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Innenräume: Biografische Erzählung
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eBook332 Seiten4 Stunden

Innenräume: Biografische Erzählung

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Über dieses E-Book

Zwei Weltkriege mit Abermillionen Toten, fürchterliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord auf europäischem Boden. Das war die Bilanz der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges hinerließ der Nachkriegsgeneration ein materielles und geistiges Trümmerfeld.
Die zweite Hälfte war gekennzeichnet durch revolutionäre Umwälzungen in der Wirtschaft und der Arbeitswelt, durch bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Entwicklungen, die ihre Spuren in der Gesellschaft hinterlassen haben. Ungeachtet dieser sich abzeichnenden Aufbruchstimmung reichten die Verschattungen der Eltern- und Großelterngeneration weit in die sechziger und siebziger Jahre hinein und beeinflussten die Lebensmuster und Lebensentwürfe der Nachkriegsgeneration.

Der Protagonist dieser biografischen Erzählung ist in diesem rückblickenden, erinnernden Lebensgeschehen nicht nur Beobachtender, sondern Erlebender. Er kommuniziert mit den mehr oder weniger großen Fragmenten seines früheren Ichs, um sie zu decodieren, sie lesbar zu machen, sie zu übersetzen und ihnen eine sprachliche Gestalt zu geben.
Er lässt auf diese Weise die Leserin und den Leser unmittelbar an einer Zeit teilnehmen, die mit Brüchen, Verwerfungen und Aufbrüchen übersät ist, und er wirft dabei auch einen individuellen Blick zurück auf die erste Zeit der Liebe, des sexuellen Erwachens und des Aufbruchs in die Welt - und in ein demokratisches Deutschland, das in der Revolte der 68er Jahre zum Durchbruch gelangte.
Das vorliegende E-Book 'Innenräume' ist eine Neubearbeitung der Print-Ausgabe 'innenansichten' von 2008.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum23. Feb. 2016
ISBN9783739241203
Innenräume: Biografische Erzählung
Autor

Henning Schramm

Henning Schramm, geboren 1944 in Tübingen, studierte Soziologie, Volkswirtschaft und Ethnologie in Mainz, Tübingen und Frankfurt am Main, wo er auch sein Studium als Diplom-Soziologe beendete. Danach war er zunächst Wissenschaftsredakteur. Anschließend arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit einem Lehr-auftrag an der Universität Frankfurt am Main. Am Lehrstuhl Päda-gogik 3. Welt war er neben der Lehrtätigkeit auch verantwortlicher Redakteur der vom Lehrstuhl herausgegeben Zeitschrift und als Leiter eines entwicklungspolitischen Studienprojekt des Kultusministeriums Hessen tätig. In dieser Zeit gründete er auch seinen Verlag für Interkulturelle Kommunikation (IKO) in Frankfurt. Nach der Lehrtätigkeit und der Verlagsarbeit arbeitet er viele Jahre in einem führenden deutschen Marktforschungsinstitut. Seit Beginn der Jahrhundertwende ist Schramm als Buchautor tätig und veröffentlichte zahlreiche Romane und Sachbücher. Er lebt mit seiner Frau in Frankfurt/Main. Mehr Informationen zum Autor und seinen bisher erschienenen Büchern finden Sie auf der Homepage: www.henningschramm.de

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    Buchvorschau

    Innenräume - Henning Schramm

    Inhaltsverzeichnis

    Innenräume

    Prolog

    Yokohama

    Heimkehr in das Land der Väter

    Da-Da-Ru-Bu

    Am Ziel der Träume

    Berlin, ein Ende mit Schrecken

    Die Franzosen ante portas

    Kopflose Hühner, die schwäbische Eisenbahn und Wasserleichen

    Tübinger Impressionen

    Das Ende der Kindheit

    Sex and Rock’n’Roll

    Schutthalden, Umbrüche und Aufbrüche

    Freiheit, die ich meine

    Achtung! Schwung links, Schwung rechts…

    Ohne Hafen ist kein Wind der Richtige

    Juan-les-Pins

    Frankfurt 1968

    Der Tod ist der Begleiter des Lebens

    Abgründe der Liebe

    Das Jahr der Venus

    Die ewigen Gefühle

    Die ‚Markusquelle‘

    Wie eine Fliege im Netz

    Familienräume

    Epilog

    Über den Autor

    Impressum

    Innenräume

    Von tausend Erfahrungen, die wir machen,

    bringen wir höchstens eine zur Sprache,

    und auch diese bloß zufällig und ohne die Sorgfalt, die sie verdiente.

    Unter all den stummen Erfahrungen sind diejenigen verborgen,

    die unserem Leben unbemerkt seine Form,

    seine Färbung und seine Melodie geben.

    Wenn wir uns dann, als Archäologen der Seele,

    diesen Schätzen zuwenden,

    entdecken wir, wie verwirrend sie sind.

    Pascal Mercier

    Für Ute und Dinah

    Prolog

    Zwei schreckliche Kriege, menschenverachtende Diktaturen und Völkermord auf deutschem Boden. Das war die Bilanz der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte begann sich eine bis heute anhaltende über sechzigjährige mitteleuropäische Friedenszeit zu etablieren. Es war auch der Beginn einer revolutionären Veränderung der Wirtschaft und Arbeitswelt, der wissenschaftlichen Erkenntnisse und technologischen Entwicklungen, die ihre Spuren in der Gesellschaft hinterlassen haben. Deutschland war immer im Zentrum der Geschehnisse. Und so auch die in diesem Land lebenden Menschen, die Agenten dieser Ereignisse.

    In dem großbürgerlichen Haus der hanseatischen Großeltern des Erzählers, die in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts geboren wurden, spiegelten sich das Lebensgefühl und die Euphorie des eben erst gegründeten deutschen Kaiserreichs wider. Es mündete in den Ersten Weltkrieg.

    Die Großeltern des Ich-Erzählers verbrachten jahrzehntelang in Japan und erlebten deswegen den Aufbruch der Deutschen in die nationale Überschwänglichkeit aus der Ferne, aber nicht weniger intensiv. Diese Generation transportierte die Bürgerlichkeit und deren Wertekanon, das Nationalgefühl und den Stolz auf Deutschland in das 20. Jahrhundert. Die Generation seiner Großeltern wie auch die Generation seiner Eltern, mussten schließlich unter dem Zusammenbruch dieser Werte leiden und die Demütigung des verlorenen Krieges und das Ende des so glorreich eingeläuteten Kaiserreichs erleiden.

    Die Eltern des Erzählers, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts geboren, wuchsen im Schatten des verlorenen Krieges und des verletzten Stolzes auf. Die Elterngeneration machte erste demokratische Schwimmzüge, brach diese Übung abrupt ab, ebnete den Weg für die Diktatur, ging mit ihr unter und musste für ihre Mittäterschaft büßen. Auch sein Vater sollte später seinen persönlichen Teil an der Zeche bezahlen. Der Nobelpreis, oder »die höchste Ehrung für einen Wissenschaftler«, wie sich Adolf Butenandt, selbst Nobelpreisträger, ausdrückte, blieb ihm aufgrund seiner Vergangenheit versagt.

    Die Vorkriegsgeneration nutzte die Chancen nicht, die sich ihr innerhalb des kurzen Zeitfensters der Weimarer Republik zum Eintritt in eine demokratische Gesellschaft eröffnet hatte. Sie ließ sich auf Hitler ein. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, der aufflackernde Nationalstolz und der Hochmut des Deutschseins zerstoben in den Katastrophen des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts. Die Generation seiner Eltern hinterließ ein moralisches und gesellschaftliches Desaster.

    Als die Katastrophe nicht mehr verdrängt werden konnte, wurde der Erzähler geboren – in ein materielles und geistiges Trümmerfeld. Nur zögernd begannen sich in der Folgezeit lebenswerte Landschaften zu entwickeln. Die Verschattungen der Eltern- und Großelterngeneration reichten weit in die Nachkriegsjahrzehnte hinein und beeinflussten die Lebensmuster und Lebensentwürfe dieser Generation.

    Einen dieser Entwürfe zeichnet der Erzähler nach. Das Leben eines Deutschen, genauer eines Nachkriegsdeutschen. Sein Leben. Sein Erleben, das durch das Geschehen nach dem Zweiten Weltkrieg und durch die in seinen Eltern und Großeltern sich widerspiegelnden Zeitläufte geprägt ist.

    Der Erzähler ist in diesem rückblickenden, erinnernden Lebensgeschehen kein objektiv Beobachtender, der sein Leben quasi von außen wissenschaftlich durchleuchtet. Vielmehr erlebt er das erinnerte Ich, kommuniziert mit den mehr oder weniger großen Fragmenten seines früheren Ichs, um sie zu decodieren, sie lesbar zu machen, sie zu übersetzen, ihnen eine Gestalt zu geben. In Sprache und Bildern. In poetischen Bildern, gemalt von Gefühlen, Erlebtem, Initiativen und Gedanken, weil er glaubt, nur so die zahllosen Facetten seines Lebensmusters, seiner Lebensmelodie sichtbar machen zu können.

    Er hat keinen Zipfel eines historischen Mantels in der Hand gehalten, er hat nicht Geschichte geschrieben. Aber in ihm und seinem Handeln hat sich Zeitgeschehen kristallisiert. Er möchte herauszufinden, wie ihn die durchlebte Zeit geformt hat. Es ist eine Zeitreise in sein Selbst, das sich in einer Zeitspanne, die mit Brüchen, Verwerfungen und Aufbrüchen übersät ist, behaupten und entwickeln musste: Eine Reise in die Zeit seiner Eltern und Großeltern, in seine Kindheit, das Jungsein, in die Träume, Hoffnungen und Phantasiewelten seiner Jugendzeit; ein Blick zurück auch in die Zeit der ersten Liebesgefühle und -sehnsüchte, des Aufbruchs in die Welt und der Familiengründung; ein Wiedererleben der spießigen und erwartungsvollen Fünfzigerjahre und der verlogenen und großspurigen Sechzigerjahre; die Demaskierung der Vergangenheit und der Beginn des beschwerlichen Wegs in ein demokratisches Deutschland in den 68er Jahren; in den Siebziger- und Achtzigerjahren die Schatten des Kalten Krieges und der atomaren Bedrohung; am Ende des letzten Jahrhunderts schließlich die revolutionären Veränderungen im Arbeitsleben und die Ökonomisierung des sozialen Lebens.

    Geschichte und Geschichten, eingewebt in ein Leben: traurige und heitere, lust- und leidvolle Geschichten; Geschichten über Sexualität, Liebe, Familie, Tod, Hoffnung, Selbstachtung und Würde; Auseinandersetzungen mit den sperrigen Mächten der Notwendigkeiten und des Zufalls.

    Yokohama

    Conrad Schrader ließ ein letztes Mal seinen Blick über das herrschaftliche, zweistöckige Haus mit den auffallenden von Backsteinen eingefassten Rundbogenfenstern und den weiträumigen, liebevoll gepflegten Garten schweifen. Er betrachtete den akribisch geschnittenen, makellosen, saftig grünen Rasen. Keine Unordnung störte sein Auge. Alles war an seinem Platz, ordnete sich unaufdringlich, respektvoll und harmonisch in den Lauf der Dinge. Eine Ordnung im Gleichgewicht. In den über dreißig Jahren seines Aufenthaltes in Japan hat er die Menschen hier, denen das Streben nach Balance und Rücksichtnahme selbstverständlich erscheint, achten gelernt und eine Art seelenverwandte Verbundenheit zu diesem Volk und ihrer Kultur entwickelt.

    Aber hatte Tradition und der damit verbundene Respekt vor tradiertem Wissen und den altehrwürdigen Haltungen, die in Japan so viel galt, und die ihm ebenfalls wichtig war, in der Zukunft eine Überlebenschance? Er hatte keine Antwort darauf, aber es nagten Zweifel in ihm, insbesondere wenn er an die um sich greifenden anarchistischen Zustände in Deutschland dachte, die nichts Gutes verhießen. Er hatte nie einen Hehl aus seiner Meinung gemacht, dass Ordnung, Fleiß, Tatkraft, Disziplin, ordnende Hierarchien und Gehorsam wichtige Elemente in einem Gemeinwesen sind und nur so Fortschritt zu erreichen ist.

    Das japanische Personal, das für ihn das Haus in Ordnung gehalten und in den vorangegangenen fünfzehn Jahren eine Art Familienersatz für ihn bedeutet hatte, war von ihm schon verabschiedet worden. Das Gepäck war auf dem Weg zum Schiff, das ihn wieder nach Deutschland zurückbringen würde. Er ließ sich noch einmal auf der schlichten, weiß gestrichenen Holzbank im Garten seines Anwesens, auf der er oft gesessen und seinen Gedanken nachgehangen hatte, nieder. Er erinnerte sich an die Taufe seines Sohnes, und wie er ihn, anlässlich eines Fototermins, stolz auf eben dieser Bank sitzend in seinen Armen gehalten hatte. Er schirmte seine Augen vor der Sonne ab und ließ sie der untergehenden Sonne folgend über den Horizont schweifen, dorthin wo in der Ferne sein geliebtes Deutschland lag.

    Schrader fühlte Wehmut, Yokohama, der Stadt, die ihm zur zweiten Heimatstadt geworden war, den Rücken kehren zu müssen. Die hiesigen Geschäftspartner und die vielen liebgewonnenen Freunde und Bekannte, die zurückbleiben werden, hatten ihm den Abschied schwer gemacht. Neben den wehmütigen Gefühlen ergriff aber auch die Freude auf sein Vaterland, dessen Entwicklung er von Japan aus aufmerksam verfolgt hatte, von ihm Besitz und er fühlte tiefe Zufriedenheit wieder zu seiner Familie nach Hamburg, von der er jahrelang getrennt leben musste, zurückkehren zu können.

    Insbesondere war er voller Erwartungen, seinen jetzt zweiundzwanzigjährigen Sohn Gerhard wiedersehen und intensiveren Kontakt mit ihm haben zu können. In den letzten fast eineinhalb Jahrzehnten, seitdem sein Sohn das Haus in Yokohama verlassen hatte, um mit seiner Mutter und den beiden jüngeren Schwestern nach Hamburg zurückzufahren und auf das dortige Gymnasium zu gehen, konnte er nur in sehr großen Abständen seine Heimatstadt besuchen. So drohte auch der Einfluss auf die Erziehung und Entwicklung seiner Kinder ihm mehr und mehr aus den Händen zu gleiten. Seine Kontakte nach Deutschland beschränkten sich hauptsächlich auf das Briefeschreiben, was er, soweit ihm die Geschäfte dazu Zeit ließen, ausgiebig tat. Doch noch so viele Briefkontakte konnten nicht seine Sehnsucht nach seiner Frau und den lebendigen, unmittelbaren Gesprächen mit seinen Kindern befriedigen.

    Conrad Schrader, ein stattlicher, groß gewachsener Mann von nahezu ein Meter neunzig Körpergröße, mit einem charaktervollen langgestreckten Kopf, schmalem Gesicht und hoher Stirn, der an die Gesichtszüge des letzten Zaren Nikolaus II. erinnerte, einem stets gepflegten Schnurrbart und lebendigen, sanften Augen, hatte jedoch nie mit seinem Schicksal gehadert. Es war sein Wunsch und eine lockende Herausforderung gewesen, nach Japan zu fahren, um dort zu arbeiten und zu leben.

    Das Fernweh hatte ihn schon früh gepackt. Als er im Jahr 1896 sein Dienstjahr beim 2. Grenadier Regiment No. 101, König von Preußen Kaiser Wilhelm, absolvierte und er fast so alt war wie jetzt sein Sohn, keimte in ihm der sehnsuchtsvolle Drang, die ferne Welt kennen zu lernen. Er wollte sie nicht nur aus dem einengenden Blickwinkel von Hamburg aus entdecken, sondern sie unmittelbar erleben und eigene Erfahrungen mit den unbekannten und geheimnisvollen Ländern machen.

    Gleich nach Ableistung seines Militärdienstes verließ er Deutschland. Sein Vater, der Kaufmann August Schrader, der gute Beziehungen zu einigen Kaufleuten in Argentinien hatte, ermöglichte es ihm, seine Sehnsucht nach der Ferne zu befriedigen und mit beruflicher, kaufmännischer Perspektive zu verbinden.

    Im Mai 1897 schiffte sich Conrad Schrader nach Buenos Aires ein und begann seine kaufmännische Laufbahn in Argentinien. Er verdiente seinen Lebensunterhalt dort zunächst als Mitarbeiter der Drogueria Alemana De Adolfo Müller & Aliverti in Buenos Aires und dann im Kontor der Fa. Paats, Roche & Co. des Hamburger Kaufmanns Heinrich Behrmann, zu dem sein Vater in Hamburg gute Beziehungen pflegte.

    Neben der Familie Behrmann hatte er engen Kontakt zu der ebenfalls aus Hamburg stammenden Familie Hübbe, dessen Sohn Teilhaber der in Buenos Aires ansässigen Fa. Hübbe & Co. war, und der im Jahr 1898 seine Schwester Maria heirateten wird, die nach der Hochzeit zu ihrem Mann nach Buenos Aires zog. Conrad Schrader blieb knapp drei Jahre in Buenos Aires, und es war ihm vergönnt, im letzten Jahr seines abwechslungs- und lehrreichen Aufenthaltes in Argentinien mitzuerleben, wie seine Schwester Maria ihre Tochter Luise in Buenos Aires zur Welt brachte.

    Als ihm sein Vetter Paul Schrader, der eine Export-Import-Firma in Japan führte, anbot, in sein Geschäft in Yokohama einzusteigen, packte er, noch ungebunden und ohne eigene Familie, diese Gelegenheit am Schopfe und sagte seinem Vetter zu. Über 30 Jahre lange sollte Japan seine zweite Heimat werden.

    Als 25-jähriger verließ er Argentinien und fuhr im Dezember 1899, kurz nach der Geburt seiner Nichte Luise, mit dem Dampfschiff France über Brasilien, wo er im Bundesstaat Bahia Station machte, und Dakar im Senegal nach Marseille. Schon kurz nach der Jahrhundertwende hatte er die Passage nach Ostasien gebucht, so blieb ihm kaum Zeit sich von seiner Familie in Hamburg zu verabschieden. Am 6. Februar 1900 verließ der Reichsdampfer König Albert mit zweihundert Passagieren an Board unter Capitän O. Cüppers den Hafen von Genua. In Port Said hatte er zum ersten Mal Landgang und bewunderte, fasziniert von der technischen Leistung, den erst vor einunddreißig Jahren fertig gestellten Suezkanal. Über Colombo, Sumatra, Singapur, Shanghai und Nagasaki ging die lange Schiffsreise dann weiter in das ferne und exotische Japan bis nach Yokohama.

    Zwei Jahre nach seiner Ankunft in Yokohama wurde er Teilhaber in der Firma seines Vetters Paul Schrader & Co. Weitere vier Jahre später hatte er sich dort etabliert, ökonomische Unabhängigkeit und bescheidenen Wohlstand erreicht. Alles was zum Glück des vitalen dreißigjährigen Mannes jetzt noch fehlte, war die Gründung einer Familie, ohne die sein Leben unvollständig gewesen wäre.

    Bei einem seiner Aufenthalte in Hamburg war ihm auch dieses Glück beschieden worden. Er verliebte sich in die Tochter eines Hamburger Gymnasialprofessors und heiratete nach einer Verlobungszeit von einem Jahr am 26. Januar 1906 die 26-jährige Eva Bubendey in Hamburg. Mit der von den Schwiegereltern festlich ausgerichteten Hochzeit war sein sehnlich gehegter Wunsch nach Gründung einer eigenen Familie in Erfüllung gegangen.

    Jetzt fehlten dem traditionsbewussten Familiengründer allerdings noch Kinder, insbesondere ein Sohn, um den Familiennamen Schrader auch für die Zukunft sichern zu können. Für den Nachwuchs schien seine Ehefrau alle Voraussetzungen mitzubringen. Eva stammte selbst aus einer kinderreichen Familie mit acht Geschwistern und war von robuster Gesundheit. Sie war etwa ein Kopf kleiner als ihr groß gewachsener Mann. Ihre Kopfform war im Kontrast zu Conrad eher rundlich mit einem etwas bäuerlich anmutenden, gutmütigen Gesichtsausdruck und hohen Backenknochen. Ihre gekräuselten, flusigen und widerspenstigen Haare, in der Mitte gescheitelt und auf dem Hinterkopf mit einem Knoten oder manchmal auch mit einer nach innen gerollten Welle zusammengehalten, passten zu dem ungezierten und unkomplizierten Charakter seiner Ehefrau.

    Eva kehrte bald nach der Hochzeit ihrer Vaterstadt ebenfalls den Rücken und begleitete ihren Mann in das ferne und fremdartige Yokohama, wo sie bemüht war, sich in das gesellschaftliche Leben der dort lebenden Deutschen zu integrieren, ihrem Mann den Haushalt zu führen und ihm eine gute Ehefrau zu sein.

    Vier Jahre nach der Hochzeit schenkte sie ihrem Mann am 27. Juni 1910 frühmorgens um 6.45 Uhr den erhofften Sohn. Im Abstand von jeweils etwa zwei Jahren brachte sie, noch während ihres Aufenthaltes in Japan, zwei Töchter, Gisela und Anka, zur Welt.

    Das Leben der deutschen Familien in Yokohama war geprägt von Gesellschaftsabenden und häufigen Kontakten zu den anderen dort lebenden Deutschen. Die jüngeren Kinder der deutschen Kolonie besuchten den deutschen Kindergarten, die Älteren gingen in die deutsche Schule von Yokohama. Die Erwachsenen diskutierten über das Hauspersonal, die Geschäfte, den Kaiser, den Ersten Weltkrieg und vor allem über die chaotische und von vielen der in Japan lebenden Deutschen als schmachvoll empfundene Situation ihres Vaterlandes nach dem Versailler »Friedensdiktat«, wie sie den Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg bezeichneten.

    Hochrangige Besucher aus der Heimat, wie zum Beispiel die Visite von Prinz Karl Anton von Hohenzollern in Yokohama, an die sich Conrad Schrader gerne erinnerte, durchbrachen ab und zu die tägliche Routine. Sie wurden als willkommene gesellschaftliche Glanzpunkte in der japanischen Diaspora begrüßt und gefeiert – und sie lieferten für lange Zeit reichlich Gesprächsstoff. In besinnlichen Stunden betrachtete Conrad Schrader immer wieder gern das Foto, das ihn mit anderen Herren der Deutschen Kolonie in Japan zusammen mit dem Prinzen zeigte, auch ein wenig stolz zum erwählten Kreis derjenigen Deutschen zu gehören, die der Hohenzollernspross um sich versammelt hatte.

    Seitdem seine Frau mit den Kindern am Ende des zweiten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts nach Hamburg zurückgefahren war, um seinem Sohn Gerhard nach fast zehnjährigem Aufenthalt in Japan am Matthias Claudius-Gymnasium in Hamburg-Wandsbek eine solide deutsche Gymnasialbildung zu ermöglichen, vermisste er, mehr als er sich eingestehen wollte, in seinem Haus in Yokohama seine Frau und seine Kinder – zumal die Zahl der Familienmitglieder inzwischen beträchtlich gewachsen war, er aber zu dieser erweiterten Familie nur losen Kontakt pflegen konnte. Nach den drei noch in Japan geborenen Kindern Gerhard, Anka und Gisela komplettierte sich der Kindersegen der Familie Schrader um zwei weitere Töchter: Ortrud, die kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges das Licht der Welt erblickte, und Hilde, die im ersten Jahr der neuen Republik geboren wurde.

    Belastungen, die sich aus den zum Teil erheblichen beruflichen Risiken ergaben, musste er jetzt weitgehend mit sich allein abmachen. Er entbehrte den verständnisvollen, einfühlsamen Gesprächspartner, den er immer in seiner Frau gesehen hatte Sie verstand es, ihn zu stützen und Spannungen und Ängste zu mildern.

    Da er seine Schiffe häufig unversichert die weite, gefahrvolle Fahrt zurücklegen ließ, weil eine Versicherung der Schiffe und ihrer Ladung oftmals zu teuer war und sich unter kaufmännischen Gesichtspunkten nicht rechnete, baute sich eine spannungsvolle Nervosität in ihm immer dann auf, wenn ein von ihm gechartertes Schiff mit seinen Waren den Hafen verließ. Ihm war dabei nur allzu bewusst, dass oftmals seine Existenz und die seiner Familie davon abhingen, ob das Schiff unbeschädigt den Zielhafen erreichte oder nicht. Zwar war mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt die Möglichkeit des Totalausfalls eines Handelsschiffes erheblich gesunken, es blieb aber trotz allem ein erhebliches Restrisiko, das er tragen und ertragen musste. Seine Angespanntheit legte sich erst dann, wenn das Telegramm mit der Nachricht der erfolgreichen Löschung der Fracht im Zielhafen eingetroffen war.

    Trotz der familiären Einschränkungen, er mochte bis zu diesem Zeitpunkt das interessante und manchmal aufreibende Leben, das er in Japan als Kaufmann geführt hatte, nicht missen. Jetzt aber, als nicht mehr ganz so junger und wagemutiger Endfünfziger, nährte ihn die Hoffnung, im Kreis seiner Frau und seiner fünf Kinder ein etwas geruhsameres Leben als Hamburger Kaufmann führen zu können.

    Heimkehr in das Land der Väter

    Als Conrad Schrader jetzt im Jahr 1932 in sein Wandsbeker Haus in die Schloßstrasse 8 zurückkehrte, hatte sein Frau Eva unter Mithilfe ihres Dienstmädchens alles für sein Kommen vorbereitet. Das zweistöckige Haus, in dem vormals sein Vater August Schrader lebte, der Kaufmann in Helsinki war, und viele Jahre, wie er selbst auch, im Ausland gelebt und gearbeitet hatte, war gründlich gereinigt worden. Seinem Arbeitszimmer im ersten Stock hatte Eva in besonderem Maße ihre Aufmerksamkeit geschenkt und alles so hergerichtet, wie es ihr Mann erwarten konnte. Die Unterlagen für die zeitaufwändige Ahnenforschung, die er mit Begeisterung und großem Engagement betrieb, und der er in Zukunft mehr Zeit widmen wollte, warteten an dem gewohnten Platz im Regal, lange Zeit schon unberührt, auf die weitere Bearbeitung.

    Die beiden jüngsten Kinder, Ortrud und Hilde, waren besonders gespannt auf ihren Vater, da sie ihn nur von den relativ kurzen Besuchen in Hamburg kannten und noch nie längere Zeit mit ihm zusammen verbracht hatten. Insbesondere wollten sie mehr über die Geheimnisse des Hauses, in dem sie wohnten, erfahren. Wie ihr Vater ihnen geschrieben hatte, war das Haus auf dem Grundstück des vormaligen Gasthauses Zum letzten Heller errichtet worden – und die Geister der Wirtshausbesucher, die dort einstmals ihren letzten Heller versoffen hatten, sollen immer noch, so behauptete es der Vater, an manchen Tagen durch das Haus spuken.

    Sein Sohn Gerhard, der sich den Naturwissenschaften zugewandt hatte, und dem er gern noch einige kaufmännische Kenntnisse mit auf den Lebensweg geben wollte, studierte zu dieser Zeit Chemie an der Universität in Göttingen, wo ihn die Vorlesungen und Seminare des Nobelpreisträgers von 1928, Adolf Windaus, begeisterten. Dort begegnete er auch Adolf Butenandt, dem elf Jahre nach Windaus der Nobelpreis verliehen wurde, und der sein zukünftiges Leben entscheidend beeinflussen und enger Begleiter seines wissenschaftlichen Lebens werden sollte.

    Die älteste Tochter Gisela arbeitete im Jahr von Conrads Rückkehr als Hauswirtschafterin auf verschiedenen Gütern in Schweden und dem Nordfriesischen Klanxbüll, während die achtzehnjährige Tochter Anka noch das Gymnasium in Hamburg besuchte.

    Die Begrüßung durch die Familie war überschwänglich. Freudentränen gaben nicht nur den Augen seiner Familie einen feuchten Glanz, sondern machten sogar vor ihm nicht Halt, auch wenn er versuchte, die Tränen, die sich verstohlen in seinen Augenwinkeln eingenistet hatten, diskret und etwas verlegen mit seinem blütenweisen Taschentuch ungeschehen zu machen.

    Unter die freudigen Gefühlslagen, endlich wieder in der Heimat und bei seiner Familie sein zu können, mischte sich bei seiner Ankunft in Hamburg aber auch die Sorge um Deutschland, die er aus Japan mitgebracht hatte, und die jetzt realistischere Gestalt annahm, unmittelbarer von ihm Besitz ergriff. Ein Deutschland, dem er sich patriotisch und mit Stolz verbunden fühlte, welches aber aus seiner Sicht im Chaos zu versinken drohte. Eine Nation, in der seiner Meinung nach Bonzentum und endloses parlamentarisches Gezänk die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Landes lahm legten und, wie er meinte, gute deutsche Tugenden wie Selbstzucht, Gehorsam, Pflichterfüllung und Mut zur Tat auszuhöhlen drohten.

    Als nüchterner, gebildeter und wohlhabender hanseatischer Kaufmann fühlte Conrad Schrader eine innere Distanz gegenüber den, so seine Worte, »proletenhaften« Nationalsozialisten und deren martialischen Massenauftritten. Gleichzeitig weckten die Nationalsozialisten aber auch Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in ihm, wie wohl auch bei den nahezu vierzehn Millionen Deutschen, die ihrer Stimmung bei der Juli-Wahl zum sechsten Reichstag Ausdruck verliehen, indem sie die NSDAP wählten. Als Hitler dann am 30. Januar 1933, einem sonnigen, aber frostigen Montag (die Meteorologen registrieren in Berlin minus drei Grad) von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde, schob er seine vorhandenen Bedenken beiseite und glaubte, dass mit dem neuen Reichskanzler auch eine bessere Zukunft für Deutschland anbrechen würde. Er gehorchte nicht mehr seinem kaufmännisch geschulten, rationalen Verstand, der ihm Vorsicht gebot, sondern ergab sich den neu aufkeimenden deutschnationalen Gefühlsneigungen und begeisterte sich an der erhofften Tatkraft des Führers, der alles zum Besseren wenden würde. Er ahnte damals nicht, dass die Jahreszahl 1933, die auf ewig in die Weltgeschichte eingebrannt sein wird, und mit der für Millionen Menschen Tod und Verderben verbunden war, auch für ihn selbst, sein Haus und Teile seiner Familie schicksalhaft werden würde.

    Am 25. April 1933, als der Reichstag bereits entmachtet worden war, die Länderparlamente zerschlagen waren, die SA zum Boykott jüdischer Geschäfte, von Rechtsanwälten und Ärzten aufgerufen hatte, als rund zehntausend Regimegegner nach dem Reichstagsbrand verhaftetet und in Dachau und Sachsenhausen die ersten Konzentrationslager zur Internierung von politischen Gegnern der Nationalsozialisten eingerichtet worden waren, schrieb Conrad Schrader einen Brief an seinen Sohn Gerhard:

    Am 1. Mai ist wieder große patriotische Feier. Der Nationalsozialismus ist oben auf, es wird aber doch auch noch Rückschläge geben, mit der jugendlichen Begeisterung allein wird es nicht geschafft. Aber trotzdem ist die nationale Sammlung das einzige Mittel, das uns noch geblieben war, um nicht ganz im allgemeinen Chaos zu versacken. Dafür wollen wir Hitler dankbar sein, denn allein seinem Willen und seiner Energie ist das große Werk gelungen. Man denke nur an die Gleichschaltungen der Regierungen und lese einmal jetzt wie Stresemann und andere kämpfen mussten, nur um einen Zusammenhalt der einzelnen Länder aufrecht zu erhalten, besonders gegen den versteckten Kampf der kath. Kirche in Bayern. Dabei haben sie sich aufgerieben und wo sollte daneben noch Zeit für andere Lebensnotwendigkeiten des ganzen Volkes bleiben. Hoffentlich ist der Parlamentismus jetzt vorbei. Die jetzigen Führer sind frei von den Fesseln und können ihre ganze Kraft der Sache der Gesamtheit widmen. Mögen sie auch manchmal daneben hauen, deswegen soll man ihre Arbeit nicht stören. Bleibt die Regierung fest und sauber, so wird auch das Beamtentum zur vollen Pflichterfüllung erzogen und vorbildlich wirken. Das mit den schönen Worten ‚Bonzentum’ bezeichnete Gebaren, war eine bedenkliche Verfallserscheinung. Wirtschaftlich müssen wir noch lange hinaus von der Hoffnung

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