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Bärentöter: Der Auserwählte
Bärentöter: Der Auserwählte
Bärentöter: Der Auserwählte
eBook261 Seiten3 Stunden

Bärentöter: Der Auserwählte

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Über dieses E-Book

Vom Bettelknaben zum Helden: Im Schicksalsjahr 1348 begleitet der Bauernjunge Wilfried einen Viehtreck durch Bayern. Während die Pest bereits in Italien wütet, treiben gewissenlose Räuber ihr Unwesen und schrecken auch nicht vor heidnischen Ritualen zurück. dem steht sich der Vierzehnjährige beherzt entgegen. Als er gegen herrschendes Unrecht rebelliert, bekommt er es mit gefährlichen Mächten zu tun.....
SpracheDeutsch
HerausgeberFabulus-Verlag
Erscheinungsdatum16. Sept. 2015
ISBN9783944788395
Bärentöter: Der Auserwählte

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    Buchvorschau

    Bärentöter - Roland Pauler

    Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Lektorat: Marion Voigt, www.folio-lektorat.de

    Umschlaggestaltung: Büro für Gestaltung Röger & Röttenbacher

    Herstellung: Fabulus-Verlag, Fellbach

    Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

    ISBN 978-3-944788-39-5

    Besuchen Sie uns im Internet unter:

    www.fabulus-verlag.de

    Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung von BookaBook, der Literarischen Agentur Elmar Klupsch, Stuttgart.

    Inhaltsverzeichnis

    1. Ein Retter aus bitterer Not

    2. Wilfrieds Zukunftstraum

    3. Der Aufbruch

    4. Die erste Nacht auf Wacht

    5. Wilfried Bärentöter

    6. Begegnungen

    7. Ein Ritt um Leben und Tod

    8. Tag der Erkenntnis und Trauer

    9. Fragen über Fragen

    10. Tag des Zorns

    11. Unterm Galgen

    12. Abschied von der alten Heimat

    13. Das Wiedersehen

    14. Der Racheschwur

    15. Unerwartete Veränderungen

    16. Die Bettelleute

    17. Bereit zum Aufbruch

    18. Der Überfall

    19. Die Wut auf den Seher

    20. Fest in Straubing

    Nachwort

    1. Ein Retter aus bitterer Not

    Frühjahr 1348

    »Mutter, Mutter, eine Herde kommt! Hörst du nicht das Muhen und Blöken?«

    »Gebe Gott, dass sie bei uns rasten! Sonst müssen wir wieder im Dorf betteln. Himmel, wie ich das hasse!«, entfuhr es Lisa. In ihrer Stimme verschmolzen Hoffnung und Verzweiflung. Machten sie nicht Rast, hinterließe die Herde nichts als Verwüstung rund um den Hof. Kräuter und Gras, aus denen sie die tägliche Suppe kochte, wären dann abgefressen. Schadenersatz bekäme nur der Grundherr, für den sie die Hofstelle gegen bedrückend hohe Abgaben bewirtschaftete.

    Vom Wald her galoppierte ein Reiter heran, ihm folgte mit riesigen Sätzen ein schwarzer Hund. »Mutter, es ist Zoltán! Der übernachtet doch immer bei uns. Er winkt uns zu.«

    Wenig später zügelte der Ungar seinen feurigen Rappen und schwang sich vor ihren Augen elegant aus dem Sattel. Ein prächtiger Anblick, dieser Ungar: Er trug sein gelbes, mit dunkelblauen Drachen besticktes Hemd weit offen. Seine sonnengebräunte Brust bedeckte ein dichter dunkler Haarpelz. Eine Narbe auf der linken Stirn und Wange endete in einem struppigen schwarzen Bart und gab seinem scharf geschnittenen Gesicht mit der breiten Nase und den Mandelaugen den Ausdruck von Verwegenheit. Unter seinem breitkrempigen Strohhut quollen schwarze Locken hervor. Ein Bein steckte in einem blauen, das andere in einem gelben Beinkleid. Beide Strümpfe waren mit Bändern oberhalb des Knies festgebunden und hatten eine feste Ledersohle. An den Fußgelenken hingen goldene Sporen mit gezacktem Rad.

    Bewaffnet war er wie ein Ritter. An seinem breiten Ledergürtel trug er in einer mit bunten Steinen verzierten Holzscheide ein Schwert, daneben einen Dolch in einer einfachen Lederscheide. Am Sattel hingen eine Streitaxt und ein Rundschild, bemalt mit einem dunkelblauen feuerspeienden Drachen.

    Als Zoltán beim Absteigen das rechte Bein über den Pferderücken schwang, entdeckte Wilfried, dass er unter seinem Hemd ein Kleidungsstück trug, das den Unterleib bedeckte. So etwas hatte er im Dorf noch nie gesehen. Er hatte keine Ahnung, dass es so etwas wie Unterhosen gab. Nicht einmal der Grundherr trug eine.

    Im Vergleich zu Zoltán sahen Lisa und ihre Kinder erbärmlich aus. Ihre dürren Körper bedeckte ein einfaches knielanges Hemd aus rohem Leinenstoff. Sie gingen barfuß. Immerhin waren ihre blonden Haare nicht so verfilzt wie die anderer Dorfbewohner. Lisa achtete auf ihr Äußeres und das ihrer Kinder, kämmte sie täglich und suchte dabei die Haare nach Läusen ab. Sie hatte bessere Zeiten gesehen und sich einen Rest von Stolz bewahrt. Ihre blauen Augen leuchteten jetzt freudig und hoffnungsvoll zugleich.

    Zoltán war von altem ungarischem Adel und reich. Er zog mit den Herden seines Vaters durch halb Europa, um die Tiere zu verkaufen. Oder er tauschte sie gegen Waren ein, die sein Vater an Geschäftsleute weitergab, mit deren Hilfe er seinen Reichtum mehrte. Diesmal war sein Ziel Nürnberg. Zwar verkaufte er viele Tiere schon unterwegs, wenn ihm der Gewinn angemessen schien, aber für Nürnberg hob er sich den größten Teil der Herde auf. Dort gab es etliche Händler, von denen er im Gegenzug gute Tuche aus Flandern und neuartige Handwerksprodukte bekam.

    Die Familie der Stromer zum Beispiel handelte mit allem, was in Europa kostbar war und Gewinn brachte. Die langjährigen Geschäftspartner seines Vaters hatten feste Niederlassungen in Genua, Mailand, Barcelona und Brügge, waren somit eine der ersten Adressen für edle Stoffe und führten natürlich auch Schuhwerk aus Spanien. Dort verstand man sich nämlich darauf, Leder besonders weich zu gerben.

    Dieses Mal würde er aus Nürnberg, vielleicht auch aus Regensburg, Pfeffer, Zimt, Ingwer und andere exotische Gewürze aus fernen Ländern mitnehmen, die er sonst stets billiger in Venedig erstanden hatte. Wie die Stoffe ließen auch sie sich in der Heimat mit großem Gewinn weiterverkaufen, denn sie waren rar. Nur die Reichsten konnten ihr Essen nach der neuesten Mode würzen. Bei großen Festen stellten sie durch üppige Verwendung dieser kostbaren Schätze Reichtum und Großzügigkeit zur Schau und mehrten damit ihr Ansehen.

    Zoltán zahlte solche Luxusgüter gern mit Rindern und Schafen, die ebenfalls heiß begehrt waren. Frisches Rindfleisch kam vor allem bei den Reichen auf den Tisch. Die Wohlhabenden leisteten sich Schweinefleisch; die Armen waren froh, wenn manchmal Geräuchertes oder Gepökeltes auf den Tisch kam.

    Tauschgeschäfte waren für alle Seiten vorteilhaft: Über Geld oder Edelmetall verfügte ein jeder Händler und es hatte einen festen Wert, aber Rinder ließen sich andernorts wieder mit Gewinn verkaufen. Ein weitblickender Handelsmann besaß in Stadtnähe Bauernhöfe. Dort konnte das vom langen Marsch abgemagerte Vieh in kurzer Zeit Gewicht zulegen und gegen einen ordentlichen Aufpreis verkauft werden.

    Für Zoltán hing der Wert seines Viehs von Nachfrage und Angebot ab. Kamen gleichzeitig mehrere Viehtreiber in eine Stadt, handelten die Käufer den Preis herunter. Er musste dann billiger verkaufen oder zur nächsten Stadt weiterziehen. Das war sein Risiko. In diesem Jahr war es besonders groß, weil in Italien die Pest wütete und einen Teil der Bevölkerung dahingerafft hatte, darunter auch viele Reiche. Den Viehzüchtern war zuverlässige Kundschaft weggestorben.

    Zoltán verstand und sprach mehrere Sprachen – zumindest das für ihn Notwendige davon. Bis auf ein paar ungarische Reiter begleiteten ihn jedoch stets einheimische Treiber zu Pferd und zu Fuß. Es war gut, sie dabeizuhaben, denn es gab oft Ärger. Bei jedweden Streitigkeiten hatten Fremde schlechte Karten. Ihnen gegenüber waren Bauern, Bürger und sogar die Adeligen misstrauisch.

    Wilfried brachte Sturm, Zoltáns Hund, eine Schüssel mit Wasser. Dann führte er das Pferd in den Stall, nahm ihm den Sattel ab und rieb das schweißnasse Tier diensteifrig mit Heu ab. Er wollte von Anfang an seine Nützlichkeit unter Beweis stellen. Wer weiß, suchte Zoltán vielleicht noch einen Treiber? Wilfried hätte ihn nur zu gern begleitet. Ihn lockten Verdienst und Abenteuer.

    Mit nasser Schnauze und wedelndem Schwanz baute sich Sturm vor ihm auf und schaute ihn erwartungsvoll an. Er war ein wuchtiger, kampferprobter Hund mit kurzem glänzendem Fell und bedrohlichem Gebiss – der absolute Herr der Hundemeute, die tatkräftig mithalf, Zoltáns Herden zusammenzuhalten und zu beschützen. Wilfried hatte schon vor Jahren Freundschaft mit ihm geschlossen. Er hatte ihm stets etwas zu fressen gegeben. Diesmal leckte Sturm seine leere Hand. Wilfried streichelte und umarmte das Tier.

    Wie gern hätte er einen Hund gehabt, doch die Familie hatte selbst nicht genug zu essen. Wie sollte da noch ein Hund satt werden? Mutter hatte in der letzten Zeit das Mehl zum Brotbacken mit Stroh, Gras, Wurzeln und allem gestreckt, was irgendwie essbar erschien. Gar oft bekamen sie davon schreckliche Blähungen, die Fürze stanken bestialisch und so manches Mal plagte sie Durchfall. Jetzt war das Mehl aufgebraucht und Mutter sammelte alle möglichen Kräuter für die abendliche Suppe.

    Neulich hatte Wilfried Glück gehabt: Er jagte einem Bussard eine fette Ratte ab; der Leckerbissen wurde gebraten und unter die drei Kinder verteilt – Mutter verzichtete. Bisweilen erlegte Wilfried mit seiner Schleuder eine Ente oder irgendein anderes Tier. Das gab stets einen Festtag für die Familie. Aber es war gefährlich. Nicht auszudenken, wenn man ihn erwischte, denn das Jagdrecht stand nur dem Grundherrn zu. Der Henker müsste ihm zur Strafe vielleicht sogar eine Hand abhacken. So streng waren die Gesetze. Aber was wagt ein Junge nicht alles, wenn ihn der Hunger derart quält, dass er Käfer und Würmer hinunterwürgt, nur um irgendetwas Nahrhaftes in den Bauch zu bekommen?

    In Deggendorf, dem benachbarten Gerichtsort, waren vor Jahren in einer Zeit größter Hungersnot ein Gehenkter vom Galgen und einige kleine Kinder spurlos verschwunden – in knurrenden Mägen, so munkelten die Leute. Jetzt, da Wilfried erstmals richtigen Hunger kennengelernt hatte, konnte er diese Horrorgeschichten glauben. Stimmten vielleicht sogar die Märchen über die schrecklichen Menschenfresser, die seine Mutter erzählt hatte?

    Lisa führte Zoltán ins Haus, das durch eine Wand von Stall und Scheune getrennt war. Es war ein solide gebautes Haus mit kleinen Fenstern, die bei schlechtem Wetter und im Winter mit genau angepassten Holzbrettern verschlossen wurden. Gedeckt war es mit Schilf- und Strohbündeln, die zwar den Rauch des Feuers hinausließen, den Regen aber nur selten herein. In der Mitte des Wohnraumes brannte ein kleines Feuer, umgeben von viereckig beschlagenen, etwa einen Fuß hohen Steinen. Auf diesen stand ein bauchiger Tonkessel mit Wasser für die Kräutersuppe darin.

    Das Haus war der ganze Stolz ihres Mannes gewesen. Bert hatte es zusammen mit seinem Vater gebaut. Ein Gerüst aus Balken war durch Flechtwerk aus Weidenruten verbunden, das dick mit einem Gemisch aus Lehm und Stroh verschmiert worden war. Diese Wände ließen sich leicht reparieren und hielten den Wind ab. Wilfried hatte seinem Vater oft geholfen, kleine Löcher im Geflecht mit nassem Lehm zu verschmieren. Wenn der trocknete, wurde er hart wie Stein. Der Fußboden war ebenfalls aus festem Lehm.

    Zoltán setzte sich auf die Bank am Tisch. Lisa schenkte ihm einen Becher mit Donauwasser ein. Besseres hatte sie nicht. Bald wurden sie handelseinig. Zoltán wollte eine Ruhepause einlegen und zwei Nächte bleiben – die Tiere sollten sich satt fressen und die Treiber sich erholen. Lisa war hocherfreut, denn das brachte mehr als doppelt so viel Geld in ihre Kasse, wie sie erhofft hatte.

    Und dann fragte Zoltán, ob Bert ihn wieder als Treiber begleiten könne. Lisa brach in Tränen aus, und schluchzend erzählte sie: »Kurz vor Weihnachten, als wir gerade vom Einkauf aus dem Dorf zurückkamen, sahen wir, dass Räuber unsere Tiere wegführen wollten. Ich versteckte mich mit den Kindern. Bert aber rannte zu ihnen und flehte: ›Lasst uns wenigstens die Ziege. Ich brauche ihre Milch für die Kinder. Sonst verhungern sie.‹

    ›Kauf sie uns ab! Gib uns dein Geld!‹, forderte der Anführer. Er war sogar aus der Ferne grässlich anzuschaun. Die eine Augenhöhle war leer, und statt einer Nase hatte er nur zwei Löcher im Gesicht – fast wie ein Schwein.

    ›Ich hab’ kein Geld!‹

    ›Ein Bauer mit so einem feinen Haus und kein Geld? Das glaube ich nicht. Lüg uns nicht an!‹, schrie der Anführer. Die beiden anderen schlugen Bert mit ihren Knüppeln und warfen ihn zu Boden. Sie hielten ihn fest, und der Einäugige stach mit seinem Dolch in Berts Gesicht. Ich sah, wie ihm das Blut die Wange herunterrann. ›Wo sind deine Frau und deine Kinder?‹, brüllte er.

    ›Nicht daheim.‹

    ›Wo sind sie? Lüg uns nicht an!‹, schrie das Monster und schnitt Bert ein Ohr ab. Der schrie vor Schmerz und Angst.

    ›Die Frau ist tot, die Kinder arbeiten beim Grundherrn, weil wir nichts mehr zu essen haben.‹

    ›Sucht noch einmal, ob wir nicht doch was finden. Ich bin mit ihm noch nicht fertig. Gnade dir Gott, wenn du uns angelogen hast.‹ Während die beiden Räuber erneut Haus und Stall durchsuchten und dabei verwüsteten, traktierte ihr Hauptmann Bert mit weiteren Stichen, um ihn zum Sprechen zu bringen oder auch aus bloßem Vergnügen. Aber Bert schwieg tapfer. Ihm war klar, dass diese Bestien auch mich und die Kinder foltern und umbringen würden.

    ›Nichts zu finden‹, meldeten die Spießgesellen nach einiger Zeit. ›Er sagt die Wahrheit.‹

    ›Das nützt ihm nichts‹, zischte der Hauptmann mit Schaum vor dem Mund. Er schnitt Bert die Kehle durch, dass das Blut nur so spritzte. ›Wir brauchen keinen Ankläger!‹ Dann trieben sie den Ochsen, die Kuh und die Ziege davon. Den Hühnern hatten sie die Köpfe abgeschnitten und trugen sie an den zusammengebundenen Füßen davon. Die Räuber waren blutverschmiert wie ein Fuchs nach einem Besuch im Hühnerstall. Wir haben alles beobachtet. Die Angst hat unsere Stimmen Gott sei Dank gelähmt. Die Fratzen der Räuber werden wir nie vergessen. Sie verfolgen uns in unseren Träumen.«

    Die letzten Worte waren so sehr mit Schluchzen vermischt, dass Zoltán Lisa kaum noch verstehen konnte. Er nahm sie fest in die Arme und streichelte sie, um sie zu trösten. Doch dafür gab es keinen Trost. »Wie seid ihr über den Winter gekommen?«

    »Leute im Dorf haben uns geholfen und auch der Grundherr, dessen Hörige wir sind. Bei seinem Lehnsherrn, einem Grafen, war ich seit frühester Kindheit auf der Burg. Dann wurde ich mit Bert verheiratet. Frag nicht nach. Der Graf hatte einen guten Mann für mich ausgesucht. Nicht dass wir je ohne Hunger über den Winter gekommen wären, aber es reichte zum Leben, manchmal gab’s sonntags sogar Fleisch. Und Bert hat immer etwas davon für die Kinder und mich übrig gelassen. Das macht weiß Gott nicht jeder Mann. Ich konnte zufrieden sein.

    Jetzt muss ich Grassuppe mit Wurzeln kochen.«

    Insgeheim hoffte Lisa, der Grundherr werde sie mit einem seiner Knechte verheiraten. Der Hof brauchte einen Bauern und sie wünschte sich einen Mann, der sie genauso gut behandelte wie Bert. Blieb sie allein, musste Wilfried für seine Mutter und die Geschwister sorgen.

    Dass ein Mann sie aus freien Stücken zu seiner Frau machte, wagte sie nicht zu hoffen. Dabei hatte sie in den Zeiten vor der großen Not sehr gut ausgesehen: schlank, aber mit ausgeprägt weiblichen Formen, kräftig, blond mit blauen Augen und vollen Lippen. Nur die Hände waren rau von der vielen Arbeit. Allerdings hatte sie die Lebensmitte längst überschritten, ging schon auf die Dreißig zu, hatte drei Kinder und war bettelarm. Zudem brauchte sie für eine Eheschließung die Zustimmung ihres Herrn. Der Bräutigam müsste sie ihm abkaufen.

    Lisa besaß nicht einmal mehr das Geld zum Kauf von Hühnern; an eine Kuh oder gar einen Ochsen war überhaupt nicht zu denken. Nach der Schneeschmelze hatten die Kinder den Holzpflug gezogen, mit dem Lisa die Erde für die Saat ein wenig aufbrach. Aber dann fehlte es an Hirse zum Säen. Der Hunger war zu groß gewesen, um Körner für die Aussaat aufzuheben. Immerhin wuchsen im Garten Kraut, Rüben, Zwiebeln und Bohnen.

    Ein Feld richtig zu bestellen lohnte sich sowieso nicht, immer wieder zertrampelten Viehherden ihr Stückchen Land. Das hatte auch Bert selten verhindern können. Die Ernte war deshalb schon zu seinen Lebzeiten spärlich ausgefallen – der Boden trug bestenfalls das Doppelte der Aussaat. Andere Bauern ernteten in guten Jahren das Sechs- oder gar Siebenfache.

    Seit Jahren hatten Lisa und ihr Mann ihren Brei damit verdient, dass sie Viehherden Futter und den Treibern Unterkunft und Verköstigung gewährten. Dazu verdingte Bert sich hin und wieder selbst als Treiber und übernahm die verschiedensten Lohnarbeiten auf dem Feld oder beim Hausbau.

    Lisa spann Garn für einen Kaufmann aus Deggendorf. Nach der Geburt von Robert und Hilde hatte der Grundherr sie jedes Mal zur Amme für seine beiden Töchter bestellt. Dort bekam Lisa viel zu essen, damit ihre Milch besonders gut würde. Ihre eigenen Säuglinge erhielten allerdings nur dann Muttermilch, wenn das hungrige Herrenkind satt war. Die Hauptnahrung ihrer Kinder bestand aus Brei. Milch von der Kuh oder Ziege gab Lisa ihnen nicht. Es hieß nämlich, dass Säuglinge den Charakter derer annahmen, deren Milch sie tranken. Lisa wollte keine Kinder mit Ziegencharakter. Wilfried hatte es besser getroffen, er wurde von seiner Mutter gestillt, weil er zwei Jahre vor Rosalinde, der älteren Tochter des Grundherrn, zur Welt kam.

    Wilfried verfolgte vom Stall aus das Gespräch, und noch bevor seine Mutter ihr Herz ganz ausgeschüttet hatte, lief er zu ihr und sagte: »Ich kann Zoltán begleiten.«

    Lisa war erschrocken über den Vorschlag. »Du bist erst vierzehn, das ist viel zu gefährlich! Ich will dich nicht auch noch verlieren! Ich brauche dich hier. Wer soll denn die Gänse und Ziegen der Herrschaft hüten?«

    »Schick ihm Robert und Hilde. In Roberts Alter habe ich das allein besorgt. Bitte, Mutter! Wir brauchen das Geld so dringend. Ich will nicht dauernd Hunger leiden und Grassuppe essen, ich will was tun, um unsere Not zu lindern. Umkommen kann ich auch zu Hause. Papa wurde nicht während des Viehtriebs ermordet. Außerdem bin ich doch bei Zoltán.«

    »Hast du denn keine Angst?«, fragte der. »Wir übernachten oft im Freien, da ist es kalt. Du wirst Nachtwache halten müssen und der Weg ist noch weit. Zwei Wochen sind wir mindestens nach Nürnberg unterwegs. Auf dem Rückweg können wir dich nicht vor der Haustür absetzen, weil wir mit dem Schiff auf der Donau zurückkehren. Das ist schneller, bequemer und sicherer. Aber von Deggendorf aus sind es nur zwei oder drei Stunden zu Fuß. Kannst du schwimmen?«

    »Klar. Vater hat es mir beigebracht, als ich noch klein war.«

    »Dann springst du einfach auf der Höhe eures Hauses vom Schiff oder Floß ins Wasser und schwimmst nach Hause.«

    »Ich habe gar keine Angst und werde meinen Vater gut vertreten.«

    »Na schön, wenn es deine Mutter erlaubt, darfst du mit. Ich lasse ihr deinen Lohn gleich da, und ein paar Pfennige bekommst du von mir beim Abschied, wenn du dich bewährt hast.«

    »Mama, lass mich bitte mit. Schau, der Kari vom Schreiner Heiner geht ganz allein auf die Walz, um bei anderen Schreinermeistern als Geselle zu arbeiten, die viel weiter weg sind als Nürnberg. Er will bis nach Paris und ist kaum älter als ich. Und ich bin immer bei Zoltán und Max und all den anderen. Was soll mir schon passieren? Hier bin ich nicht sicherer.«

    Zoltán zwinkerte Lisa aufmunternd zu, und die erlaubte es nach kurzem Zögern. Wilfried jubelte. Er hatte den Vater schon im letzten Herbst begleiten wollen, doch damals hatte Mutter es verboten. Jetzt fühlte er sich endlich in die Welt der Erwachsenen aufgenommen.

    »Dann mach dich gleich mal nützlich. Die Herde ist schon ganz nah.« Wilfried eilte nach draußen und sah die Rinder, angefeuert durch Schreie und den Lärm der Ratschen, müde herantrotten, dazwischen Schafe. Wilfried hatte noch nie so viel Vieh auf einmal gesehen, und es waren schon große Herden bei ihnen vorbeigekommen. Zehn Reiter und eine Hundemeute umkreisten die Tiere. Etwa ein Dutzend Männer zu Fuß lenkten die Ochsen mit Stockschlägen und Geschrei, drei führten Stiere an Nasenringen – Stiere wurden wegen ihrer Wildheit und Gefährlichkeit nur mitgenommen, wenn sie ein Gutsherr zu Zuchtzwecken bestellt hatte. Dieses Mal bestand anscheinend mehr Bedarf als üblich. Ein verkaufter Bulle brachte mindestens das Vierfache eines Ochsen.

    Die ungarischen Rinder waren überhaupt nicht mit denen der hiesigen Bauern zu vergleichen. Sie waren nicht nur größer, sondern auch wilder und sahen wegen ihrer weit ausladenden Hörner richtig gefährlich aus. Aufgewachsen in der ungarischen Steppe, hatten sie noch nie einen Stall gesehen. Es waren Wildtiere, die sich dem menschlichen Willen nicht so leicht beugten. Mit Lärm und Stockschlägen lenkten die Treiber die Herde in die gewünschte Richtung. Bewaffnet mit einem Stock und Vaters Ratsche über dem

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