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Benterdal
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eBook388 Seiten4 Stunden

Benterdal

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Über dieses E-Book

Stoffel, ein ausgesteuerter Schlosser, dessen tätige Hilfe im ganzen Dorf gern angenommen wird, sucht nach einem neuen Sinn in seinem Leben. Gut, dass ihm die schmucke Landschaftsgärtnerin Iris dabei zur Seite steht, obwohl der Versuch, mit eigenen ökologischen Produkten der Marke „Hoch und Fein…“ den Markt zu erobern, ganz schnell eingestellt werden muss. Gut ist weiter, dass ihn die Beseitigung nicht ganz so ökologischer Hanfprodukte nach Benterdal führt, wo er auf Josef stößt. Hier starten sie und ihre Mitstreiter den Aufbau einer solidarischen Dorfgemeinschaft, die durch den Zustrom von Flüchtlingen ungewollt beschleunigt wird. Eine Entwicklung, deren Ende nicht abzusehen ist…
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum18. Apr. 2016
ISBN9783741260568
Benterdal
Autor

Jens Kirsch

Jens Kirsch, geboren 1958, Ausbildung als Diplomphysiker an der Universität in Greifswald. Tätigkeiten im einzigen ehemaligen Atomkraftwerk der DDR, an der Uni Greifswald, bei den Stadtwerken Greifswald, 14 Jahre Gemeindevertreter in der Gemeinde Wackerow Malerei seit 1978, Website: www.kirsch-immenhorst.de

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    Buchvorschau

    Benterdal - Jens Kirsch

    Und wieder sind die handelnden Personen und Ereignisse des Romans frei erfunden. Überschneidungen mit der Wirklichkeit sind beabsichtigt, aber ebenfalls literarisch.

    Für meine Tochter Dr. Susann Seiberling und meinen Onkel Dr. Rainer Vogel, ohne die ich dieses Buch nicht geschrieben hätte.

    Inhalt

    Stoffel sägt

    Am Abend entsteht ein Plan

    Die Vorbereitungen beginnen

    Iris zieht ein und gibt Geld für einen Motor

    Überfahrt

    Erstens kommt es anders

    Dorsche

    Kindereien

    Hast du schon gehört?

    Guerilla Gardening up´m Dörp

    Tagwerksplanung

    Auftraggeber, Auftragnehmer

    Im Gemeindebüro

    Geld verdienen

    Steine klopfen

    Schnellräumung

    Bauwirtschaft am Morgen

    Junge Leute wollen ins Gutshaus

    Das Erste

    Beete, Beete, Beete

    Das Versteck riecht nach Bier

    Brainstorming

    Geld, Geld, Geld…

    Mein Eigen muss mein Eigen bleiben

    Es stinkt

    Urproduktion oder Handwerk?

    Iris ist altruistisch

    Thomas im Glück

    Böses Erwachen

    Erntestrauß

    Der Herbst beginnt

    Feuer, Rauch, Nebel…

    Accra, Agbobloshie

    Wackerow, Gemeindebüro

    Das Feuer ist aus

    Stoffel und Josef

    Krisensitzung

    Annas Rückkehr

    November

    Dombesteigung

    Annalia studiert, Josef wird vom Musenstrahl getroffen

    4 x 6

    Brot

    Spiele

    Zwillinge

    Tiefs

    Tief im Camp

    Stoffel bekommt einen Arbeitsvertrag

    Nächtliche Aktivität

    Richtfest

    Destination

    Otto Dainers langer Marsch

    Ottos Ankunft

    Alltag

    Abed bekommt Bescheid

    Bei der Arbeit

    Versammlung in Benterdal

    Gunter macht‘s möglich

    Ottos Deal

    Noch eine Versammlung

    Ortstermin

    Segen der Erde?

    Nachts wach

    Im Camper wird geschrieben

    Wieder ist es Herbst

    Benterdal 2020

    Benterdal 2050

    Stoffel sägt

    Er sitzt auf der Stufe vor der Haustür und trinkt ein Bier. Unterhemd nicht ganz weiß, nicht ganz grau, Jeans und Hosenträger, das Haus etwas verlottert, die Wiese kurz gemäht. Sein Schäferhund, ein schönes, gelbbraun und schwarzes Westexemplar, schnürt am Maschendrahtzaun lang, verharrt. An seinem Spalt am Ende des Zaunes starrt der Hund mit gesenktem Kopf in Richtung Straße. Dort kommt Ohm Plüsch um die Ecke, an der Leine seinen schwarzen Pudel mit weißer Schnauze, halbblind Hund und Herr. Stoffel schaut auf. Er spitzt ebenso aufmerksam wie sein Hund. Zu selten die Augenblicke, an denen Nachbarn mit etwas Zeit an seinem Zaun stehen, um mit ihm in Ruhe das Dorf durch den Kakao ziehen. Er greift sich die Harke. Ganz aufmerksamer Hofbesitzer, beginnt er, am Zaun entlang das Laub zu kratzen. Das angefangene Bier steht vorsorglich an den Zaun gelehnt. Ohm ist nicht besonders schnell. Deshalb hat Stoffel genügend Zeit, die Flasche nochmals anzusetzen. Gluckernd verschwindet das Bier dahin, wo es hingehört, in der Bierwampe. Er rülpst. Dann beugt er sich weit über den Zaun, schaut den beiden gemächlichen Spaziergängern entgegen. Ohm hat inzwischen den Hund von der Leine gelassen. Beide Tiere schnuppern sich an. Schnell wenden sie sich wieder voneinander, denn sie kennen sich schon lange. Stoffel und Ohm aber kennen sich noch länger: Ohm ist in den Neunzigern mit reichlich Tamtam im Nest erschienen. Er kaufte das Gutshaus. Die Mieter freuten sich auf neue Toiletten und Bäder. Zu früh gefreut, denn nach und nach traf Ohms umfangreiche Familie ein. Die erhielt die neuen Nasszellen. Eigenbedarf hieß Ohms Devise. Die Mieter verließen das Gutshaus klaglos in Richtung Neubaublock, denn im Gutshaus war schlecht wohnen. Überall Staub und Dreck. Zwischenwände wurden versetzt, neue Decken eingezogen.

    Ohm hielt allerdings das begonnene Sanierungstempo nicht lange durch. Nach zwei Jahren war die Luft raus, das ewige Klopfen auf der Baustelle verebbte. Nur ab und zu noch klingelte sich ein wütender Handwerker die Finger wund, schüttelte die Fäuste. Es half nicht. Geld sah er keins. Ohm machte lieber nicht mehr auf, und so ging auch das vorbei. Die dicke Hose in Form eines Audi A8 verschwand ebenso wie die bereitstehenden neuen Pflasterungen und Gehwegplatten. Das ist jetzt gute zwanzig Jahre her. Inzwischen gehören der immer noch in Plüsch gehende Ohm und seine bucklige Verwandtschaft zum Inventar des leerer werdenden Dorfes. Jetzt hat Ohm Stoffel erkannt und grinst ihn an.

    „Was macht die Immobilie, alter Stoffel?"

    Stoffel grinst ebenfalls.

    „Sie bleibt bei mir, wo soll sie hin hier, ohne Räder und Flügel?" Ohm schaut ihn etwas von unten an.

    „Wenn du verkaufst, kannst du ihr Räder und Flügel machen und ab nach Malle."

    Das Thema kennt Stoffel.

    „Warum bist du denn selbst nicht da? Ich kenn die Klitschen dort, alles Beton und zwischendrin ein deutscher Arzt und einige tausend wie wir. Und im Sommer Kartenverteiler für idiotische Diskos. Disko will ich nicht. Andrea Berg und der liebe Stoffel in ‚Tanz mit mir durch die Nacht‘? Lass mal Ohm, ich bleib lieber bei dir und komm dich mal besuchen." Ohm schüttelt den Kopf.

    „Komm lieber nicht, mein Gutshaus ist hausbesetzt. Das hatte ich mir mal anders gedacht. Lauter lachende Gesichter und frohes Schaffen von früh bis spät. In der kalten Zeit sah ich mich am flackernden Kamin, alle meine Lieben dankbar um mich vereint. Sie rühmen mich für meine Weitsicht, fragen: ‚Ist dir auch warm genug? Brauchst Du eine Decke für die Knie, möchtest Du einen heißen Tee?‘ Äh, Gekeife gibt´s und Essiggesichter, dass ich davon einlegen könnte. Da bleib ich lieber weg."

    „Hast du denn inzwischen einen Kamin?"

    Stoffel sieht eine Verdienstmöglichkeit.

    „Bei dir am Gutshaus liegen noch stapelweise Holzpaletten. Die säg ich dir klein. Das Brennholz kannst du schön im Kamin verheizen, bis es kracht! Du gibst mir einen Blauen und schon sind wenigstens wir beide glücklich."

    „Kamin hab ich, aber zwanzig Euro nicht, die habe ich das letzte Mal zu meinem Siebzigsten in der Hand gehabt. Weißt du wie lange? Genau für zehn Sekunden, dann hat sie mir Iris weggenommen, das Luder. Ich könnt sie jetzt noch beißen, wenn ich Zähne hätte."

    Beide lachen. Stoffel macht einen gewaltigen entwicklungsgeschichtlichen Sprung. Er kehrt zur einfachen Warenwirtschaft zurück.

    „Machen wir eben halbe halbe mit dem Holz, das vergammelt dir sonst sowieso."

    Ohm ist einverstanden. Stoffel verschwindet in seiner Remise. Nach kurzer Zeit kommt er mit Schubkarre und Kettensäge darin angeschoben. Er klappt das Gartentor auf. Die Hunde beriechen sich noch einmal kurz, bis jeder vor sich hin nach neuen Geruchsspuren am Wegesrand neben den beiden Männern schnuppert. Der ältere Mann geht schlurfend mit eingezogenen Schultern, der jüngere mit durchgedrücktem Rücken in Richtung Gutshaus. Stoffel geht das zu langsam.

    „Ich gehe dann schon mal vor, weiß ja, wo der Haufen liegt." Kaum hat er die Säge abgeladen und die ersten Paletten vom Stapel gezerrt, um sie als Sägebock zu drapieren, erscheint am Fenster ein dunkler Schopf. Iris sonorer schöner Raucheralt erklingt.

    „Öh, Stoffel, ich glaub, du lädst am falschen Haus Holz auf. Deins liegt in der Dorfstraße, nicht an unserer Villa!"

    Stoffel stemmt die Arme in die Seite, schaut nach oben.

    „Komm runter, Schnecke, mach mit, ich säg´ nur für dich. „Komm hoch, du Stoffel, Kaffee trinken. Ich habe Rückenschmerzen!

    Stoffel macht die Säge aus. Er geht um die Ecke. Die Treppe zum Portal zeugt von früherem Schönheitsideal. Unten schön breit, oben etwas schmaler, macht sie den Besucher klein. Die riesige Tür ist bereits renoviert. Sie leuchtet seltsam unpassend warm und neu aus der ansonsten bröckligen blass grauen Fassade. Die schönen Granitsteine der Treppe liegen schief, ihre Fugen sind mit Mörtel verkleckert. `Mann, könnte ich hier Geld verdienen´, denkt Stoffel. Er drückt die Tür auf. Der stockige Geruch eines alten Treppenhauses schlägt ihm entgegen. Vor ihm liegt die durch nachträgliche Einbauten, Treppe, Stromzähler und Briefkästen verschandelte Eingangshalle des Gutshauses. Links geht es in die erste Wohnung. ‚Ohm Simon‘ steht am Namensschild. Rechts wohnt sein Bruder. Der ist, wie Ohm, auch schon über siebzig. In der ersten Etage geht die Tür auf.

    „Findest du den Weg nicht? Bin hier oben."

    Stoffel steigt hinauf. Die nachträglich eingebaute Behelfstreppe knarrt. Ohms Tochter Iris lehnt an der Brüstung der ersten Etage. Sie ist eine kräftige Frau, Anfang fünfzig. Von unten sieht Stoffel, dass ihre Beine jugendlich und glatt sind. Wie das unter dem Morgenrock weitergeht, verschwindet im Phantasie anregenden Dunkel. Er schaut schnell auf seine Füße.

    „Alles gesehen und erschrocken?"

    Iris ist nicht prüde. Er schaut sie an.

    „Sieht eigentlich schön frisch aus."

    „Tja, eigentlich gefällt mir nicht."

    Sie macht die Tür weit auf. Dahinter liegt ein lichtdurchfluteter, großer Wohnraum. Stoffel schubst die Klapperlatschen von den Füßen, steigt mit großem Schritt über die Schwelle. Er betrachtet mit Erstaunen die freundliche Dielung, die hellen Farben der Wände. Die wenigen hellen Holzmöbel sind gut platziert. Aus den großen Fenstern verliert sich der Blick zwischen den mächtigen Baumkronen der Parkeichen in der dunstigen Ferne der Felder. Ein Traktor pflügt in der Ferne. Da fährt Max, bei seinen letzten Tagen der Herbstbestellung.

    „Mensch Iris, deine Wohnung ist ja eine Wucht! So würde ich auch gern wohnen. Das habt ihr gut hinbekommen." Iris schaut neben ihm stehend aus dem Fenster.

    „Die alte Sichtachse in Richtung Süden ist noch vorhanden. Das ist eher Zufall, denn wen hat es nach der Enteignung schon gekümmert, ob die Nachfolger der Junker aus ihren Fenstern in welcher Richtung in welche Ferne sehen konnten. Hier hat es aber geklappt. Ohm hat das nicht mitbekommen, sonst hätte er mir bestimmt nicht diesen Teil der ersten Etage überlassen. Er hat eben leider so manches nicht mitbekommen, sonst wäre er nicht praktisch pleite."

    Stoffel dreht sich zu ihr.

    „Wollte er nicht erst vermieten und damit den Umbau bezahlen? Zahlt ihr ihm eigentlich Miete?"

    Iris reckt sich.

    „Klar bezahl ich Miete und gar nicht mal knapp. Ich kann heute bloß nicht sagen, wie lange ich noch zahlen kann. Mein Erspartes geht zu Ende. Als Landschaftsarchitektin bekomme ich hier in der Nähe keine Aufträge. Das ist der Nachteil, wenn du versuchst, auf Honorarbasis durchs Leben zu kommen. Damals in Berlin ging das noch ganz gut. Da kam Geld rein, und ich habe jedes Jahr auf die eigene Wohnung gespart. Das Ohm dann gerade hier bei euch was auftat, fand ich am Anfang sehr attraktiv. Alle aus der Familie unterstützten die Idee, im Osten als große Pioniere und Investoren aufzutreten. Wenn Ohm und sein Bruder nicht gleichzeitig noch echte Investoren in den Neuen Markt gespielt hätten, wäre das Modell renovieren, schön wohnen und von den Zinsen leben für uns alle bestimmt aufgegangen. Ich habe erst mitbekommen, dass was schief läuft, als die Steine für die Pflasterung des Hofes nicht bezahlt werden konnten.

    Du musst bedenken, viele Pfiffikusse haben ihre Fünfzigtausend über die Woche zu einer Million gemacht. Das haben Ohm und Stefan mitbekommen. Die Brüder machten aus ihren Millionen binnen Wochenfrist Fünfzigtausend. Jetzt muss es eben so weitergehen, aber wenn ich die beiden schrägen alten Vögel sehe, kommt mir oft genug die Galle hoch."

    In dem Moment ist Ohm am Gutshaus angekommen. Er steht im Park. Sie hören seine Rufe. Er ruft nach Stoffel. Stoffel steckt den Kopf zum Fenster raus und antwortet.

    „Kuckuck!"

    Stoffels Schäferhund jagt durch den Park. Der Pudel läuft mit etwas Abstand und deutlich langsamer hinterher. Da, eine Katze verliert die Nerven. Sie prescht, um den Hunden zu entkommen, zur Seite weg. Stoffels Hund kriegt die Kurve eng hinter ihr. Die Katze biegt in fast gleich bleibender Geschwindigkeit nochmals ab, aber diesmal nach oben, auf eine der schönen Parkkastanien. Dieser Biege können beide Hunde nicht folgen. Stoffels Schäferhund Aaron zieht am Baum vorbei. Sein schneller Lauf trudelt aus. Sich wendend beginnt Aaron voller Enthusiasmus zu bellen. Nun gehen Fenster zur Südseite auf. Aus jedem schaut ein Ohmverwandter raus. Stefan, sein Bruder schreit.

    „Könnt ihr die blöden Köter nicht an die Leine nehmen?"

    Stoffel lacht am Fenster in der ersten Etage.

    „Die Leine ist zu kurz!"

    Stefan hängt sich aus dem Fenster.

    „Was machst du denn da oben? Lass Iris in Ruhe und kümmere dich um deinen Köter!"

    Ohm schimpft auch.

    „Holz sägen nennst du das? Komm runter, du Knaller, oder soll ich die Hunde einfangen?"

    Stoffel zieht den imaginären Hut vor Iris, verbeugt sich.

    „Iris, du hörst, meine Kompetenz ist überall gefragt. Gern lade ich dich zum Gegenbesuch bei mir ein. Komm rum, wann du willst. Ich will dir erzählen, wie ich auf wundersame Weise mein Geld vermehrte, in der Zeit des Neuen Marktes."

    Weg ist er. Kurz darauf zieht im Park wieder Stille ein. Die Hunde werden an die Leine genommen, das Bellen verstummt. Die Motorsäge geht an, die Fenster schlagen zu. Die Katze schaut aus dem Baum auf die angeleinten Hunde. Erst später, am Abend, als alles wieder still ist und die Hälfte der gesägten Brett- und Palettenstücke in Stoffels Remise liegt, rutscht die Miez an bremsenden Krallen den glatten Stamm hinab. Sie setzt sich nieder, leckt die Pfoten, putzt sich gemächlich Gesicht und Schnurrhaare. Nach einem kurzen Blick in die Runde verschwindet sie im hohen Gras des Nachbargrundstückes.

    Am Abend entsteht ein Plan

    Aus dem Gutshaus und dem Tagelöhnerkaten Stoffels steigen hellgraue Wölkchen aus dem Schornstein. Unaufhaltsam zieht von Südwesten eine dunkle Wolkenwand wie ein Vorhang über die sanfte Landschaft, das milde Abendrot verlischt im dramatischen Dunkel. Es beginnt zu regnen. In den Häusern prasseln die Feuer. Bei Ohm im herrschaftlichen Kamin, bei Iris hinter der Sichtscheibe eines eisernen Gussofens.

    Bei Stoffel schließlich glühen die Herdringe der alten Kochmaschine. Auf diesem Herd steht ein großer Topf Wasser. Blasen steigen auf, als er den Deckel anhebt. Aaron hält den Kopf schief. Sieht aus wie Baden, und das mag er. Stoffel trägt den Topf in die Waschküche. Er lässt kaltes Wasser in die ebenfalls gusseiserne Badewanne ein. Die hat er vom Schrott. Ein Riesending mit vier geschwungenen Füßen. Das heiße Wasser gießt er hinzu. Nach einer zweiten Ladung dampft es leicht über der Oberfläche.

    Er zieht seine Schmuddelsachen aus, steigt in die Wanne. Sofort hebt er die Füße abwechselnd aus dem heißen Bad, wie bei einer Kneippkur beginnt er das Wassertreten, so heiß ist das Wasser. Er lässt Kaltwasser nachlaufen. Nun hockt er sich in die Wanne, prüfend den Hintern eintauchend. `Verdammt, danach kannst du keine Kinder mehr machen´, denkt er. Er zieht tief die Luft ein, bevor er sich grinsend in das Badewasser plumpsen lässt. Aaron steht am Wannenrand. Er schleckt ab und zu am seifigen Arm Stoffels.

    Der Hund ist ein rechter Seifenschlecker. Stoffel krault ihm mit der nassen Hand den Kopf, wischt ihm die Augenwinkel sauber und lässt ihn zur Belohnung noch etwas Seifenbrühe aus der flachen Hand schlappen. Stoffel lässt sich zurücksinken, taucht tief in die wärmende Seifenlauge ein. Er denkt an die Zeit, als er selbst noch am Waschlappen lutschte. Viel weiß er nicht mehr aus dieser Zeit, aber eine Erinnerung hat sich so tief eingeprägt, dass er sogar einen Traum davon in sich hatte, den er wieder und wieder träumte.

    Der Traum ging so: Stoffel spielte am Ufer einer Pfütze und warf ein kleines Steinchen nach dem anderen in das dunkle Wasser. Er beobachtete, wie die Wasseroberfläche sich dem Steinchen öffnete, es einließ und nach dem Einlass wieder schloss. Ein kleiner Schwall, ein Berg wölbte sich um den Trichter des Einlasses auf. Ein Tropfen befreite sich daraus, sprang in die Höhe und glitzerte in der Luft, während die Ringe des sich nun überschlagenden Verschlusses und des wieder fallenden Tropfens eilig dem Rand der Pfütze zustrebten.

    Er sah, sich vorbeugend, sein Gesicht, seine Arme in der Pfütze, die weißen Wolken hinter sich, den blauen Himmel dahinter. Er beugte sich noch weiter vor, um alles genau zu sehen, als sich das Wasser für ihn öffnete. Erschrocken tauchte er ein, die Dunkelheit der Pfütze packte ihn.

    Er fiel und fiel, ruderte wild mit den Armen, drehte sich im Wasser, bis er wieder den Himmel sehen konnte, blickte nun nach oben und sah den Tropfen diesmal von unten aufsteigen, so weit in den Himmel hinein, wie ein Springbrunnen, glitzernd wieder in sich zusammenbrechend, während er, sich wiederum drehend, nach unten nur gähnendes grünes Schwarz sah, grausige Finsternis. Weiter abwärts ging es und abwärts und abwärts. So klein war er damals, aber den gewaltigen Schauder des Versinkens, den kennt er heute noch. Er breitete die Arme aus, das Sinken zu verhindern oder wenigstens doch zu bremsen, aber er sank und sank.

    Der schöne blaue Himmel wurde immer blasser und das liebe Sonnenlicht spürt er nicht mehr, nur wehende Kühle. Aber unten in der Tiefe stand ein Kästchen, ganz elfenbeinfarbig. Er runzelte die Stirn, starrte und starrte, bis er erkannte, dass es sein Gitterbettchen war, welches auf ihn wartete. Von da an steuerte er, die Arme schwenkend, darauf zu, schaffte es darin zu landen und zog sich glücklich die Decke bis zum Kinn.

    Dann drehte er an der vierten Stange des hölzernen Bettchens, die die einzige war, die sich drehen ließ. ‚Gnörg gnörg gnörg‘, dreimal linksrum, ‚gnirg gnirg gnirg‘, dreimal rechtsherum. Alles war gut. Der Mond leuchtete ins Fenster, die Wolken zogen an ihm vorüber. Er räkelte sich ein, kuschelte sich in tiefer Geborgenheit an die Zipfel seiner Kissen. Der Traum aber kam daher, das Stoffel einst mit seinem Spielkameraden aus dem Nachbarhaus in den Wiesen vor der Südstadt spielte. Gesprengte Gebäude aus dem letzten Krieg hinterließen Keller, bis zum Rand abgesoffen und dunkel. Als sie dort umher tobten, fiel Stoffel in eines dieser dunklen Löcher. Er schaffte es, sich strampelnd und wassertretend an die Mauer zu retten, deren Fundamentkante ihm einen kleinen Halt für die Füße gab, so dass er, die Arme aufrecht haltend bis zum Hals im Wasser an der Wand klebte.

    Er rief seinem Freund und Spielkameraden zu, nur schnell nach Hause zu laufen, den Vater zu holen. Heinzi lief davon, aber daheim war niemand, so dass er nicht Bescheid sagen konnte. Als der Vater am Abend von der Arbeit kam, brachte er wie immer sein Fahrrad in den Schuppen, fütterte die Hühner und sah schließlich Heinzi allein vor dem Haus spielen. Das wunderte ihn, und er fragte nach Stoffel. Da erinnerte sich der Freund wieder und führte den Vater eifrig in die Wiesen. Sie zogen den kleinen Stoffel aus dem nassen dunklen Loch. Zu Hause wurde er schnell nochmals kalt abgespült, ihn vom Dreck zu befreien. In warme Tücher gepackt und mit warmem Tee befüllt, färbten sich seine blauen Lippen wieder rot.

    Stoffel ist froh, dass der Traum nicht wieder kommt. Er hat keine Angst mehr vor den Tiefen des Wassers, obwohl er sich nie richtig wohl fühlt, wenn der Boden unter den Füßen fehlt. Er klettert aus seinem Trog. Jetzt ist Aaron dran. Vorsichtig, aber bereitwillig steigt er in die Seifenlauge.

    Nach Aarons Bad drückt Stoffel sorgfältig das Fell noch in der Wanne aus. Dann stellt der Hund brav die Vorderpfoten auf den Wannenrand. Stoffel hebt Pfote für Pfote und trocknet die Vorderpfoten vor. Zum Trocknen der Hinterpfoten beugt er sich weit über den Wannenrand. Das nutzt Aaron zum Sprung aus dem Wasser. Er schüttelt sein Fell mit Vehemenz trocken. Verdammt, das wollte Stoffel vermeiden. Er ist einfach nicht schnell genug mit dem Handtuch! Nun muss er wieder die ganze Waschküche wischen. Aaron verschwindet in seinen Korb und leckt sich das nasse Fell.

    Nach dem Wischen holt Stoffel die gute Eisenpfanne vom Haken, tropft etwas Öl hinein und stellt sie auf den Herd. In die Ofenklappe schiebt er einige kleine Holzscheite, nicht ohne zuvor die erkaltende Glut durchzustochern. Bald bollert der Ofen und die Pfanne beginnt zu knistern. Stoffel schneidet vier Streifen Speck und legt sie in das Öl. Sofort zieht der Speckdunst durch den Katen. Aaron hebt den Kopf. Der Speck rollt sich auf. Stoffel schlägt vier Eier dazu. Nach wenigen Sekunden stocken sie auf.

    Jetzt kann die Pfanne an den Herdrand. Zwei Tomaten werden auf einem Brett in Scheiben geschnitten, zwei Zwiebelscheiben, Pfeffer und Salz darauf, Zitronentropfen und wieder etwas Öl. Zwei dicke Scheiben Brot ergänzen die Familienmahlzeit. Aarons Anteil an den Eiern kommt in einen alten Karnickelnapf aus Ton, zerbrocktes Brot dazu, Milch darüber. Schon kann sich Stoffel mit Brett und Pfanne an den Tisch setzen. Aaron schiebt mit der Eierspeise am Fußboden umher.

    Er leckt den Napf sauber, als wäre er aus dem Schrank gekommen. Seine Augen blitzen in Richtung Stoffel. War das alles? Sieht so aus. Stoffel gabelt sein Abendessen. Dabei starrt er auf die Abendsendung. Aaron lässt sich in die Küchenecke plumpsen. Ein rotes Schiff fährt vor der Kreideküste Rügens zum Wrack eines Kutters. Die Besatzung will hängen gebliebene Netze bergen, die das Wrack vollständig umhüllen. Unterwasseraufnahmen zeigen Schichten von Fischernetzen, verwoben mit Angelsehnen, Tauenden und Wrackteilen.

    Ab und zu zieht eine Bewegung über das Bild, ein Zucken und Wogen von stecken gebliebenen Fischen und Fischleichen. Hoffnungslos sitzen sie fest in den verlorenen Fallen vergangener Fischzüge.

    Stoffel sagt zum dösenden Aaron: „Ja, sehen die denn nicht, dass da noch viele leben? Die brauchen sie doch nur freizuschneiden!"

    Die Dokumentation fährt fort. Die Reporter berichten von der gelungenen Bergung von vier Tonnen Netzmüll. Etliche Taucher riskierten dafür allerhand, denn das Heben der Fitzbündel ist schwere und tückische Arbeit. Am Ende des Filmes ist ein Wrack teilweise entnetzt, aber einhundertfünfzig weitere Wracks liegen am Grund der Ostsee, tödliche Fallen, behängt mit Sisal, Nylon und Aas. Stoffel lassen die Bilder von den erstickenden Tieren nicht los. Nachdenklich kriecht er in sein klammes Bett.

    Die Türen von Schlafstube, Korridor und Küche lässt er offen, damit etwas Wärme in die Schlafstube ziehen kann. Dann starrt er in die Dunkelheit, sieht einen bleichen Fischleib zucken, den Kopf schon befreit, den Leib gnadenlos geschnürt. Stoffel überlegt, ob er einige der festsitzenden Fische befreien kann.

    Die Vorbereitungen beginnen

    Am nächsten Morgen springt Stoffel aus der Butze. Er schleicht um sein altes Plattbodenboot in der Scheune. Der Motor ist vorsintflutlich, Zweitakt mit fünfunddreißig PS. Ein Johnson, so alt wie das Boot, 40 Jahre. Mit dem kommt er zu keinem Wrack. Selbst bei den kleinen Angeltouren, die er jedes Frühjahr auf Hering macht, ist ihm jedes Mal unklar, ob ihn das qualmende Ungetüm wieder zurück bringt.

    Deshalb hält er sich stets ufernah, damit er zur Not mit dem Boot, wie mit einer Ziege am Strick, zum Hafen nach Stahlbrode wandern kann. Das letzte Stück hätte er im Fall der Fälle dann mit dem Stechpaddel geschafft. Auf die offene See kann er mit dem Ding so nicht, auch wenn es nur einen Katzensprung von der Insel weggehen soll.

    Die nächsten Wracks mit ihren schauerlichen Netzbelägen liegen nicht weiter als drei Seemeilen vor der Küste. Selbst wenn er damit führe, wie soll er bis in achtzehn Meter Tiefe tauchen, wo er schon bei zwei Metern Wassertiefe Beklemmungen hat? Er erinnert sich an einen Versuch, ein spreizbares Kleinnetz, die Senke seines Sohnes Daniel, zu bergen. An einem Sommersonntag badeten Stoffel und Daniel an der Holzbrücke zur Insel Koos. Die neu gebaute Brücke ersetzt einen ehemaligen Damm, der das Land ohne Ende mit der Insel verband. Als Stoffel und Daniel in der Sonne lagen, erzählte Stoffel, wie die Landschaft vor dem Rückbau der Polder aussah:

    Vor Untergang des von seinem obersten Lenker als deutschedemkratsche Repulik benannten Landes wurde das Land ohne Ende durch die Bauern der LPG Neuenkirchen bewirtschaftet, wobei eine LPG eine Genossenschaftsform mit Eintrittsverpflichtung für die ehemaligen Einzelbauern darstellte. Wer nicht mitmischte, konnte, wenn er fix genug floh, im Westen weiter Bauer sein. Versäumte er die Frist bis zum 13. August 1961, blieb ihm nichts weiter übrig, als nach der für diesen Tag geheim vorbereiteten Grenzschließung seinen Bauernhof in die LPG einzubringen.

    Denn an diesem Tag vollzogen die Landesherren ihren als Mauerbau in die Geschichte eingegangenen Selbsteinschluss. Weil sie nicht allein bleiben und vereinsamen wollten - welche Oberen meinen schon allein für sich selbst handeln zu müssen - beschlossen sie das neue Grenzregime für all ihre Landesbürger mit, ein Gewaltakt, der den späteren Umgang mit den Bürgern und den Untergang des Staates bereits in sich trug.

    Nach der Grenzschließung wurde mit neuer Härte an die Durchsetzung der Kollektivierung gegangen, denn viele der Bauern, vor allem die erfolgreichen, zeigten wenig Interesse an den neuen Genossenschaften. Die später geborenen jungen Leute kannten keine andere Bewirtschaftungsform des Landes: sie wuchsen hinein. So einer war auch der Treckerfahrer Max.

    Max wurde durch seinen Brigadier Nürnberg also eines Abends eingewiesen, auf ein Hauslicht am anderen Ufer des Sundes, schon auf der Insel Rügen nahe Palmer Ort liegend zuzuhalten, die erste Furche zu brechen. Max fuhr auch wacker los, hielt auf das Licht zu.

    Er pflügte und pflügte, nicht bemerkend, dass er als Richtlicht einen Frachter Richtung Stralsund gewählt hatte. Erst als vor den Rädern des Treckers im grellen Lampenschein der Sand der Gristower Wieck auftauchte, beendete er seinen wunderbaren Pissbogen, der als Richtfurche wahrhaftig nicht zu gebrauchen war. Er kratzte sich den Kopf und dachte, das muss ich ja nun nicht groß herumerzählen.

    Max haute der Rückwärtsgang rein und verwühlte den Trecker bis zur Achse im moddrigen Sand der Wieck. Nach einiger Zeit ergebnislosen Drehens der Räder sprang er ab. Seine Nachtschicht war damit zu Ende. Handys gab es damals noch nicht, Betriebsfunk hatten die Trecker nicht. So trabte er über seinen gepflügten Fehler zurück zum LPG Stützpunkt, Hilfe zu holen. Nach stundenlangem Marsch klopfte er

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