
Allerdings reduzierten sie den Begriff Bauaufnahme später in Anlehnung an Wangerin auf die Vermessung und die maßstäbliche Aufzeichnung, also auf das, was Cramer mit Bauaufmaß bezeichnet.⁷ Die Begriffe Bauaufmaß und Bauaufnahme werden in der Literatur synonym verwandt. So auch bei dem Kunsthistoriker Ulrich Großmann, der in seinem Buch „Einführung in die historische und kunsthistorische Bauforschung" hinter dem Begriff Bauaufnahme in Klammern das Aufmaß setzt.⁸ Jürgen Giese, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bamberg, fasst unter Bauaufnahme zusammen⁹:
-die Zeichnung,
-die Beschreibung und
-die Fotodokumentation.
Die gebaute Wirklichkeit wird gezeichnet, beschrieben und fotografiert. Diese Dreiheit nennt er Basisverfahren einer Baudokumentation. Zu den Zusatzverfahren zählen archäologische Untersuchungen, Dendrochronologie (Altersbestimmung), Materialprüfungen und -analysen, restauratorische Befunduntersuchungen, Baugrunduntersuchungen und viele andere mehr. Die Zweiteilung in Basisverfahren und Zusatzverfahren leuchtet ein; die Basisverfahren schaffen ein maßlich stimmiges Abbild: Die Zeichnung dokumentiert die Bauwerksgeometrie, die Beschreibung ergänzt, was nicht oder nur schwer verständlich gezeichnet werden kann, und Fotos geben einen visuellen Eindruck. Die Zusatzverfahren bieten Detailkenntnis: Zum Beispiel hilft uns die Dendrochronologie bei der Bestimmung des Baujahres. Materialanalysen