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Operation Texel
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eBook228 Seiten3 Stunden

Operation Texel

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Über dieses E-Book

Auf der holländischen Nordseeinsel Texel entdeckt Lola Langeland die Spuren ihres Vaters.

Kurz vor dem Ende des 2. Weltkriegs ermordeten ehemalige sowjetische Kriegsgefangene, georgische Soldaten in deutscher Uniform, in einer Nacht 400 deutsche Soldaten mit Messer und Bajonett. Die Deutschen schlugen zurück und Texel wurde zur Hölle.

Diese Entdeckung wird für Lola Langeland zum Wendepunkt in ihrem Leben. Gespräche mit dem Vater und der Mutter enden mit beiderseitigen Missverständnissen und Vorwürfen.

Lola Langeland fährt zurück nach Texel. Ihr Weg führt sie nicht nur in die deutsch-niederländische Vergangenheit. In Gesprächen mit Einwohnern der Insel und einem ehemaligen deutschen Soldaten, der ihren Vater kannte und nach dem Krieg auf der Insel geblieben ist, kommt sie auch einem Geheimnis ihrer Eltern immer näher. Und in Berlin wird es zur bittern Wahrheit.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum8. Mai 2012
ISBN9783943941005
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    Buchvorschau

    Operation Texel - Volker Dittrich

    Accessoires=Eremit

    3. MAI 1985

    Es ist kühl. Immer nur Regen. Und das im Mai. Morgen hab ich Geburtstag. Vor vierzig Jahren muß es wärmer gewesen sein. Trostlos diese Straße. Wie lange ist es her, daß der Dachstuhl brannte. Bestimmt drei Jahre. Lola Langeland schlug den Kragen ihrer Jacke hoch. Zog den Kopf in den Nacken. Naßkalte Hände zu Fäusten geballt unter den Achseln. Unaufhörlicher Nieselregen. Die Jacke mehr und mehr durchnäßt. Hellerleuchtete Schaufenster und Läden. Die Waren angestrahlt. Fremdartige Wesen. Eine optische Täuschung im Grau dieses Abends.

    Was soll ich in diesem Geschäft. Damenbekleidung. Kurzvorladenschlußstimmung. Die Kunden werden reserviert behandelt. Als wären sie verantwortlich für die Müdigkeit der Verkäuferinnen. Ein langer Tag von neun bis halb sieben. Ungeduldige Blicke aufs Ziffernblatt.

    Zehn Minuten vor halb. Was soll ich kaufen. Kann mich nicht entscheiden. Bißchen Wurst. Verschlossene Gesichter hinter der Fleischtheke. Sie drehte sich kurzerhand um. Verließ den Laden und blickte durchs Schaufenster. Ein nachgebildetes Ferkel, rosafarben, mit blauer Schleife um den Hals und lachend kindlichem Gesicht. Die meisten Schalen leer, bis auf bräunliche Blutlachen. Der Verkäuferin glitt ein Stück Leber aus der Hand zurück in die Schale. Kleine rote Blutspritzer auf ihrem weißen Kittel. Unbegreiflich, diese glibbrige Masse zu essen. Gut würzen und braten, damit keine Erinnerung ans Tier aufkommt. Große Fleischstücke. Halbe Schweine tragen die Kühlwagenfahrer in die Läden. Ekelhaft besonders im Sommer. Der Gestank und die dicken Fliegen. Nutzen jede Gelegenheit auf dem Weg vom Lkw in den Supermarkt, sich an das klebrige Blut zu machen.

    Als Kind hatte sie zugesehen, wie die Nachbarsfrau das dampfende Blut des soeben geschlachteten Schweines rührte. Der Geruch stieg ihr wieder in die Nase und der Geschmack der frischen Grützwurst, die ihnen abends gebracht worden war, lag ihr auf der Zunge. Ihr Körper hatte sich gegen die von allen anderen mit Heißhunger verschlungene Delikatesse gewehrt. Ihre Haut war mit kleinen roten Pickeln übersät. Sie mußte sich übergeben und lag mit Schüttelfrost im Bett. Die wissen schon nicht mehr, was Hunger ist, hieß es. Wenige Jahre zuvor hatten die Nachbarn noch nachts schwarz geschlachtet, mit dem Risiko, eine hohe Strafe dafür zu zahlen. Steckrüben mit Salzkartoffeln, heute noch Lolas Lieblingsessen, gab es selten. Es war mit Krieg und Entbehrung verbunden. Nur wenige Male hatte die Mutter ihr diesen Wunsch erfüllt.

    Ein junges Paar mit rötlichbrauner Gesichtsfarbe vor einem Reisebüro. Beladen mit dicken Prospekten. Urlaubsziele in der ganzen Welt. Weiße Sandstrände, blauer Himmel, Sonne, Meer. Ein Monatsgehalt oder drüber. Die Haut der beiden höhensonnenverbrannt. In den Sonnenstudios der Stadt werden die blassen Gesichter in kurzer Zeit strandrot. Ein großes Schild in der Tür des Reisebüros. Zehntägige Reise in die USA. Sonderangebot. Stadtbesichtigung New York mit anschließendem Strandurlaub in Florida. Amerika. Ein Kindheitstraum. Eine andere Welt, fern und aufregend. Früher unvorstellbar, jemals den Fuß auf diesen Kontinent zu setzen. Es reizte sie hineinzugehn. Einmal New York und Florida. Mit Scheck bezahlen. Die Buchungsbestätigung per Computer sofort bekommen. Sachen packen und zwei Tage später in der Maschine sitzen. Weg. Alles vergessen. Am Meer spazieren gehn. Wie damals in Atlantic City, kurz nachdem sie an der Schule gekündigt hatte und einfach nur weg wollte, weit weg. Völlig allein am weißen, kilometerlangen Sandstrand. Der kühle Abendwind in den fliegenden Haaren. Und die Einsamkeit. Zwei harte Punkte unter ihrem T-Shirt, die sie schmerzten. Nein, Lola, du bleibst hier. Nicht USA, nicht Türkei. Keine Ausflüchte mehr. Sie ging weiter auf die Kirche zu. Die Reste des Kirchturms ragten als dunkle Gestalt über den Hausdächern. Wie damals der große verkohlte Baum, der mit erhobener Faust zwischen den Feldern stand und auf sie wartete.

    Kurz hinter der Kirche betrat sie ein Café, setzte sich ans Fenster und blickte auf die schwarzen Balkenreste des Daches. Der kleine Raum war überheizt. Kalter Zigarettenrauch hing in der Luft. Ihre Haut wurde feucht. Das Hemd klebte am Körper. Ein Geruch von warm dampfendem Schafsfell stieg ihr von dem feuchtgewordenen Pullover in die Nase. Die Wolle hatte sie in Sivas in der Osttürkei gekauft. Später mit Naturfarben gefärbt und zu einem wärmenden Kunstwerk verarbeitet.

    Sie wollte mit jemandem sprechen. Am liebsten ihre ganze Last jetzt sofort vor einem wildfremden Menschen abladen. Sie bestellte Kaffee. Sah lange in die tiefschwarze Flüssigkeit. Ihr Gesicht spiegelte sich darin. Der Kopf hing schräg nach unten in der Tasse. Die Nasenlöcher türmten sich vor ihren Augen. Die schmalgezupften Augenbrauen wie große Sicheln darüber. Sie öffnete den Mund. Er hing wie ein Bumerang am Rand der Tasse. Die Zähne verliehen ihrem Gesicht in dem schwarzen Sud einen fratzenhaften Ausdruck. Mit jedem Schluck, den sie trank, wuchs ihre Entschlossenheit. Sie mußte sich ihrer Last entledigen. Immer wieder sah sie auf die Kirche. Eine Insel im Straßennetz. Die Abgase der vorbeifahrenden Autos hatten den steinernen Figuren des Kirchenportals im Laufe der Jahre die Kleider zerschlissen. Was hätte sie damals machen sollen? Ihre Angst war unerträglich gewesen. Das, was sie getan hatte, war unfaßbar. Sie konnte es selbst nicht glauben. Der ganze Ort hatte voller Entsetzen darüber gesprochen, aber auch mit großer Neugier, wer es getan haben könnte und wie sich der Vorfall wohl genau abgespielt hatte. Daß es jemand aus dem Ort gewesen war, darauf war niemand gekommen. Es war Blutrache, hatten sie damals alle gesagt. Und wenn sie erzählt hätte, wie es wirklich gewesen war, niemand hätte es ihr geglaubt. Und falls sie sich doch vor einem Gericht hätte verantworten müssen, wäre sie damals wahrscheinlich von jedem Richter freigesprochen worden.

    Ein Kind lief von dem kleinen Kirchenvorplatz, ohne auf den Autorverkehr zu achten, auf die Straße. Ein Ball war zwischen den parkenden Autos hindurch auf den Asphalt gesprungen. Quietschende Bremsen, kopfschüttelnde Autofahrer, drohend erhobene Hände. Der dunkelhäutige Junge erschrak. Blickte mit großen Augen auf die schimpfenden Passanten. Dann lief er lachend zu seinen Freunden zurück. Aber auch sie schimpften mit ihm, erprobten an ihm die Worte der Erwachsenen. Schrien und gestikulierten wild mit den Armen. Es waren türkische Kinder. Das sah sie sofort. Sie war schon einige Male in der Türkei gewesen. Was für ein Land. Im Frühling am Mittelmeer ein Land der Gerüche. Ein Farbenmeer aus Rot, Gelb und Grün. Apfelsinen, Zitronen, Erdbeeren. Überall blühende Obstbäume. Vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer eine Vielfalt der Landschaft. Ganz Europa vereint dieses Land in sich und noch mehr. Die Gastfreundschaft dieser Menschen in ihrer Heimat ist einmalig. Jetzt übertreiben die Jungen ihr Geschrei. Als würden sie es den Deutschen zeigen wollen, wie gut sie erzogen sind. Türkische Kinder erkannte sie nicht nur an ihrem Aussehen, immer auch an ihrem Geschrei und dem leicht angeberischen Auftreten. Müssen sich ständig vor aller Welt beweisen. Sie bestellte noch einen Kaffee, blickte wieder zur Straße, abgelenkt von einem lauten Hupen.

    Ein gutgekleideter Mann im grauen Anzug, mit akkurat geschnittenem, rotblondem Schnurrbart sprang aus einem Mercedes. Das Gesicht zu einer furchterregenden Grimasse verzogen. Er stürzte, wild mit dem Zeigefinger drohend, vor die Windschutzscheibe eines Autos. Die junge Frau grinste verunsichert. Sie hatte dem Mann mit ihrem angerosteten Kleinwagen den Parkplatz weggeschnappt. Von vorne war sie in die für ihr Auto genügend große Parkbucht gefahren. Hatte den rückwärts einparkenden Fahrer in seinem blankpolierten Auto, dessen Größe und Marke eine gehobene Gehaltsstufe vermuten ließen, ignoriert. Vorbeigehende Passanten mischten sich ein, schlugen sich auf die Seite der Frau. Riefen dem Mann etwas zu. Deuteten ihm, er solle schnell weiterfahren. Es war wie ein für die Gäste des Cafés organisiertes pantomimisches Straßentheater. Es endete mit der Niederlage des eleganten Mannes, in dessen Auto sich die Front des Cafés spiegelte, wodurch die Zuschauer in das Bühnenbild einbezogen waren. Sein schlechtes Abschneiden in der Gunst der Mitwirkenden hatte sicherlich mit seinem Aussehen, seinem Auftreten und seinem Geschlecht zu tun. Ging man davon aus, daß er als erster den kostbaren Platz für sein Fahrzeug entdeckt hatte, so war er im Recht, und nicht die saloppgekleidete junge Frau mit der gelbgefärbten Haarsträhne. Sie stieg aus ihrem Kleinwagen. Umringt von mehreren jungen Frauen, die ihr Beistand geleistet hatten, feierte sie mit breitem Lächeln ihren Sieg. Der Mann verließ fluchtartig die Bühne. Kurze Zeit später betrat er eilig das Café. Er setzte sich an einen der hinteren Tische neben der Toilettentür.

    Wenn ich es jetzt einfach diesem Mann erzähle. Einmal gesagt, kann ich es auch ihnen erzählen, dem Vater und der Mutter. Ich wäre endlich befreit. Sie beobachtete ihn. Er hatte große, dunkelbraune Augen. Sie wirkten etwas traurig. Machten ihr Mut. Er saß da, tief nach vorn gebeugt, beobachtete die Kellnerin und zeichnete etwas auf einen kleinen Zettel. Nach seinem Auftritt mit der jungen Frau dachte sie, er sei arrogant und unbeherrscht. Jetzt meinte sie, einen schüchternen, feinfühligen Menschen vor sich zu haben. Sie zögerte noch einen Moment, stand langsam auf und ging auf den Mann zu. Als sie vor ihm stand, blickte er schnell zur Seite. Sah aus dem Fenster, als würde er jemanden erwarten. Sie ging weiter zur Toilette, fest entschlossen, ihn auf dem Rückweg anzusprechen. Wollte ohne großes Geplänkel beginnen. Alles erzählen. Ihm dabei in die Augen sehn und sich, sobald sie geendet hätte, schnell von ihm verabschieden und gehn. Natürlich würde sie vorher sein Einverständnis einholen. Aber sie war sicher, er würde nur mit dem Kopf nicken und keine weiteren Fragen stellen. Sie wusch sich die Hände. Rieb sie sehr lange und gründlich. Das tat sie seit damals. Am Anfang war es noch schlimmer gewesen. Die Eltern hatten gedroht, mit ihr einen Psychiater aufzusuchen, wenn sie diese elende Wascherei nicht lassen würde. Seitdem tat sie es heimlich. Sie trocknete sich die Hände und wollte gehn. Zögerte, sah in den Spiegel, löste die bunte Spange aus ihrem langen, dichten, lockigen Haar, bürstete es und steckte es so, daß die rechte Gesichtshälfte frei blieb. Ihr langer, fast bis auf die Schulter reichender Ohrring, dessen unterer ellipsenförmiger Stein im Sonnenschein bunt schillerte, fiel sofort ins Auge. Sie hatte große blaugraue Augen, die wie feinstrukturierte lebendige Glaskugeln den Blick des Gesprächspartners auf sich zogen. Erst später, sie war schon Mitte zwanzig, wurde sie sich ihrer erotischen Ausstrahlung bewußt. Begann es zu genießen, den Blicken standzuhalten. Der Führer hätte seine Freude an dir gehabt, hatte ein Onkel damals zu ihr gesagt. Ein richtig deutsches Mädel, und ihr dabei über die krausen Haare gestrichen. Sie hatte ein rundes, gesund aussehendes Gesicht mit rötlichen Wangen, wie geschaffen für die Werbung für Kinderartikel. Als Kind war sie immer fröhlich. Nutzte ihre Ausstrahlung zu ihrem Vorteil. In der Schule begriff sie, daß es ein Glück war, nicht klein und dick zu sein oder lang und dünn, wie zwei ihrer Mitschülerinnen. Die hatten es bei den Lehrern nicht so leicht wie sie. Vielleicht lag es aber auch an der ungeselligen Art dieser Mädchen, wie ihre Mutter meinte. Lola hatte beide mit nach Haus gebracht. Sie spielte nicht mit ihnen, weil sie die Mädchen besonders gern hatte, sondern weil sie ihr leid taten. Sie wollte nicht, daß die Mitschülerinnen, wegen Lolas offensichtlicher Vorteile bei den Lehrern, schlecht von ihr dächten. Lola sah ihr Gesicht im Spiegel. Verzog den Mund zu einem Lächeln, um noch einmal die Falte in ihrer Wange zu betrachten. Jetzt sah sie wieder aus wie ihre Mutter. Als sie es das erste Mal entdeckt hatte, war sie erschrocken. Ihr Gesicht im Spiegel hatte sie wie eine Beleidigung empfunden. Obwohl sie ihre Mutter liebte und sich die Angst vor der Ähnlichkeit mit ihr nicht erklären konnte. Immer wenn sie in den Spiegel schaute, sah sie wieder dieses Gesicht. Nur langsam hatte sie sich an ihre Entdeckung gewöhnt. Als sie die Toilette verließ, war der Platz leer, auf dem der Mann gesessen hatte. Sie war enttäuscht, ärgerte sich, ihn nicht sofort angesprochen zu haben. Sie wußte, wenn sie ihren einmal gefaßten Entschluß nicht schnell in die Tat umsetzte, wuchs die Hürde. Es würde immer schwieriger, sie zu überspringen.

    Vom Café aus ging sie auf die Kirchentür zu. Sie war verschlossen. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Läden waren leer. Vor einem Schaufenster mit Brautkleidern blieb sie stehn. Morgen zur gleichen Zeit werden die Eltern mit dem Zug eintreffen. Sie wird auf dem Bahnsteig stehn, um sie abzuholen. Wie immer werden sie aufgeregt sein. Sich erst beruhigen, wenn sie ihre Koffer geöffnet haben und sich danach zum Essen an den Tisch setzen. Nach dem Essen wird sie es erzählen. Sie werden schockiert sein, sprachlos. Ihre Mutter wird sagen, sie solle sich nicht über sie lustig machen. Aber sie wird ihrem Gesicht ansehn, daß es wahr ist, und sie nun Mitwisserin, auch wenn sie es nicht wahrhaben möchte. Und dann wird sie ihren Vater fragen. Wie war es damals auf der holländischen Insel Texel. Wieviel Menschen hast du getötet, Vater. Hast du sie von hinten erschossen oder ihnen dabei in die Augen gesehen oder mit dem Messer massakriert oder erwürgt oder an die Wand gestellt und erschossen?

    Warum hatte sie das alles erst jetzt erfahren. Vor einem Monat war sie auf die Insel gefahren. Hatte ein paar Tage am Meer verbracht. Ahnungslos war sie in die Vergangenheit ihres Vaters getreten. Was war denn ihre Tat gegen die Greuel, die damals begangen wurden. Der organisierte Mord an sechs Millionen Juden, Homosexuellen, Zigeunern, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftern. Männer, Frauen und Kinder wurden vergast, gefoltert, verstümmelt und brutal ermordet. Millionen von Kriegstoten in Rußland und überall in Europa. Und Millionen deutscher Soldaten getötet. Im Bombenhagel der Städte krepierten Frauen, Kinder und Greise. Seitdem sie begonnen hatte zu reisen, begriff sie von Jahr zu Jahr, mit jedem Land mehr, was es bedeutete, Deutsche zu sein. Aber wie ein Stich mit dem Messer ins eigene Fleisch war ihre Entdeckung, daß dort, wo ihr Vater im Krieg war, an dem Ort, von dem es zu Hause immer hieß, daß keine Kriegshandlungen stattgefunden hätten, daß dort kurz vor Kriegsende ein bestialisches, sinnloses Morden stattgefunden hatte. Ihr Vater mußte dran beteiligt gewesen sein.

    Drei Monate später, sie war schon vier Monate alt, hatten ihre Eltern geheiratet. Sie wollten ihre Ehe im Frieden beginnen, sagten sie. Behielt sie deshalb den Mädchennamen der Mutter?

    Sie wollte jetzt alles von ihnen wissen. Auch die Mutter fragen, was sie wußte und wenn sie es wußte, ob ihr weißes Brautkleid nicht blutrot gewesen war. Ob sie nicht immer das Blut an den Händen des Vaters gesehen hätte, wenn er sie umarmte.

    Haben sie denn jemals Frieden gehabt?

    Sie spürte ihren Puls und den leeren Magen. Er brannte vom Kaffee. Sie wünschte sich, eine ganz normale Frau zu sein, so wie alle andern, mit denen sie aufgewachsen war, die jetzt Familie und Kinder hatten. Warum mußte ausgerechnet ihr Leben diese Wende nehmen, unter der sie so gelitten hatte. Bis ins Grab wird es sie verfolgen.

    Ich halt das nicht mehr aus, stieß sie hervor. Blickte die ganz in weiß gekleidete Schaufensterpuppe an.

    Nein, so eine Hochzeit in weiß mit Kranz und Schleier wollte sie nicht. Kinder könnte sie in ihrem Alter auch nicht mehr bekommen. Da konnten sie die Puppenbräute noch so anlächeln, um ihr Mut zu machen. Und wie sehr hatte sie sich immer Kinder gewünscht. Immer wieder hatte sie sich von der Mutter ihre eigene Geburt erzählen lassen. Sich dabei vorgestellt, selbst ein Kind zu bekommen. Der Wunsch war noch größer geworden, nachdem die Mutter ihr, als sie älter war, alles erzählte, was sich während ihrer Geburt zugetragen hatte.

    Es war der 4. Mai 1945. Die Mutter stand mit Wehen im Türrahmen. Die Hebamme Thea Knolpa hatte ihr den Rücken massiert und beruhigend auf sie eingeredet. Ja, es tut weh, Frau Langeland, aber sie wissen, daß es bald vorbei ist. Sie freuen sich auf ihr Kind. Keine Angst, es kommt schon raus. Es ist noch kein Kind drin geblieben. Die Mutter hatte schwer geatmet, geprustet und gewimmert. Ihre Haare waren schweißnaß. Sie drückte sich, tief nach unten gebeugt, mit den flachen Händen im Türrahmen ab. Hatte so das Gefühl, einen kleinen Halt zu haben, wenn die Wehen wie ungestüme Wellen durch ihren Körper tobten.

    Ließen sie nach, verebbten langsam, waren die soeben erlebten Naturgewalten in ihrem Innern innerhalb kürzester Zeit wieder unvorstellbar. Bis sie aufs neue einsetzten.

    Vor dem Fenster polterte langsam ein Güterzug vorbei. Hoffentlich hat er Rot und muß halten, sagte die Hebamme. Es sind Sachen für die Besatzungstruppen drauf. Das sieht man an den Planen. Gestern hielt wieder einer mit Kohlen. Die Leute kommen mit Handwagen und Rucksäcken sogar aus Hamburg. Decken sich schon für den nächsten Winter ein. In Hamburg haben sie in den letzten Monaten am meisten gefroren. Vom Ruhrgebiet bis in den Norden werden die Züge überall geplündert. In Hamburg kommt fast nichts mehr an.

    Es fängt wieder an, Frau Knolpa. Sagen sie mir doch, was ich falsch mache. Es tut so weh, es tut immer so weh. Hoffentlich halt ich das aus. Schreien sie, wenn ihnen danach ist, sagte die Hebamme. Ganz laut. Das hilft. Mit heldenhaftem Schweigen gehts nicht einfacher. Kommen sie, atmen sie mit mir mit. Die Mutter versuchte ihr regelmäßiges Ein- und Ausatmen zu übernehmen. Thea Knolpa rieb ihr dabei den Rücken. Ja, Frau Langeland, das Kinderkriegen geht nicht so schnell. Besonders wenns das erste ist. Und es ist anstrengend

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