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Innerself Twist
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eBook235 Seiten3 Stunden

Innerself Twist

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Über dieses E-Book

Das übergreifende Thema ist Selbstreflexion. Getrieben von dem Wunsch, sich selbst bloßzulegen, schont sich die Erzählerin in keinster Weise. Spricht unbequeme Sachverhalte aus. Zeigt dem Leser, dass auch innerlich zerbrochene und zerrissene Charaktere zu so etwas wie Glück finden. Die Sprache ist bisweilen hart. Trägt fragmentarischen Charakter im Satzbau. Und hat als Protagonistin eine Person, die sich gerade in einer schwierigen Phase ihres Lebens befindet. Nach einer ihr angetanen Gewalttat liegt sie im Krankenhaus und lässt auf Wunsch ihrer Ärztin ihr Leben Revue passieren. Innerhalb dieser Unterhaltung, die weitestgehend in Prosa und ohne viel Dialog abgebildet ist, sowie einem erzählerischen Rahmen werden die bereits kurz erwähnten Themen behandelt. Es ist zudem nicht alltäglich, einen Roman zu lesen, dessen Hauptcharakter sich gerade mitten im Wechsel des Geschlechts befindet. Was der zweite übergreifende Rahmen des Buches ist. Mir ist es, als Protagonistin, ein persönliches Anliegen, mit „Innerself Twist“ Vorurteilen über dieses Thema entgegenzutreten. Ohne die übliche Sprache der Boulevard-Medien in solchen Fällen. Und ohne Angst, auch die Gründe manchen Fehlverhaltens der Transgender aufzuzeigen. Ich bin der Überzeugung, dass die Literatur solche Charaktere braucht. Innerlich zerrissene Figuren tauchen sicher nicht gerade selten auf. Doch die allerwenigsten befinden sich in diesem Zwiespalt, der nicht nur die Psyche, sondern auch die Physis betrifft.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum2. Feb. 2016
ISBN9783741214370
Innerself Twist
Autor

Beatrice Sophia Schulz

Beatrice Sophia Schulz (Jahrgang 1979) lebt und arbeitet als freie Autorin im Vogelsberg. Zu ihrem Themenkomplex gehören außer den in diesem Buch behandelten noch Interessengebiete wie Theologie, linke Politik und - Heavy Metal.

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    Buchvorschau

    Innerself Twist - Beatrice Sophia Schulz

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    I – Gedanken rasen

    Flackerndes Neonlicht. Der Geruch nach Desinfektionsmittel. Lindgrün gekachelte Wände. Das ist das erste, was ich nach dem Aufwachen wahrnehme. Keine Erinnerung, wie ich hierher komme. Kein Zeitgefühl. Und keine Ahnung, wo ich eigentlich bin.

    Mein Kopf schmerzt. Das linke Auge lässt sich nicht ganz öffnen. Ich greife an meinen Kopf und fühle weiches Leinen unter meiner Hand. Die Finger tasten sich weiter hinab. Und wieder Schmerzen, als ich die Haut am linken Auge berühre. Wo kommt diese Schwellung her? Und warum liege ich auf die rechte Seite gebettet? Versuchen zu denken. Gedanken rasen durch meinen Kopf. Laute Musik. Drinks. Bekannte und fremde Gesichter fliehen schemenhaft der Erinnerung.

    Ein Schmerzschub durch den ganzen Körper erfasst mich, schüttelt mich, so dass ich schreien will. Kein Laut kommt über meine Lippen. Selbstbeherrschung siegt über den Körper. Kurzes Aufatmen. Dann falle ich zurück ins Dunkel.

    Nach dem Aufwachen ist der unangenehme Geruch schwächer. Das Licht immer noch grell, aber ruhig. Noch auf der Seite liegend, blicke ich um mich. Ein gewöhnliches Krankenhauszimmer. Rechts neben dem Bett die Nachtkonsole. Links das Fenster. An der Wand gegenüber dem Bett ein Tisch und zwei Stühle. Ich bin alleine. Der Kopf schmerzt noch, doch das Denken fällt mir leichter. In kleinen Schüben festigt sich die Erinnerung. Laute Musik. Drinks. Bekannte und fremde Gesichter nehmen Form an. Das Gefühl, der Schädel möchte platzen. Das Erinnern ist anstrengend. Schmerz rast in den Kopf die Wirbelsäule hinauf vom Ausscheidungspunkt. Unvorstellbar, dass sich der Schmerz von dort ausbreitet. Kein Gefühl in dieser Körpergegend. Sagt mein Hirn. Doch das Gefühl kommt langsam zurück. Zu schnell. Mit dem Gefühl kommt das Erinnern. Ich will mich nicht erinnern. Nicht noch einmal die Demütigung spüren. Nicht noch einmal Hilflosigkeit spüren. Und wieder rasende Gedanken.

    Verachtenswert. Das ist der Mensch in seinem Trieb. Schlimmer als jedes Tier, das spürt, wann es seinem Trieb nachgeben darf. Der Mensch kennt keine Grenzen. Muss seine Triebe unterdrücken. Lässt ihnen oftmals freien Lauf, anstatt sie in sinnvollere Dinge zu kanalisieren. Doch wenn unbefriedigte Lust, die Gier nach Geld und Macht in welcher Form auch immer die Oberhand über das Denken bekommen, fallen die Schranken. Verstehen wird man es nie. Erklären wird es nie jemand können. Soziologen, Psychologen, immer auf der Suche nach Antworten für das Verhalten der Menschen. Man findet vielleicht Ursachen für bestimmte Verhaltensmuster. Gründe, warum eine Person zu dieser wurde und sich nicht zu einer anderen entwickelt hat. Zurück wird immer Ratlosigkeit bleiben ob der Unberechenbarkeit von nicht erklärbaren Verhaltensmustern. Kein Mensch kennt den anderen wahrhaftig. So tief das Vertrauen und das Sich-Öffnen auch sein mag. Zurück bleiben immer tiefere Abgründe, heimliche Spalten, in denen sich Verborgenes einnistet. Immer bereit, sich bei der erstbesten Gelegenheit aus der Tiefe empor ins Licht zu bringen. Den Gegenüber in Erstaunen zu versetzen, in Verständnislosigkeit zurück lassen. In Angst. In Schrecken. Selten genug kommt das Gegenteil vor. Bedauerlich.

    Geht mir solches durch den Kopf, fühle ich mich bisweilen zu zynisch, zu nah am Misanthropischen. Und doch bin ich kein Menschenhasser. Dafür fühle ich mich zu optimistisch. Und ebenso oft fühle ich mich bedauernswert ob dieses Optimismus. Der Mensch an sich ist verachtenswert nicht nur seiner Heimlichkeit, seines Triebes wegen. Er ist verachtenswert, weil er von einem Tag auf den anderen lebt. Nicht über sich nachdenkt. Selbstreflexion für den morgendlichen Blick in den Spiegel hält. Härter als ich es meine klingt dies. Im Gegensatz zu anderen Menschenverächtern stellt sich dieses Gefühl bei mir erst nach einer Weile ein, wenn ich jemanden näher kenne. Leider trifft dies auf viele Menschen zu. Zu viele. Leider, weil diese Verachtung meinem Positivismus zuwiderläuft. Im Gegenzug ist es Arroganz, was die meisten an mir feststellen würden. Ohne sich zu fragen: Warum? Man kann auch nicht erwarten, dass der Mensch seine Oberflächlichkeit ablegt. Sie ist bequem. Schützt vor tiefen Gedanken. Vor dem Sich-Öffnen-Müssen. Problematisch wird es, treffen Oberflächliches und Tiefsinniges aufeinander. Wer lange genug über sich selbst reflektiert hat, ohne Angst, was dabei alles zum Vorschein kommen mag, durchschaut in der Regel sehr schnell oberflächlich Denkende und Handelnde. Die Wahl: entweder auf die Banalität des Anderen eingehen oder sie diesem vor Augen führen. Im Normalfall entscheide ich mich für die Konfrontation. Nicht um der Provokation willen. Sondern weil immer auch ein Stückchen Hoffnung in mir lebt, dass durch ein gutes und offenes Gespräch der Mensch zumindest in dieser Hinsicht geändert werden kann. Und innerlich geändert werden will. Das Stückchen Hoffnung atomisiert sich mehr und mehr. Oberflächlichkeit regiert. Ist das allgemeine Vorbild. Der Trieb hat es leicht.

    Arroganz. Überheblichkeit. Narzissmus. Begriffe, die schon viele Menschen mit mir assoziiert haben. Bin ich selbstverliebt, bloß weil ich zu oft in den Spiegel schaue und andere Menschen vielleicht zu oft ihre Unterlegenheit spüren lasse? Ist es überheblich zu nennen, bloß weil ich einen inneren Drang habe, andere Menschen zu verbessern? In ihrer Ausdrucksweise. Ihnen ein bisschen mehr Wissen zu geben. Sie zum Lernen, Denken, zur Selbstreflexion anspornen möchte. Und ist es wirklich arrogant, wenn ich neuen Bekanntschaften zunächst etwas reserviert gegenüberstehe? Weil ich es nicht vermag, von Anfang an offen dem Gegenüber zu sein? Mich innerlich in einen Kokon einspinne? Zu viele Verletzungen in der Vergangenheit sind der Grund. Mit Fäusten gestoßen zu werden, mit Füßen getreten zu werden. Im übertragenen Sinne. Nicht sonderlich angenehm. Stets am Rande stehend. Unverständnis auf beiden Seiten. Innerlich komplett von der Gesellschaft, von allen anderen Menschen abgekapselt. Es wird ruhig in mir. Ich lerne zu denken, zu reflektieren. Luge aus dem Kokon heraus. Erkenne die eigenen Fehler. Beginne mich langsam wieder zu öffnen. Lasse andere Menschen an meinem Leben teilhaben. Werde wieder und wieder verletzt. Der Kokon zum Verkriechen ist schnell wieder gesponnen. Das Wesen spaltet sich in der Verpuppung. Nach draußen dringt nur noch der kleinste Teil von mir. Freundlich, zuvorkommend, verständnisvoll. Trotz allem arrogant. Weil ich niemanden in mein wahres Wesen hineinblicken lasse. Bis auf wenige Ausnahmen. Diese wissen es. Spüren es vielleicht sogar. Und doch wird mit jedem Jahr, das vergeht, der Kokon immer brüchiger. Je mehr ich das innerlich Kaputt-sein akzeptiere, je mehr ich den oberflächlichen Kontakt zu anderen Menschen lerne, desto mehr lasse ich einen weiteren Teil meines versteckten Wesens nach außen fließen. Ich hasse und verabscheue mich in diesen Momenten. Denn jeder Nanopartikel mehr, den ich anderen Menschen von mir zugestehe, ist ein potenzieller Angriffspunkt. Und ich wage zu behaupten, dass genau daran auch die meisten Beziehungen scheitern. Freundschaften. Partnerschaften. Man weiß zu viel vom anderen und benutzt dieses Wissen als Waffe. Als Druckmittel. Missbraucht das Vertrauen. Oder wird missbraucht. Seelisch. Körperlich. Aber darf ich mich deshalb von allen Kontakten abschotten? Ist es möglich, auf die Dauer nur das Unwesentlichste von sich preiszugeben, und trotzdem besonders in Gesprächen nicht als zu verschlossen, als zu absonderlich – als arrogant zu gelten? Wenn man sich durch alle erlittenen Verletzungen hindurch zu einem zynischen Menschen wie ich es bin entwickelt hat, muss die erste Frage verneint werden. Der Zynismus frisst einen auf. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich noch nicht zum Menschenhasser mutiert bin. Eigentlich, wegen des ambivalenten Wesens meines Denkens. Optimismus trotz Verachtung. Man lernt damit zu leben, ist für die meisten anderen Menschen jedoch schwer zu fassen. „Man weiß eigentlich nie so richtig, mit welchem Teil deiner Persönlichkeit man es gerade zu tun hat, weil du so viele in dir vereinigst." Das stimmt. Und hebt mich allerdings auch nicht von anderen Menschen ab. Freunde behandelt man anders als Bekannte. Kollegen anders als Freunde. Das spielt in die zweite Frage hinein. Möglich ist es, wenn man sich Zeit mit dem Öffnen lässt. Wenn es auch ungeheuer schwierig ist. Dadurch nicht gleich alles Vertrauen zu verspielen. Die Kunst ist, die Balance zu finden. Auf einen gewissen Ausgleich zu achten. Wissen, wann man sich wie weit dem Partner öffnet. Ich lerne noch.

    Es gab und gibt Momente in meinem Leben, in welchen ich wünschte „normaler zu sein. Nicht ständig innerlich mit mir selbst kämpfen zu müssen. Über ein „natürliches Selbstbewusstsein zu verfügen, dass auf andere nicht gleich arrogant wirkt. Vieles von dem, was mein Innerstes geformt hat, habe ich selbst verschuldet. Wenigstens kann ich mir das eingestehen. Reflexion. Immer wieder und wieder. Und ständig die Frage: Wo liegt letztlich der Auslösepunkt für all dies? Es gibt keine Antwort. Es gibt nur ineinander spielende Faktoren. Mühselig zu fragen: Was wäre, wenn...? Doch genau damit hält sich die Menschheit auf. Was wäre, wenn. Es mag im geschichtlichen Kontext interessant sein. Was wäre, wenn Alexander nicht in Babylon gestorben wäre. Was wäre, wenn Hannibal nach seinem Sieg in Cannae nach Rom marschiert wäre. Was wäre, wenn die Sachsen über Karl gesiegt hätten. Was wäre, wenn das Stauffenberg-Attentat gelungen wäre. Prognostizierungen. Für das Leben um uns herum, für das eigene Leben, völlig unerheblich. Man lebt dadurch zu sehr in der Vergangenheit. Vergisst die Gegenwart. Verliert die Zukunft möglicherweise ein wenig aus dem Blick. Den Fehler habe ich in der Vergangenheit selbst oft genug gemacht. Es bringt nichts. Höchstens Melancholie. Sehnsucht nach Vergangenem. Unwiderruflich verloren, vorbei.

    Warum geht mir das alles gerade jetzt durch den Kopf, frage ich mich. Während ich mich auf die andere Seite drehe. Dabei versuche, so wenig wie möglich den Steiß zu belasten. Ist es der Versuch, den letzten Abend zu erklären? Ist es Selbstschutz? Zu denken, statt zu fühlen? Alles zusammen. Ich blicke aus dem Fenster, sehe dichte grüne Baumwipfel, eine Kapelle oder Kirche auf einem Hügel. Helle, saubere Häuser ziehen sich vereinzelt diesen hinab. Weiter unten stehen sie gedrängter, schmutziger. Das eben Gedachte resümiert sich nochmals beim Anblick der Landschaft. Die gedrängten Häuser als die Masse der Menschen. Einer wie der andere. Ohne große Unterschiede. Die Häuser am Hügel die abseits stehenden Menschen. Die über sich nachgedacht haben und von den anderen sichtbar sich abheben. Die Kapelle auf dem Gipfel der Punkt, wo jeder Mensch hin streben sollte. Eine Illusion. Am Grund zu bleiben ist angenehmer. Der Aufstieg zu beschwerlich. Zudem fällt es leichter, sich im Gewimmel zu verstecken. Nicht aufzufallen. Bloß keine Besonderheit zeigen. Anstrengender ist es, empor zu streben und trotzdem das Halbdunkel der Masse ertragen zu müssen. Oder zu wollen. Vor solchen Menschen, meist sozial engagiert, habe ich hohen Respekt. Wahrscheinlich deshalb, weil diese meinem Charakter so verschieden sind.

    Die Gedanken rasen weiter durch meinen Kopf. Helle und schmutzige Häuser. Eigentlich auch eine schöne Allegorie für den Geist des Menschen. Die hellen, vereinzelt stehenden als Sinnbild für einen gewissen Intellekt. Die gedrängten, schmutzigen für das Gewöhnliche. Den Durchschnitt. Was prinzipiell ja nichts Schlechtes ist. Wären die Unterschiede innerhalb dieses Durchschnittes manchmal nicht so extrem krass. Auf der einen Seite Menschen wie du und ich. Die ganz vernünftig denken. Sich auch durchaus Gedanken über komplexere Zusammenhänge machen. Allerdings eher zum Zeitvertreib als um wirklich nach Lösungen zu suchen. Andererseits findet man gerade auch in diesem Durchschnitt Menschen, die an Dummheit nicht zu überbieten sind.

    Zwei Personen blitzen dabei plötzlich aus meinen Gedanken auf. Prinzesschen. Chrissi. Die Erste Teilnehmerin einer Jobcenter-Maßnahme. Die Zweite Sozialpädagogin und Leiterin derselben. Man stelle sich Prinzesschen so vor: 160cm groß, zu viele überflüssige Pfunde auf der Hüfte (ohne dabei wirklich fett zu sein), Halbitalienerin, Lieblingsfarbe Schweinchenrosa. Mit einem Charakter, den sie wohl auf dem Sperrmüll gefunden und dort gleichzeitig ihr Hirn liegen gelassen hat. Das ist nicht nett formuliert. Aber zutreffend. Und bevor jetzt ein falsches Bild entsteht durch meine Beschreibung: Äußerlichkeiten an sich sind mir völlig egal. Hier dienen sie lediglich der Anschauung. An einer parallel laufenden Weiterbildung im gleichen Haus (einem gemeinnützigen Bildungsträger) habe ich selbst teilgenommen. Daher kenne ich sie. Und meine beste Freundin, Sammy; nebenbei erwähnt. Wir waren alle drei in der gleichen Abteilung eingesetzt. Im Sonderpostenlager des Gebrauchtwarenkaufhauses (GWK) dieses Bildungsträgers. Primär sollten wir dort unten Ordnung halten und Kunden bei Fragen zur Verfügung stehen. Dort unten: weil sich das Sonderpostenlager im Keller befindet. Sekundär waren wir Mädchen für alles. Sammy und ich waren Vollzeit anwesend. Das heißt acht Stunden täglich. Eher waren es mehr. Prinzesschen und ein paar andere hatten lediglich drei Stunden abzusitzen. Absitzen: das trifft es schon perfekt. Ein typischer Vormittag sah bei ihr so aus: Arbeitsbeginn um halb neun, drei Stunden herumsitzen, Feierabend um halb zwölf. Das ganze kann man jetzt Faulheit nennen. Trifft ebenfalls zu. Der erste Tag von Sammy und mir im Sonderpostenlager sah da noch völlig anders aus. Prinzesschen war zu diesem Zeitpunkt schon einige Zeit länger da. Die Maßnahmen liefen zwar parallel, jedoch um drei Monate zeitversetzt bei Beginn und Ende. Was hat sie sich ins Zeug gelegt, um uns alles zu zeigen und zu erklären. Was alles gemacht werden muss. Auf was wir achten müssen. Zwei Wochen später sah es dann so aus: Sammy und ich schmissen diesen Keller alleine (zusammen mit einer Festangestellten, die jedoch auch nur halbtags arbeitet). Faulheit. Na gut. Darüber kann man sich aufregen oder sie einfach hinnehmen. Schnell merkten wir allerdings, dass Prinzesschen nicht nur faul, sondern auch dumm war. Wieder so ein hartes Wort, was ich für gewöhnlich vermeide zu verwenden. Dummheit hat meiner Meinung nach nichts mit Wissen oder Nicht-Wissen zu tun. Sondern mit Nicht-Wissen-Wollen. Für mich sind dumme Menschen solche, die nicht nur an einer einmal gefassten Meinung festhalten, egal wie falsch sie auch sein mag, sondern sich dazu auch noch gegen jedes bisschen Neues sträuben. Man könnte ja in Versuchung geraten, nachzudenken. Schlimmstenfalls über sich selbst. Prinzesschen war und ist solch ein Mensch. Bemerkbar wurde dies, als nach einigen Wochen die Rede auf meine Intersexualität kam. Zugegeben: das ist kein einfaches Thema für jemanden, der sich noch nie damit auseinander gesetzt hat. Jedoch halte ich mir zugute, dass ich dieses für jeden so einfach wie nur möglich erklärbar mache. Einmal bin ich gescheitert. An ihr.

    Wir saßen an diesem Vormittag draußen, um Zigarettenpause zu machen. Prinzesschen und ich. Irgendwie kam die Rede auf die Transition (die Geschlechtsanpassung) und ob es da nicht schwierig ist, einen Partner (oder besser: eine Partnerin in meinem Falle) zu finden. Das bejahte ich. Was auch sonst. Sie stellte dann die Frage, warum das so ist. Der Charakter sei doch entscheidend. Was für eine Heuchlerin, da sie selbst immer zuerst nur auf das Aufsehen eines Menschen achtete. Ich stellte ihr die einfache rhetorische Frage, wie sie sich fühlen würde, wenn ihr eine sympathische Person, bei der man sich Hoffnung auf eine Beziehung macht, auf einmal mitteilen würde, dass sie transsexuell sei. Wohl bemerkt: Diese Frage bereitete ich ihr in einigen kurzen Sätzen. Da setzte bei ihr das Denken aus. Sie fing an, mir von ihren Ex-Kerlen zu erzählen. Und erzählte. Und erzählte. Ich stellte ihr die Frage nochmal. Schaute ihr dabei in die Augen. Und was ich da sah, war Dummheit. In dem Moment war klar, dass wir beide nie auf einen Nenner kommen würden in den Folgemonaten. Dass ich ihr intellektuell haushoch überlegen war. Was sie auch spürte. Und sie in der Zeit nach dem Gespräch aggressiv mir gegenüber werden ließ.

    Faulheit. Dummheit. Charakterlosigkeit. Das letzte war wohl auch die entscheidende Erfahrung mit ihr. Irgendwann saßen Sammy und ich zusammen mit einem weiteren Teilnehmer unserer Gruppe im Aufenthaltsraum und hörten am Laptop Musik. Metal. Was sonst. Da kam Prinzesschen: Wir sollen diesen blöden Scheißdreck ausmachen. Davon würde sie Kopfweh bekommen. Wer sowas hört, ist doch geistesgestört. Da reichte es mir. Man kann mich gerne als „speziell, als „abgedreht bezeichnen. Dem stimme ich vollkommen zu. Aber geistesgestört? Man merkt, dass Prinzesschen noch nie mit geistig eingeschränkten Menschen zu tun hatte. Dann hätte sie möglicherweise den Widerspruch entdeckt. Ich blickte zu Sammy. Sammy warf mir einen Cool-Down-Blick zu. Meinte zum Prinzesschen, dass sie sich gar nicht so aufregen bräuchte, bloß weil ihr etwas nicht gefiele. Von uns hätte sie schließlich auch niemand dumm angemacht, als sie einige Wochen vorher mit völlig hässlichen und ihr überhaupt nicht stehenden goldfarben lackierten Fingernägeln ankam. „Du willst deine Meinung sagen? Bitte! Aber dann sachlich und ohne ausfallend zu werden!"

    Faulheit. Dummheit. Charakterlosigkeit. Nicht viele Menschen vereinen diese Eigenschaften zu gleichen Teilen in sich. Meistens herrscht eine vor. Wer sie besitzt. Das komplette Gegenteil dazu ist Chrissi. Sozial engagiert. Intelligent. Direkt und höflich auch bei unangenehmen Aussagen. Wer mit Problemen zu ihr kommt, kann auf Lösungsvorschläge oder zumindest auf ein offenes Ohr hoffen. Leider werden gerade solche Menschen als Kollegen oder als „seelische Müllhalde" sehr geschätzt. Weil sie sich ausnutzen lassen. Weil es ihnen schwer fällt, Nein zu sagen. Das Haus am Hügel ist diesen Menschen sicher. Jedoch vergessen sie nie den mitleidsvollen Blick ins Halbdunkel nach unten. Das ist wohl der Grund, weshalb ich Chrissi so schätze. Sie hat eine enorme Menschenkenntnis, was sich in persönlichen Gesprächen auch zeigt. Gerade denke ich daran, weshalb ich zu solchen Menschen ein derart gutes Verhältnis habe. Einerseits ist es sicherlich der zumindest im Groben diametrale Unterschied im Charakter. Andererseits führt der intellektuelle Anspruch, der Positivismus auch aufeinander zu. HD, der Leiter der Maßnahme, an welcher Sammy und ich teilnahmen, ist ebenfalls so ein Fall. Oder die neueste Bekanntschaft unter den Pädagogen. Den Kopf zieht es immer in diese Richtung. Intellektualität und Menschlichkeit. Und das Herz? Betrügt mich. Wird von meinem Geist überlagert. Lässt der Sehnsucht nach Harmonie und Familie keine Ruhe. Und unterliegt doch immer im Ringen um das Erkennen von Gefühlen.

    Krass, schießt es mir in den Kopf. Unangenehme Menschen provozieren solch einen Wortschwall. Bei angenehmen fallen einem die Worte so schwer, einfach weil der Mensch da ist. Während ich im Bett des Krankenhauszimmers liege, wundere ich mich noch über diese Gedankengänge. Häuserschluchten, der Hang und Gipfel eines Hügels. Mein komplizierter Charakter. Der kurze Einschlag eines Sekundenbruchteils, um all dies zu denken. Die Gedanken hören auf zu rasen. Der Kopf schmerzt. Für kurze Zeit nicke ich ein.

    Ich werde wach, als jemand leise an die Tür klopft und sie vorsichtig öffnet. Marie und eine Ärztin kommen herein. Marie: meine Freundin. Sie hat geweint.

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