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Mikwe: Roman
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eBook176 Seiten2 Stunden

Mikwe: Roman

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Über dieses E-Book

Die Familie Haberstein wird bei dem Versuch, dem Holocaust zu entkommen, voneinander getrennt. Der Riss zerstört fortan nicht nur die Familie, sondern immer wieder auch die Beziehungen zu anderen. Über Generationen hinweg bleiben tiefe Wunden in den Seelen und Körpern aller Familienmitglieder, die erst Jahrzehnte später heilen, wenn sich für zwei der Nachkommen, Bella und Nathan, das Schicksal erfüllt. Zyta Rudzka rekonstruiert in ihrer glasklaren, lichten Prosa die Vergangenheit einer jüdischen Familie und beleuchtet schlaglichtartig die zerrissenen Identitäten der Familienmitglieder. Sie findet zu einer zwingenden, lyrisch verdichteten Form, die die Verletzungen, die der Holocaust dieser Familie zugefügt hat, spürbar werden lässt. Ein poetisches Meisterwerk über Liebe und Ablehnung, aber auch über die Macht des Schicksals!
SpracheDeutsch
HerausgeberSecession Verlag
Erscheinungsdatum3. März 2014
ISBN9783905951387
Mikwe: Roman

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    Buchvorschau

    Mikwe - Zyta Rudzka

    Inhalt

    [Hanna Haberstein erblickte ihn nur ein einziges Mal.]

    Er zeigte sich in der Abenddämmerung jenes Tages, als ihr der Fuß von einem feuchten Baumstumpf im Holzlager an der Stalowa-Straße abgerutscht war. Sehr schnell wurde der Knöchel steif, und innerhalb von zwei Stunden schwoll das Bein an bis zum Knie.

    Wie jedes kranke Kind im Haus wurde Hanna im Gästezimmer auf das große Bett gelegt und von Kissen umgeben, die mit einer Mittelfalte versehen und mit Schwänen bestickt waren. Die weißen Vögel ähnelten sich alle mit ihren gebogenen Hälsen, den emporgestreckten Schwänzen und den kaum angedeuteten Schnäbeln.

    Hanna hatte das Gästezimmer schon immer gefallen, es schien höher als die anderen Räume zu sein, weniger vom Tageslicht erhellt, denn die Fenster hier waren aus kleinen, rechteckigen, mit beinahe unsichtbaren Drähtchen versehenen Kobaltglasscheiben zusammengesetzt.

    An den Wänden hingen Bilder in schweren Rahmen mit Ornamenten in Form von Lorbeerblättern, die mit Rotgold überzuckert waren. Da war eine Winterlandschaft und in ihr ein Herr im schweren, mit einem Lederriemen gegürteten Mantel, der ausgestreckte Arm übergehend in ein einfaches Jagdgewehr, das mit dem gleichen Braun gemalt war wie sein Überwurf. Und in der oberen Ecke ein Hase im Schnee, gezeichnet mit Purpur und Ocker. Ganz in der Nähe, an derselben Wand, hingen in einfachen Holzrahmen die Porträts bärtiger Herren. Einer von ihnen war – ihre Mutter hatte es ihr gesagt – ein Wasserträger aus Sandomierz, die anderen wohl irgendwelche Vorfahren ihres Vaters. Weiter weg gab es ein Ölbild in Milchkaffeetönen, auf dem sich im Hof einer Synagoge ein junges Paar vermählte, unter einem zweifachen Baldachin aus Stoff und Himmel.

    Cela hatte eine klare Gemüsebrühe gekocht, die das Fieber senken und den Knöchel abschwellen lassen sollte. Langsam, damit das Geschirr auf dem Tablett sich nicht bewegte, kam sie nach oben und setzte sich still auf den Bettrand.

    Sieh du dir die Schwäne an, ich werde dich füttern …

    Sagte sie und flößte Hanna die dampfende Flüssigkeit ein, indem sie geduldig mit einem Silberlöffel von der Brühe schöpfte.

    Jedes Mal, wenn Hanna den Mund öffnete, schloss sie zugleich die Augen, als ob ihr das hülfe, das heiße Getränk herunterzuschlucken. Dabei hörte sie der Haushälterin zu, wie sie in einem leisen, zärtlichen Singsang zu ihr sprach:

    Braves Mädchen, braves Mädchen. Du musst gesund werden, morgen sollst du doch mit Mama und Mordka nach Otwock fahren, zur Erholung.

    Wiederholte sie wie einen Refrain jedes Mal, wenn sie den randvollen Löffel hob. Und nur einmal fügte sie nach dem Wort »Erholung« seufzend hinzu:

    Als ob ihr euch irgendwie überarbeitet hättet!

    Sie stellte den leeren Teller auf den Nachttisch neben die Lampe, tunkte einen Lappen in Essigwasser, wechselte die Kompresse auf Hannas krankem Bein und klopfte mit einer geschickten, energischen Bewegung die Kissen hinter dem Kind fest.

    Bevor sie wegging, sagte sie noch, bereits in der Tür stehend und mit einer Kopfbewegung auf den Nachttisch deutend:

    Und da ist Lindenblütentee. Zum Schwitzen. Trink ihn nicht jetzt, sondern vor dem Einschlafen. Aber unbedingt in einem Zug!

    [Vor dem Einsetzen der Dämmerung kamen Vater und Mutter, Mordka und Cela mehrfach ins Zimmer, um Hanna zu besuchen.]

    Sie wechselten die Umschläge, strichen ihr den kleinen Pony aus der Stirn, rückten die Kissen zurecht. Der Vater sang ein Lied von einem armen Gefangenen, dessen Strophen jeweils mit den Worten »Unter der Zelle …« begannen. Mordka lachte laut und zeigte dabei ihre Zahnlücken, während die Mutter und Cela so taten, als ob sie vor lauter Bemühen um die Kranke nichts bemerkten.

    Schließlich hörten alle vier auf, das Mädchen zu besuchen; das Abendessen hielt sie unten fest. Sicherlich waren sie von dem Unfall der vierjährigen Hanna sehr betroffen, denn diese hörte, still im Bett liegend, keinerlei Tischgespräche. Durch die halb geöffnete Tür des Speisezimmers drangen nur abgeschwächte Laute ins Gästezimmer, gleichsam in Nebel eingewickelt oder in einen milchweißen Kokon: Geräusche von Messern und Gabeln auf Porzellan, das anämische Klappern von Teelöffeln in Tassen oder das Schnaufen von Tee, der aus der Kanne fließt.

    Hanna lag ruhig da, gar nicht wie ein Kind in ihrem Alter. Schon früher hatte es Momente gegeben, in denen sie erstarrt war, als würde sie auf halbem Wege ausruhen und Kraft schöpfen, oder als würde sie sich an der fetten, heißen Luft ergötzen wie die kleinen Eidechsen, die zwischen Steinen herumtollen.

    Die Eltern waren deswegen besorgt. Zwar gehörte auch ihre ältere Tochter Mordka nicht zu den wilden Kindern, die dauernd durch die Gegend sprangen, doch ihr Temperament bedingte eine gemäßigte, gleichbleibende und leicht vorhersehbare Lebhaftigkeit, wie ihr Vater sich ausdrückte.

    Anfangs nahm man an, dass Hanna trotz ihrer gesunden Rundungen und ihrer Rote-Rüben-Bäckchen von irgendeiner stillen Krankheit geplagt werde, die im Verborgenen ihr Vernichtungswerk vollbringe. So unternahm man denn entsprechende Analysen und Messungen, nur um sich über die guten Ergebnisse zu wundern. Das Einzige war, dass Hanna vielleicht etwas zu langsam wuchs. Aber alle Frauen in Zundels Familie glichen exotischen Perlhühnern: Sie waren klein, flink und gepunktet.

    [Nach vielen Arztbesuchen versuchte man, jene Momente der Erstarrung einer eigentümlichen kindlichen Melancholie oder, noch schlimmer, einem verborgenen psychischen Defekt zuzuschreiben, ja, in ihr gar erste Anzeichen eines rätselhaften Amoks, einer merkwürdigen Form von Wahnsinn zu sehen.]

    Unser armes Hannele … Vielleicht kommt das alles daher, dass ich mich über den Fuhrmann erschrocken habe, der uns Glückwünsche zu Rosch ha-Schana bringen wollte und in der Tornische darauf wartete, dass du ihm ein paar Groschen gibst.

    Suchte Hannas Mutter nach Gründen, als sie vor dem Zubettgehen ihre Haare kämmte.

    Das muss damals fast im siebten Monat gewesen sein, denn ich hatte schon einen riesigen Bauch, und bis zum fünften Monat ist bei mir ja gar nichts zu sehen …

    Hier stockte sie und wurde nachdenklich, die Hand mit dem Kamm erstarrte in der Luft.

    Kinder sind manchmal merkwürdig, das weißt du doch. Mira Karmelin erzählt schließlich auch dauernd, dass ihr Mosze mit irgendwelchen komischen Geschichten alle Kinder erschreckt.

    Murmelte Zundel, während er sein Hemd aufknöpfte.

    Er dachte, es müsse wohl das Gerede seiner Frau sein, das ihn so aufrege, als er merkte, dass seine Hände wie gelähmt waren; nur mit Mühe gelang es ihm, die Manschettenknöpfe zu öffnen und aus den Ärmeln zu ziehen.

    [Die durch das bleiverglaste Fenster im Gästezimmer sichtbare Terrasse war für Hanna ein Garten, ein Traum von einem Garten, mit hängenden, im Himmel schwebenden Rabatten, Blumenkästen und Beeten.]

    Sie blickte auf die Holzkästen und auf die Tontöpfe mit getrimmten Büschen in Apfel- oder Birnengestalt. Wie Uhrenpendel wippten gestreifte Efeupflanzen von einer Seite zur anderen. Die Pflanzen keimten, wuchsen, trieben Knospen, blühten und starben ab. Aufgrund des kobaltblauen Schimmers der Fenster drangen die Farben der Blütenblätter kaum zu Hannas Augen durch, sie zerbröckelten langsam und ruhig, um schließlich fahl zu werden und zu verbleichen, im Einklang mit den Tagen und den Jahreszeiten.

    Hanna stützte den Ellenbogen auf ein Kissen, damit sie die ganze Terrasse im Blick hatte, bis hin zu den Untersätzen der Philodendren, die jemand nach den Eisheiligen aus der Wohnung geschafft hatte. Nie war es Hanna gelungen, diesen Jemand zu sehen, und da plötzlich bemerkte sie in der Dämmerung auf der Terrasse Gott. Er war noch unschuldig, schüchtern wie die vom Wind unberührten Traubenkirschbäume, die das Holzlager ihres Vaters umgaben. Langsam ging er umher, jung, still wie die Kerzen auf dem Tisch am Freitagabend. In ein weißes Gewand gekleidet, sah er aus wie ein Bräutigam am Morgen, ohne Müdigkeit und Schweiß auf der Haut. Aus irgendeinem Grunde rief dieses ruhige und reine Bild, das aus einer von Celas Geschichten hätte stammen können, in Hanna den dringenden Wunsch hervor zu schreien, abgehackt und wild zu schreien, wie ein verzweifelter Vogel, verloren in der Nacht. Sie schrie mit geschlossenen Augen, ihre Hände um die Nähte des Kissens gekrallt.

    Sie schrie weiter, obwohl der Vater sie an sich drückte und Mutter und Schwester auf dem Bettrand saßen und ihre Hände hielten.

    Der Herrgott ist zu mir gekommen.

    Und wer Hanna besucht hat, ist nicht der Schöpfer all dieser Menschen; doch sein Name lautet Herrgott, nicht lieber Gott wie bei Kindern.

    Aber warum hat er dich denn besucht? Um Hannele zu trösten wegen ihres kranken Beinchens, ja?

    Fragte die Mutter, wobei sie Hanna die Haare aus der Stirn strich.

    Und wieder hörten sie ihren Schrei, sie riss sich aus ihren Umarmungen los und trat mit den Beinen um sich.

    Zundels Anweisung folgend, verließen sie raschen Schrittes das Zimmer, schlossen die Tür und gingen schweigend nach unten, um dort ganz langsam, ohne Appetit ihr Abendbrot zu beenden.

    Hanna schrie noch sehr lange, schließlich wurde sie still, und als Mordka die Tür einen Spaltbreit öffnete und hineinschaute, sah sie, wie ihre Schwester schlief, den Kopf auf die rechte Schulter gelegt, den Mund geöffnet, und ihre Hände fuhren durch die Luft, als spielte sie Akkordeon oder Klavier, oder als drückte sie unsichtbare Knöpfe.

    [Mordka Haberstein sprach nicht über ihr vorheriges Leben, über das Harz aus dem Białowieża-Wald, so dick wie Buchweizenhonig, über Hanna, wie sie hinter den Kobaltglasscheiben des Gästezimmers auf der Lauer lag, über die verschwitzten Hinterteile der Pferde, die mit Strohbündeln abgerieben wurden, über den ehemaligen Seifenladen von Maks Romańczuk, aus dem ein Kiosk mit Sodawasser und Kürbiskernen geworden war, wo sie Bonbons für den Vater und weiche Birnen kaufte, die klebten wie das Harz aus dem Białowieża-Wald.]

    Mit keinem Wort erinnerte sie daran, wie Mosze Karmelin mit seiner Mutter zu Besuch gekommen war, um süßes Challa zu essen. Sein Vater führte Schlachtvieh aus Pommern ein.

    Mosze, der von seinem Vater schon seit früher Kindheit an die Familiengeschäfte herangeführt worden war, hatte Mordka mit vollem Mund schreckliche Geschichten zugeflüstert, von Menschen, die jüdische Kinder entführten, um aus ihnen koschere Wurst zu machen. Tagsüber würden sie zur Tarnung in Schlachthöfen, Fleischständen, Kuttlereien, Darmhandlungen oder auf Fleischmärkten arbeiten. Und es komme vor, dass sie die Eltern der unschuldigen Kinder, die entführt werden sollten, auskundschafteten, indem sie sich als Züchter von Stopfgänsen aus Łomża, als Speckverkäufer für christliche Kunden aus dem Gouvernement Żytomierz oder als Lieferanten schwerer Ochsen aus Terespol ausgäben. Einigen von ihnen sei es sogar gelungen, in den Großfleischereien von Szmul Malowańczyk und Icek Wołowicz Anstellung zu finden. Aber die Leute, die das meiste Kinderfleisch verkauften, hatte Mosze geflüstert, stammten aus den Scharen der kleinen Zwischenhändler und Abdecker.

    Mordka Haberstein hatte ihrem Freund, während er diese Dinge erzählte, entsetzt ins Gesicht geschaut, wobei sie geistesabwesend an der Spitze ihres Zeigefingers lutschte, der daraufhin wie von selbst die Krümel des süßen Challa aufsammelte.

    Aber du musst keine Angst haben, dich holen sie bestimmt nicht! Hatte Mosze schließlich versichert.

    Du bist zu sehnig. Du siehst noch übler aus als Vieh für den Abdecker!

    Hatte er auf sie eingeredet und die Stirn des Mädchens betrachtet, die bedeckt war von einem Gewirr blauer Äderchen, wie die Marmorfläche des Schreibtischs im Büro ihres Vaters.

    Das liegt bei uns in der Familie. Meine Mama hat auch solche, und Hanna, und Tante Golda.

    Hatte Mordka schließlich entgegnet, wobei sie an ihrem süßen Finger schleckte.

    Zyta Rudzka würden die gerne holen, oder Szlama Lesser!

    Hatten sie lachend die Namen einiger Dickerchen aufgezählt.

    [Mordka Haberstein wusste nicht, was aus Mosze geworden war.]

    Sie erinnerte sich, dass er merkwürdige Augen gehabt hatte, sepiabraun, wie weißlicher Senf. Solch eine Iris hatte sie seitdem nie wieder gesehen, obwohl Emigranten aus der ganzen Welt in ihre Gerberei kamen.

    Jedes Mal wunderte sie sich, dass sie sich nur Moszes Augen gemerkt hatte, nichts anderes, keine Einzelheit seines Gesichts oder seiner Gestalt.

    Das Nachdenken über Polen färbte sich häufig mit Kinderängsten ein, und Mordka stellte sich vor, dass sie ihn erwischt und verwurstet hatten, denn seit die Habersteins von der Wołowa-Straße auf das linke Weichselufer gezogen waren, hatten Tante Mira und Mosze sie nicht mehr zum Kuchenessen besucht. Im Übrigen aß man auf dieser Weichselseite nachmittags nicht mehr zu Hause. Man ging in die berühmten Cafés von Muranów. Und wenn

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