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Letzte Tage: Boxerroman
Letzte Tage: Boxerroman
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eBook241 Seiten3 Stunden

Letzte Tage: Boxerroman

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Über dieses E-Book

Toni, früher DDR-Landesmeister im Boxen, ist ein erfolgreicher Profitrainer: Er formt aus wütenden jungen Männern zukünftige Champions.
Boxen ist Tonis Leben, und so schließt er mit dem undurchsichtigen Box-Manager Bornemeyer einen Vertrag. Zu Tonis hoffnungsvollen Talenten zählt Alex. In kurzer Zeit führt er ihn zum Europameistertitel. Zum Champion aufgestiegen, zeigt Alex allerdings im Kampf gegen seinen Herausforderer Schwäche und gibt ohne Not auf.
Neben Alex wirkt Rico wie ein jüngerer Bruder. Toni hat ihn schon als 14-Jährigen in sein Camp und in sein Haus geholt. Rico bringt dem väterlichen Trainer grenzenloses Vertrauen entgegen. Die Wut über den frühen Verlust des eigenen Vaters hat er in seinen Fäusten.
Doch dann unterbreitet Bornemeyer - selbst unter Druck - Toni einen unsittlichen Vorschlag: Rico soll in einem spektakulären Schaukampf den haushohen Favoriten Alex herausfordern - Bruder gegen Bruder im Kampf um die Europameisterschaft. Millionen Zuschauer sollen das Duell bei einer Fernsehübertragung verfolgen. Es geht um das ganz große Geld.
Toni muss sich entscheiden. Soll er seinen Vertrag hinschmeißen, das Boxen, seine Existenz, aufs Spiel setzen? Oder soll er, wie es Bornemeyer von ihm fordert, den überlegenen Alex auf den ungleichen Faustkampf vorbereiten?
Er zaudert. Doch hat der Verrat an sich selbst nicht schon viel früher begonnen? Damals, als sein bester Freund nach dessen Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR in Schwierigkeiten geriet?
Der Treuebruch an seinen "Söhnen" wird folgen. Es kommt zum Showdown. Sportliche Werte des Rings, Respekt und Fairness, gelten unter Bornemeyers Ägide nicht. Und Toni hat seine Prinzipien längst im Alkohol ertränkt.
Im Boxerroman von Matthias Eckoldt ist jeder Satz ein Treffer. Seine Worte kommen wie Boxschläge, kraftvoll und präzise, wenn er die Duelle im Ring beschreibt. Die schwitzenden Körper, die jubelnde Menge, die Spannung, bevor der Gong ertönt, die krachenden Haken. Der Autor weiß, w
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum21. Apr. 2014
ISBN9783943941487
Letzte Tage: Boxerroman

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    Buchvorschau

    Letzte Tage - Matthias Eckoldt

    Dagge

    WUT

    Toni brauchte diesen Geruch nach Leder, Gummi und Schweiß, das Adrenalin, die Spuren der Seile auf dem Rücken seiner Boxer, den knirschenden Mundschutz, das Hetzen, Anfeuern, Schinden, das Handtuch um seinen Hals, das Rechnen, die Endlosschleifen beim Videostudium, das Grübeln über neue Kombinationen, den Sandsack, gegen den er sich stemmte, wenn seine Boxer richtig in Fahrt kamen und er sie anschrie, weil sie ihn sonst nicht mehr hörten, die gespenstische Ruhe fünf Minuten bevor er die Kabinentür aufstieß und sie durch die Katakomben liefen, raustraten vor die Menge, den verspannten Nacken seines Boxers, den er lockerte bis zum ersten Gong. All das brauchte er, um leben zu können, und er brauchte seinen Trainingsanzug, den er ohne Vertrag nicht anziehen könnte. Da käme sich Toni wie ein Scharlatan vor. Aber um ihn ging es vorerst nicht.

    Es ging um Rico.

    Als Toni ihn das erste Mal sah, fiel ihm gleich seine Haltung auf. Wenn Rico boxte, lag er windschief nach vorn gebeugt, wie die vier rostigen Stangen auf dem Schulhof, um die der Sportlehrer gelbes Band geknotet hatte. Zu Ehren von Tonis Besuch in jenem kleinen ostdeutschen Dorf. Die Termine bei seiner Talentsuche hielt er sonst so kurz wie möglich, doch diesem Jungen sah er fast eine Stunde beim Boxen zu. Rico hatte eine so präzise Achse im Körper, dass er die ganze Wucht seiner Schwerkraft hinter die Fäuste bekam. Dafür trainierten andere jahrelang. Allerdings boxte Rico das, was Toni als Telegrafenstil bezeichnete: Er stocherte mit seiner Führhand in der Deckung des Gegners herum und feuerte in unregelmäßigen Abständen seine Rechte ab. Egal, ob eine Lücke da war oder ob der Schlag einfach an der Deckung krepierte. Dabei holte er aus wie ein Speerwerfer. So waren seine Schläge hart, aber vorhersehbar: »Willst du Boxer werden?«, hatte Toni ihn gefragt.

    »Na klar!«

    »Dann hör auf, deine Schläge durchzutelegrafieren. Wenn du so boxt, kannst du höchstens deinen Gegner einschläfern, aber nicht umhauen.«

    »Von wegen! Ich gewinne doch andauernd.«

    »Zufall!« Das stimmte natürlich nicht. Toni hatte gesehen, was Rico mit seinen Fäusten anrichten konnte – und das, so schätzte er, mit gerade einmal zwanzig Prozent seiner Möglichkeiten. Er holte ihn in die Boxerklasse der Kinder- und Jugendsportschule. Rico gefiel, dass er nur noch zwei Mal in der Woche Unterricht hatte und ihn niemand mehr mit Hausaufgaben quälte. Ab jetzt stand Boxen an erster Stelle, und Sitzenbleiben gab es an dieser Schule nicht.

    Beim ersten Einzeltraining band er Ricos linken Arm am Körper fest.

    »Jetzt will ich eine saubere Führhand sehen! Los, los, los!«

    Rico brachte nicht einen vernünftigen Schlag mit der Rechten raus. Die Plattformbirne bekam er gar nicht in Gang. Zumeist saß nur die erste Faust, dann irrte seine Hand tapsig wie die eines Linkshänders umher. Toni musste lachen.

    »Rico, das ist kein Luftballon. Und du bist hier nicht beim Kindergeburtstag! Hau ran, mein Junge! Mach mir einen vernünftigen Rhythmus!«

    »Nö. Ich schaff das nicht!« Rico ließ die Rechte sinken. Noch nie schien ihn jemand gefordert zu haben, und so tat Rico nur das, was ihm zufiel. Aber damit war jetzt Schluss. An Ricos Genörgel mochten seine Eltern verzweifelt sein, sicher auch die Lehrer in der Schule, aber nicht Toni. Er wusste genau, wie er ihn dort hin bekam, wo er ihn haben wollte.

    »Habe ich gesagt, dass Pause ist? Mach weiter. Lass das Bällchen hüpfen!«

    »Es klappt nicht. Verdammte Scheiße.« Rico schlug mit solcher Wucht gegen die Boxbirne, dass es schepperte. Der Lederball flog zurück und traf Rico an der Stirn.

    So lief es gut. Training fing für Toni erst dort an, wo es wehtat. Alles andere war nur Amüsement. Freizeitsport.

    »Haben wir ein großes Ziel?«

    Als Rico leise vor sich hin maulte, fasste ihn Toni im Nacken: »Guck mich an! Haben wir ein großes Ziel?«

    Rico nickte. Dabei lief ihm eine Träne die Wange herunter.

    »Ich höre nichts, verdammt. Haben wir ein großes Ziel?«

    »Ja.«

    »Ich versteh dich nicht!«

    »Ja!«, schrie Rico.

    »Dann lass uns arbeiten.« Toni stellte sich hinter ihn und führte seine Hand. Die Tränen liefen, und der Ball begann zu tanzen. »Und jetzt dranbleiben, mein Junge.«

    Nach zwei Wochen Training nahm Toni ihn zum ersten Mal mit in die große Halle. Als Rico den Boxring sah, wie er im staubigen Licht der Mittagssonne vor ihm lag, musste er grinsen. Drei Runden waren angesetzt gegen einen stämmigen Burschen aus einer höheren Klasse.

    »Jetzt zeig mir, was du gelernt hast. Du boxt in Rechtsauslage. Egal, was passiert. Rechts ist deine Führhand, links deine Schlaghand. Klar?«, rief Toni.

    »Weiß ich doch!« Rico hatte sich schwarze Striche auf seinen Mundschutz gemalt und sah aus, als hätte er gewaltige Zahnlücken in der Vorderfront.

    Die erste Runde lief noch ganz gut. Rico hielt die Fäuste geschlossen. Mit dem Oberkörper pendelte er geschickt. Nur die Beinarbeit gefiel Toni nicht. Rico stand zu eng. Die Füße fast auf gleicher Höhe. Sein Gegner war einen halben Kopf größer und drei Kilo schwerer. Er schlug auf Ricos Handschuhe ein wie ein Verrückter auf die Wände der Gummizelle. In der ganzen ersten Runde war er nicht ein einziges Mal durchgekommen. In der Pause stürzte der Schweiß aus seinem Gesicht, während sein Trainer auf ihn einschrie.

    Toni blieb ganz ruhig: »Gut, mein Junge. Gute Deckung. Achte auf die Grundstellung. Breitere Beine. Rechter Fuß vor. Du bist jetzt Rechtsausleger. Greif an! Und nur Rechtsauslage. Hast du verstanden?«

    Ricos Gegner schien deutliche Order von seinem Trainer bekommen zu haben. Er ging rückwärts und schlug kaum noch. Rico machte jetzt den Kampf, vornweg immer seine rechte Führhand. Der Gegner ließ seine Fäuste fallen und wich den Schlägen aus. Als Rico seine linke Schlaghand brachte, wischte der Ältere sie arrogant mit dem Handschuh weg. Die erste, die zweite und die dritte. Unter der vierten tauchte er durch und schoss seine Rechte ab. Direkt aufs Kinn. Rico taumelte. Als noch eine Rechts-Links-Rechts-Kombination einschlug, unterbrach Toni den Kampf.

    »Alles okay, mein Junge? Kannst du mich sehen?«, Toni ließ das Handtuch kreisen. »Pass besser auf die Deckung auf. Und jetzt musst du weiterboxen!«

    Rico nickte abwesend.

    »Du schaffst das!« Toni schubste Rico in die Ringmitte, doch der boxte mit angezogenen Schultern. Prompt fing er sich noch zwei Kombinationen und ging zu Boden. Der gegnerische Trainer schrie: »Wenn der noch mal hochkommt, hack ihm die Rübe vom Stamm!«

    Es ging weiter. Rico wechselte die Auslage und knallte seinem siegessicher heranstürmenden Gegner eine rechte Gerade auf die Nase. Ansatzlos. In der Schrecksekunde schob Rico noch einen Kinnhaken nach, der dem anderen die Beine fortriss.

    »Du sollst in Rechtsauslage boxen, verdammt. Rechtsauslage!«, schrie Toni.

    Rico stellte seinen Gegner in der Ringecke. Der versuchte, sein blutendes Gesicht hinter den Handschuhen zu verstecken, aber Rico schlug ihm die Fäuste weg. Da flog das Handtuch. Rico jubelte, bis ihm klar wurde, dass Toni es geworfen hatte.

    »Noch zwei Schläge, und der Typ wäre fertig gewesen.« Rico rüttelte an den Ringseilen.

    »Ich habe gesagt, dass du den ganzen Kampf in Rechtsauslage boxen sollst.«

    »Aber …«

    »Nichts aber! Nur der schwere Weg führt zum Erfolg! Morgen ist Sondertraining. Und jetzt geh rüber und gratulier’ deinem Gegner.«

    Als Toni die Haustür aufdrückte, hörte er seine Frau kichern. Wahrscheinlich spielte Irina mit Rico Backgammon. Er verschwand gleich in seinem Zimmer im Souterrain. Seine Höhle. Die Fenster zu ebener Erde, mit schweren Vorhängen. Hier schrieb er die Trainingspläne, hier las er neueste Studien zum Muskelaufbau und zur Entwicklung der Schnellkraft, hier errechnete er die Nahrungszusammensetzung für seine Boxer, und hier schlief er auch. Es war einer der beiden Räume, die sie eigentlich für Kinder vorgesehen hatten, aber es war keins gekommen. Ihre Kinderlosigkeit war so bitter wie ein Niederschlag im Ring. Der Mannschaftsarzt redete ihm noch zu, er solle die Hoffnung nicht aufgeben. Ein paar Jahre ohne das harte Training, und schon wäre er glücklicher Vater.

    Doch es kam anders. Toni trainierte ab, indem er schubkarrenweise Steine und Zement auf das Grundstück fuhr. Das Wohnungsbauprogramm der Regierung hatte ihnen zwar ein kleines Stück Land in die Hände gespielt, doch Bauleute für Privathäuser bekam man nur schwarz an den Wochenenden. Diese Art des Schuftens empfand Toni als erholsam. Wie er am Tag auch rackerte, er war nicht ein einziges Mal so schläfrig und zerschlagen wie in den Zeiten, als er noch am Boxsack trainiert hatte. Doch bei Irina tat sich trotzdem nichts. Erst als der Staat plötzlich unterging, dämmerte es Toni, dass nicht das Training, sondern die üblen Tablettencocktails seinen Spermien wohl die nötige Durchschlagskraft genommen hatten. Im Leistungssportzentrum hieß es immer nur, sie bekämen einen besonderen Mix, damit sie nicht krank würden. Alle schluckten das Zeug. Toni hatte überlegt, ob er sich den Sammelklagen gegen DDR-Sportfunktionäre anschließen sollte. Aber wozu? Jede Menge Zeit wäre dabei draufgegangen, und zum Schluss hätte er Recht und vielleicht tausend Mark bekommen. Oder zehntausend. Aber was hätte das geändert? Irina hätte er dadurch nicht zurückgewonnen. Für sie zählte nur ein Kind. Niemals würde ein hilfloses Wesen »Mama!« zu ihr sagen und seine Ärmchen nach ihr ausstrecken. Niemals könnte sie mit ihrem Enkelkind auf den Spielplatz gehen. Das sah Toni ständig in ihrem Blick, in den Kräuselungen zwischen ihren Augenbrauen, die unterdessen wohl eingewachsen waren. Aber Toni konnte nichts dafür. Irina verstand das einfach nicht, und so hauste er lieber hier unten, wo ihm nicht immer wieder dieselben Fragen gestellt wurden. Er sagte einfach, er müsse noch arbeiten, dann wartete er, bis Irina die Schlafzimmertür zugezogen hatte, schüttelte sein Kissen auf und sah wahllos fern, bis er einschlief. Bei Sonnenaufgang lief er sich die Müdigkeit aus den Beinen.

    »Jetzt willst du mich alleine lassen?« Irina hatte ihm damals im Morgenmantel die Haustür versperrt.

    Toni schulterzuckend: »Der Trainerlehrgang fängt an!«

    »Na und?«

    »Was ›na und‹? Ich muss den Lehrgang machen. Sonst kriege ich meinen Trainerschein nicht!«

    »Du denkst immer nur an dich!« Irina stiegen vom Hals her rote Flecken ins Gesicht.

    »Das stimmt doch nicht. Freitag in drei Wochen bin ich wieder da.«

    »Und ob das stimmt. Für dich gibt es nur deinen Sport. Ich dachte immer, wenn du nicht mehr boxt, haben wir wieder Zeit für einander.« Irina zog den Morgenmantel fester um ihren Körper. »Aber jetzt musst du unbedingt Trainer werden, und wie es mir geht, ist dir völlig egal!«

    »Ich liebe dich doch!« Toni nahm seinen Seesack und ging einen Schritt auf die Tür zu, doch seine Frau trat nicht zur Seite.

    »Dann beweis es mir!«

    »Jederzeit! Aber jetzt muss ich los.«

    Irina lachte hysterisch: »Jetzt muss er los!«

    »Ja, ich muss. Der Zug fährt in zwanzig Minuten.«

    »Dann fährst du halt einen Zug später und nimmst dir mal die Zeit, mit mir zu sprechen!«

    »Wenn ich zu spät komme, kann ich den ganzen Lehrgang vergessen.«

    »Wenn du mich wirklich liebst, kann dir das egal sein!«

    »Aber wieso denn? Wir können doch auch noch sprechen, wenn ich zurückkomme!«

    »In drei Wochen, ja?«

    »Ich meine, ich weiß gar nicht, worüber du eigentlich reden willst.«

    »Du weißt es nicht?« Irina senkte ihren Kopf.

    »Nein!« Toni schaute auf seine Uhr. Dann nahm er den Seesack vor den Bauch.

    Irina zog die Tür auf: »Geh! Aber sag nie wieder, dass du mich liebst!«

    Wahrscheinlich hatte sie Recht, dachte Toni, als er im Zug Richtung Schwerin saß. Boxen war ihm wirklich das Wichtigste. Aber Irina war ihm doch auch wichtig. Sehr wichtig sogar. Was sollte das? Boxen und Irina, das konnte man einfach nicht vergleichen. Er hätte nicht sagen können, woran man merkte, ob man jemanden liebte, aber er wusste, dass er Irina liebte. Er hatte für sie geboxt. Selbst diesen Trainerlehrgang machte er doch für sie. Ohne Irina würde er viel ruhiger leben, viel einfacher, müsste nicht ständig raus in die Welt und sich beweisen. Jede seiner Medaillen gehörte ihr, und ihr würden auch seine Erfolge als Trainer gehören. Er liebte sie. Punkt. Aus. Er würde ihr Blumen mitbringen. Als Beweis seiner Liebe und als Entschuldigung dafür, dass sie keine Kinder haben würde. Wenn andere Windeln wechselten, Schlaflieder sangen und die Hausaufgaben kontrollierten, musste seine arme Frau vorm Fernseher sitzen. So hatte er zumindest gedacht damals, auf dem Weg zur Trainerschulung im Boxleistungs-Zentrum Schwerin und auch später noch, bis er eines Abends allein zu Hause war und ihr Tagebuch auf dem Tisch lag.

    Er schob es zur Seite, um Platz für seinen Teller zu haben. Während er den Reis-Bohnen-Mix löffelte und über seinen Trainingsplan nachdachte, den er für die Prüfung ausarbeiten musste, bog er das Heft um und ließ die Seiten immer wieder an seinem Daumen entlangschnipsen. Einfach so, um seine linke Hand zu beschäftigen. Nach und nach aber irrten seine Gedanken von Gewichten, Medizinbällen, Zirkeltraining und Ausdauerläufen ab und bissen sich am Tagebuch fest. Er hielt es für Zeitverschwendung, abends noch einmal zu resümieren, was einem am Tage so alles widerfahren war. Er hatte es doch erlebt, warum sollte er es noch einmal aufwärmen? Das Wichtige beschäftigte ihn ohnehin weiter, alles andere konnte ihm gestohlen bleiben. War das bei Irina anders? Sicherlich, sonst würde sie ja nicht Heft um Heft vollschreiben. Notierte sie, was sie eingekauft hatte oder wie viel Strom sie verbraucht hatten oder welche Probleme sie mit ihrem Chef in der Modefabrik hatte, oder was? Er guckte hinein. Da war von Roland die Rede. Toni kannte keinen Roland. Ihr Chef war es jedenfalls nicht, der hieß anders. Klaus oder Thomas, aber nicht Roland. Sie war mit ihm tanzen. Charmant soll er sein. Wie schön, dachte Toni! Er wollte das Heft zuklappen, weiteressen und den Trainingsplan schreiben, doch seine Augen flogen so schnell über die Zeilen, dass er schon wieder umblättern musste. Roland, Roland, Roland! Sie waren spazieren. Er kannte sich in der Natur aus, in der Literatur, ja selbst in der Malerei. War ja ein richtiges Genie, dieser Roland! Und noch eine Seite: Roland verstand Irina so gut, mit ihm konnte sie über alles reden. Schön, dann hätte Toni ja endlich Ruhe vor ihren ständigen Fragereien! Er schloss das Heft, aber es sperrte sich genau an den Seiten, die er gelesen hatte, wieder auf. Toni drückte und faltete an dem Heft herum, doch erst als er ein paar Mal mit der Faust draufschlug, kam es wieder in Form.

    »Roland!«, höhnte Toni, als er wieder an seinem Schreibtisch saß. Ob er denn auch noch was vom Sport verstand? Vom Boxen sogar? Er lachte abfällig und machte sich daran, den durchschnittlichen Eiweißbedarf für einen Fliegengewichtler in der Aufbauphase zu errechnen. Als er die Zahlen in seinen Taschenrechner eingeben wollte, brannte es plötzlich in seinem Unterleib. Anstelle der Ziffern sah er ROLAND auf dem Display. Toni schüttelte sich. Fühlte sich so Eifersucht an? Aber er doch nicht! Er hatte einen Kampf mit gebrochener Mittelhand zu Ende gebracht, war mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert worden, hatte sich die Augenbraue ohne Betäubung nähen lassen. Da würde ihn doch diese Pfeife nicht umhauen! Roland, dieses Weichei, das sich an verheiratete Frauen ranmachte, während der Mann unterwegs war. Dem würde er seinen Charme aus dem Gesicht prügeln. Verdammt! Er war also doch eifersüchtig. Aber warum? Es war schließlich nichts passiert. Irina hatte sich ein paar Mal mit diesem Typen getroffen, zum Spazieren, zum Tanzen, vielleicht waren sie auch noch durch ein paar Museen gelatscht. Aber weiter waren sie nicht gegangen! Er konnte froh sein, dass Irina jemanden gefunden hatte für all die Dinge, für die ihm seine Zeit ohnehin zu schade war. Also bitte!

    Toni sah wieder auf seine Berechnungen und tippte Zahlen in seinen Rechner. Von der letzten Acht rutschte er auf die Neun und musste alles wieder löschen. Warum, fragte er sich, als auf dem Display wieder die Null stand, warum wähnte er sich eigentlich so sicher, dass nichts weiter passiert war? Wenn man sich so gut verstand? Hatten sie an der Bar gesessen, vertraut miteinander gelacht und ein Glas zu viel getrunken? Dann, beim Tanzen die langsame Runde. Hatte sie ihn vielleicht sogar mit hierher genommen, hatte dieser Typ in seinem Bett gelegen? Toni schloss die Wohnungstür ab und ließ den Schlüssel von innen stecken, damit ihn seine Frau nicht überraschte. Ins Museum oder sonst wohin konnte sie mit jedem gehen, aber … Er verbot sich weiterzudenken.

    Toni blätterte das Tagebuch flüchtig durch. Seine Augen suchten die Seiten nach Reizworten wie Bett, Kuss, zärtlich, Haut, Morgen, ab. Nichts. Dann musste er halt alles noch einmal Wort für Wort lesen, doch auch jetzt fand er keinen Hinweis darauf, dass Irina ihn … Er scheute sich davor, dieses Wort zu gebrauchen.

    Erst hatte er vorgehabt, Irina zur Rede zu stellen. Aber das konnte er nicht, denn dann hätte er zugeben müssen, dass er ihr Tagebuch gelesen hatte. Er, der harte Boxer, spionierte seiner Frau hinterher! Das ging einfach nicht. Schließlich entschied er sich dafür, Irina im Bett zu erwarten. Als sie ihn mit leisem Lächeln in sich aufnahm, war er überzeugt, dass sie ihm treu geblieben war. Zwar hatte er sie verloren. Durch die Sache mit dem Kind, durch die Sache mit dem Trainerschein, durch seine Engstirnigkeit, sein Desinteresse, seine Unlust, sich zu amüsieren, und natürlich durch die Sache mit dem Saufen. Aber dennoch war sie seine Frau, die bei ihm bleiben und ihn nicht betrügen würde. Ihre Haare öffnete sie nur für ihn. Wie Toni es liebte, wenn sich die dunklen Locken auf ihre nackte Haut legten!

    Am nächsten Morgen konnte Toni in aller Ruhe seinen Trainingsplan schreiben. Von nun an ließ er sich wieder des

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