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Die Elster: Niederrhein Krimi
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eBook305 Seiten5 Stunden

Die Elster: Niederrhein Krimi

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Über dieses E-Book

Bomben zerfetzen die prachtvolle Stadt Wesel. Als die Waffen kurz schweigen, begräbt der Bürgermeister mit einem feierlichen Zeremoniell einen Gefallenen. So rettet er die wertvollsten historischen Besitztümer der Stadt, die in Wirklichkeit im Sarg liegen. Niemand durchschaut das Geheimnis. Als am Rheinufer mehr als sechzig Jahre später ein Schädel von einem Kiesförderband in den Bauch eines Frachters purzelt, kommt die alte Geschichte hoch. Und eine abenteuerliche und mörderische Suche am Niederrhein beginnt.
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum1. Juli 2015
ISBN9783863583378
Die Elster: Niederrhein Krimi

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    Buchvorschau

    Die Elster - Thomas Hesse

    THOMAS HESSE, Jahrgang 1953, ist Redaktionsleiter in Wesel. Im Emons Verlag erschienen von ihm – zusammen mit Thomas Niermann – die Krimis »Der Esel«, »Der Rabe« sowie »Mord vor Ort I und II«. »Eulenblues« ist sein zehntes Niederrhein-Krimi-Buch.

    www.der-krimi-hesse.de.

    RENATE WIRTH, Jahrgang 1957, lebt in Xanten und arbeitet als Heilpädagogin und Gestalttherapeutin. Neben ihren Kriminalromanen, die sie zusammen mit Thomas Hesse schrieb, veröffentlichte sie diverse Kurzkrimis in Anthologien.

    VON BEIDEN AUTOREN gemeinsam erschienen im Emons Verlag »Das Dorf«, »Die Füchse«, »Die Eule«, »Eulenblues«, »Die Spinne« und »Der Käfer«. »Die Füchse« erschien auch als Hörbuch.

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlung, Personen und manche Orte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

    © 2013 Hermann-Josef Emons Verlag

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz

    Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch

    eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

    ISBN 978-3-86358-337-8

    Niederrhein Krimi

    Originalausgabe

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    Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

    EINS

    Er schnupperte prüfend an seinen Achselhöhlen und nickte anerkennend. Tatsächlich, das neue Deo erfüllte sein Versprechen. Zumindest hielt es seit drei Stunden durch. Einen ruhigen Morgen ohne viel Gebrassel hatte seine Frau ihm nach dem Frühstück gewünscht, nun ging es in seinem Arbeitscontainer zu wie auf dem Düsseldorfer Hauptbahnhof. Wegen dieser unerträglichen Hitze hatte er sich um die Frühschichten bemüht. Jetzt war es nicht einmal zehn Uhr, und er schwitzte wie in der finnischen Sauna. Immer noch schüttelte Anton Verfürth ungläubig den Kopf. Mit zittrigen Fingern wischte er den Schweiß von der Stirn.

    Geduckt und gehetzt, so hatte er die Person beschrieben, die über die Deichkrone in Richtung Bislich verschwunden war. Verlademeister Verfürth konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Er hatte nur einen beiläufigen Blick zum Ufer geworfen, nicht näher hingeschaut. Kinder, die etwas ausgefressen haben und Entdeckung oder Strafe fürchten, würden sich so linkisch bewegen, hatte er zu Protokoll gegeben.

    Die Verladestation des alten Kieswerks bot die imposante Kulisse für ein Großaufgebot an Polizei zu Wasser und zu Land. Das Förderband, mit dem sonst pausenlos Sand und Kies in unterschiedlicher Körnung in Schiffsbäuche verladen wurde, stand still, das Sortierwerk rumorte nicht wie üblich. Diese Ruhe machte Verfürth hibbelig, bedeutete Verdienstausfall für das Werk. Zeit ist Geld. Still und starr, selbst die hemdsärmeligen Beamten bewegten sich in Zeitlupentempo. Acht Minuten nach halb neun, und die kleine Wetterstation am Fenster von Verfürths Arbeitsplatz zeigte stattliche siebenundzwanzig Grad im Schatten. Seit Tagen lähmte eine Hitzewelle das Land, breite Uferregionen säumten das Niedrigwasser des Rheins, aus grünen Wiesen waren verdörrte Flächen geworden, und junge Getreidepflänzchen mickerten in rissigem Boden. Glücklich konnte sich nennen, wer in Wassernähe arbeitete, das versprach die eine oder andere Brise. Und dann so etwas!

    Der niederländische Nachwuchspartikulier, dessen Frachtschiff Angélique gleich als Erstes mit grobem Kies beladen wurde, hatte lauthals krakeelend Alarm geschlagen. Zunächst wusste der Verlademeister seine aufgeregten Gesten nicht zu deuten, öffnete widerwillig das Fenster seiner oberhalb der Rampe gelegenen Station. Ein Schwall Hitze drang an seinen bis dato wohltemperierten Arbeitsplatz. Er beugte sich vor, um zu verstehen.

    »En hoofd, da, a head, nee …«

    Er rang sichtlich nach Worten, während Verfürth seine Stirn in Falten legte. Was wollte der Kerl von ihm? Immer diese Ungeduld. Brauchten die hinter der Grenze so dringend Nachschub, um ihr kleines Land völlig mit Beton zuzuschütten? Der junge Schiffer formte seine Hände zu einem Trichter vor dem Mund.

    »Da liegt ein Kopf im Kies. Mach dat Ding aus, sonst geht er unter.«

    Es dauerte, bis Verfürth begriff. Welche Vorschriften könnten in solchen Fällen gelten? Das hatte es noch nie gegeben. Der Chef sollte entscheiden, nein, das wollte er nicht allein verantworten. Dreimal hatte er versucht ihn zu erreichen, besetzt. Ernstfall eingetreten und keiner an die Strippe zu kriegen, klasse. Er rang mit sich. Einfach anhalten? Bis zum entscheidenden Knopfdruck waren weitere Kaskaden grober Steine im Laderaum verschwunden.

    Dann trat Stille ein.

    Anton Verfürth traf eine zweite eigenmächtige Entscheidung und verließ seinen Posten, ging zur Rampe, konnte aber nichts erkennen. Der Schiffer wies auf die andere Seite des Steinhaufens. Er war an Bord gegangen, und gemeinsam starrten sie in den riesigen, rostigen Bauch der Angélique. Schien doch alles in Ordnung, was wollte der Junge, der sein Kapitänspatent anscheinend kurz nach der Kleutersschool gemacht hatte? Verfürths Augen suchten die unterschiedlich geformten Steine nach menschlichen Überresten ab. Der aufgeregte Schiffer wies in die Ecke zwischen Bordwand und Ladung. Man musste ganz genau hinschauen. Geschlossene Augen, Nase, Mund, tatsächlich, da lag er. Kerben und Verwundungen in der Oberfläche, die wie altes, nachgedunkeltes Leder aussah, das sich eng und geschrumpft über einen menschlichen Schädel zog. Anton Verfürth hielt sich mit Mühe auf den Beinen. Jetzt bloß nicht umkippen, das wäre eine Blamage. Bleich hatte er sich abgewandt.

    Er habe seinen Augen nicht getraut, erzählte der verstörte junge Kapitän später den Beamten der Wasserschutzpolizei, die an dem Frachtschiff angelegt hatten. Durchzechte Nacht, dicke Augen, fast schon meditativ hätten die prasselnden Steine auf ihn gewirkt, die Augenlider seien ihm schwer geworden, und erst dieser übergroße Stein, der ihn beim Hinabfallen anzuschauen schien, habe seine Aufmerksamkeit schlagartig wieder hochgefahren. Vom Band gefallen. Ein abgetrennter, vermutlich männlicher Kopf war vom Bislicher Förderband in einen niederländischen Frachtraum gefallen.

    Sie entschieden schnell, das K1 in Wesel zu informieren. Die Spezialisten für Mord und Totschlag mussten hier ran.

    »Ein Toter im Kieswerk?«

    »Bis jetzt nur ein Kopf auf einem niederländischen Frachter.«

    »Wie?«

    »Ist vom Transportband gekullert, quasi an Bord gerollt.«

    * * *

    Nikolas Burmeester gab einen ersten Lagebericht aus dem Kieswerk telefonisch nach Wesel ins Kommissariat eins durch. Seine Vorgesetzte, Hauptkommissarin Karin Krafft, hörte aufmerksam zu.

    »Ein Kopf, sagst du, nichts anderes? Durchsucht den Frachtraum ganz genau, ihr dürft nichts übersehen. Erinnerst du dich an den Fall, bei dem ein winziger Knochen zur Aufklärung führte? Denk an das Knöchelchen aus dem Innenohr eines Opfers, das die Spurensicherung damals im Schlamm der Kanalisation vor dem Haus der Täter fand. Damals hatte ein Ehepaar den Opa durch die Toilette entsorgt und wiegte sich in Sicherheit.«

    Burmeester atmete tief durch.

    »Karin, die Sache hier ist anders. Der Kopf ist nicht ganz frisch, eher etwas älter.«

    »In welchen zeitlichen Dimensionen bewegt sich der Begriff ›älter‹?«

    »Die Spurensicherung tippt auf mehrere Jahrzehnte. Kollege Heierbeck will das durch die Pathologie klären lassen, kann nichts Näheres sagen.«

    Die Hauptkommissarin ließ sich den Zustand des Kopfes beschreiben, überlegte kurz.

    »Ledrig, sagst du, so richtig fest und wie über den Schädelknochen gezogen?«

    »Genau. Aus der Nähe betrachtet völlig skurril.«

    Die Hauptkommissarin streifte sich die leichten Sandalen von den geschwollenen Füßen. Ein Hauch Wehmut schwang in ihrer Stimme mit.

    »Der erste Fall einer mumifizierten Leiche in meinem Dienstbereich, und ich bin nicht vor Ort.«

    Burmeester kannte das inzwischen. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Die Stimmungsschwankungen seiner Vorgesetzten waren schon längst Thema im Dienstgebäude.

    »So doll ist das auch nicht. Außer, dass er nicht so übel riecht, wie ein frischer Kopf es bei dem Wetter täte. Ich schicke dir ein paar aktuelle Fotos auf dein Handy, dann hast du einen ersten Eindruck.«

    »Gut. Kann ich irgendwas von hier aus machen?«

    »Im Moment noch nicht. Wir werden uns hier in einem aufgeheizten, rostigen Frachtraum durch den Steinhaufen wühlen, aber ich bin mir sicher, dass wir nicht mehr finden werden. Wäre der Kopf anders herum in das Schiff gekullert, hätte sich der Skipper über den großen Stein gewundert, mehr nicht. Innerhalb der nächsten Tage wäre er auf Nimmerwiedersehen in einer zähen Betonmasse auf einer niederländischen Großbaustelle verschwunden.«

    Karin schwieg nachdenklich, Burmeester wurde von einem Kollegen gerufen.

    »Du, ich muss. Simon hat eine Frage. Wir berichten dir nachher en detail.«

    »Okay.«

    »Pass auf, dass deine Beine nicht anschwellen so wie gestern, Karin, sonst kommst du nachher wieder nicht in die Sandalen.«

    Seine Fürsorge berührte sie jeden Tag aufs Neue.

    »Yes, Sir, und bei den Temperaturen viel trinken, ich weiß. Bis nachher.«

    Es gab nur eins, das sich durch die Hitze beschleunigte, wahre Schweißbahnen liefen flott über Stirn und Rücken, ohne dass man sich bewegte. Alles andere verlangsamte sich extrem. Schritte, Gedanken, selbst der Griff zum Telefon oder zur Mineralwasserflasche erfolgte in gemäßigtem Tempo.

    * * *

    Hauptkommissarin Karin Krafft hatte alle Fenster ihrer Dienststelle am Weseler Herzogenring, Ecke Reeser Landstraße weit geöffnet, fächelte sich mit einer abgegriffenen alten Aktenmappe Luft zu. Heiße Luft in Bewegung gaukelte frischen Wind vor. Selbst der blieb seit Tagen aus. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so einen Sommer erlebt zu haben. In all den Jahren in diesen Diensträumen hatte sich das Gebäude tapfer gegen die Höchsttemperaturen gewehrt, jetzt stand die Hitze über Nacht in den Büros. Die Hauptkommissarin und ihr Team wurden morgens vom warmen Mief alter Räume und gebohnerter Böden empfangen. Dieser Sommer zwang alles in die Knie. Straßenbeläge wölbten sich, Bahnschienen verbogen sich, die Platanen auf dem Ring warfen knochentrockene Blätter ab, die im Fahrtwind des Straßenverkehrs wirbelten. Über Ernteausfälle stöhnende Bauern zierten in jedem Sommer die lokalen Schlagzeilen, diesmal war es ernst. Die Zuckerrüben würden winzig und wertlos werden.

    Cabriofahrer schätzten sich glücklich. Besitzer von Fahrzeugen mit Klimaanlagen erkannte man an ständig wiederkehrenden Erkältungssymptomen, zu groß waren die Temperaturunterschiede.

    Da saß sie in der stehenden Luft vor einem Berg alter Akten, die noch aufzuarbeiten waren. Die Leiterin des K1 hatte keine andere Wahl. Im Januar war sie in den Innendienst versetzt worden. Zunächst murrend, sie sei schwanger und nicht krank. Im April hatte sie so viel schlechte Laune versprüht, dass ihr Team in einem offenen Gespräch Veränderung forderte. Sie gelobte Besserung und wurde von Woche zu Woche zufriedener. Ihre Einsicht wuchs proportional zum Umfang ihres Bauches, und mittlerweile, kurz vor dem Mutterschaftsurlaub, war sie froh über jede Bewegung, die sie sich ersparen konnte.

    Sie rief in ihrem PC über die Suchmaschine den Begriff »mumifiziert« auf und wartete auf Ergebnisse.

    Hinter ihrem Schreibtisch tat sich eine wahre Wellnessoase auf. Eine Duftlampe verströmte erfrischende Lemongrasschwaden, ein Hocker mit gepolsterter Sitzfläche bot die passende Erhöhung für ihre dicken, strapazierten Füße. Der Schreibtischstuhl stammte aus dem Büro des Kommissariats Vorbeugung auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein Kollege hatte sie zur Sitzprobe eingeladen, und die Teamkollegen hatten wechselseitig Stühle über die Bundesstraße geschoben, damit sie bequem sitzen konnte.

    Eine Flut von wohlgemeinten Tipps, Erkundigungen nach ihrem Befinden und guten Wünschen für sie und das Kleine, wie sie das Ungeborene nannte, befanden sich wöchentlich auf ihrem Rechner. So wurde es laut Kriminalpsychologin Kirschberg allmählich Zeit für Himbeerblättertee zur Vorbereitung auf die Entbindung. Kollege Burmeester löste ein Versprechen ein und verbrachte jede freie Minute mit Stricknadeln zwischen den Fingern. Er hatte bereits eine kleine Kollektion kreativer Erstausstattung gezaubert, wurde von einigen Kollegen wegen seines Hobbys belächelt. Bei anderen rief sein Engagement für den Nachwuchs der Vorgesetzten Spekulationen über die Vaterschaft hervor. Beide belächelten das Gerücht und spielten teilweise mit, wenn anerkennend mit dem Äugchen geknipst wurde und man ihm ganz männlich auf die Schulter schlug. So ein Teufelskerl, der Kriminalassistent. Er und die Chefin. Nein, niemand sprach offen über den Altersunterschied zwischen den beiden, sie fast vierzig, er Anfang dreißig, heute nichts Besonderes mehr. Darüber munkelte man hinter vorgehaltener Hand. Willkommen in der Provinz.

    Auf ihrem Bildschirm baute sich ein Fotoarchiv des BKA mit mumifizierten Leichen oder Leichenteilen auf. Karin nahm ihr Handy und rief die Fotos auf, die Burmeester ihr geschickt hatte. Die Haut hatte sich in die Augenhöhlen gezogen, der Mund stand über gebleckten Zähnen offen. Trocken und kühl musste es über lange Zeit gewesen sein, um diesen Zustand zu erreichen, las sie auf einer Seite. Auf dem letzten Handyfoto war Burmeester selber zu sehen, verschwitzt mit hochgerecktem Daumen. Ein Selbstporträt in verzerrtem Winkel. Sie musste lachen angesichts dieses netten Chaoten.

    Ihr Innendienst hatte auch Veränderungen innerhalb des Teams zur Folge gehabt. Lange Zeit hatte sie mit der Behördenchefin, Frau Dr. van den Berg über Umstrukturierungen und deren Sinn diskutiert. Jeremias Patalon, der dunkelhäutige Kollege, den sein karibischer Ursprung über das Wetter jubeln ließ, bildete mit dem stillen Tom Weber seit vielen Jahren ein äußerst effektives Ermittlerduo. Die beiden konnte man nicht trennen, und ein dritter Mann wäre wie ein fünftes Rad am Wagen. Blieb nur Simon Termath, der Eigenbrötler, dem nur noch kurze Zeit bis zu seinem Ruhestand blieb. Er agierte gern allein, hatte aber nichts gegen die Zusammenarbeit mit Burmeester einzuwenden. Krasser konnten die äußeren Gegensätze nicht sein, dachte Karin stets, wenn die beiden gemeinsam auftauchten. Simon Termath in seiner abgetragenen Jacke mit den Lederflicken auf den Ellenbogen, in den altmodischen Hemden mit halbem Arm, notfalls mit zu eng geratenem Pullunder. Angepappte lange Haarsträhnen, von links nach rechts gezüchtet, sollten seine Kahlheit kaschieren.

    Burmeester hingegen war das modische Enfant terrible der Kreispolizeibehörde, besonders wenn sich seine Laune im Höhenflug befand. Er trug mit untrüglichem Gespür krasse Farben und gewagte Schnitte in der sonst eher angepassten niederrheinischen Männermode und sorgte bei Kollegen und Kundschaft für staunende Gesichter. Sie akzeptierten sich, jeder steckte ein Stück zurück, Burmeester in seiner modischen Wildheit und Termath bei seiner Kritik, und da beide Fachmänner mit klugen Köpfen waren, konnte dieses Duo erstaunliche Erfolge verbuchen. Wie Vater und Sohn, dachte Karin manchmal. Termath hatte nie einen Sohn gehabt, und Burmeester kannte seinen Vater nicht. So kann es sich fügen.

    Ein mumifizierter Schädel, der über mehrere Jahrzehnte kühl und trocken gelagert war, wurde nun ihr gemeinsames Rätsel. Mal schauen, was er den Pathologen in Duisburg zu erzählen hatte.

    * * *

    Gut beleuchtet lag der Kopf wie verloren auf dem großen, glänzenden Edelstahltisch der Pathologie in Duisburg. Die Kommissare Burmeester und Termath und der junge, schnöselige Pathologe Hofer, den beide noch nie zuvor hier getroffen hatten, beäugten abwechselnd sich gegenseitig und den Schädel. Die beiden Weseler Ermittler fühlten sich beobachtet. Burmeester ergriff die Initiative.

    »Neu hier?«

    Unter der Frisur mit dem zur Seite gekämmten langen Pony antwortete der Pathologe einsilbig.

    »Ja.«

    So leicht gab ein kommunikationsfreudiger Burmeester nicht auf.

    »Seit wann?«

    »Zehn Wochen und drei Tage.«

    Der fühlt sich nicht wohl hier, dachte Burmeester, wer die Tage zählt, will wieder gehen. Noch ein Versuch.

    »Duisburg ist schon ziemlich speziell.«

    »Ja. Eine Mischung aus marodem, rostigem Untergang und blühender Zukunftsvision. Aber in der Stadt bewegt sich enorm viel. Die kommen raus aus dem Schattendasein.«

    Der Mann schaute auf. Jünger als ich, jetzt geht es los, dachte Burmeester, ab einem bestimmten Alter sind selbst die Fachleute jünger als man selber.

    »Das ist ja mal ein interessanter Fall. Geruchsneutral und nicht tropfend. So etwas hatte ich ja nicht einmal während der Ausbildung auf dem Tisch.«

    Burmeester fing Termaths Seitenblick auf. Kann noch nicht lang her sein mit der Ausbildung, dachten sie anscheinend gleichzeitig.

    Sie umkreisten den Tisch, eine zusammengewürfelte Karawane ließ den Kopf nicht aus den Augen, drehte noch eine weitere stumm betrachtende Runde. Burmeester schüttelte den Kopf.

    »Kann man nicht besser das Opfer drehen, statt hier Kilometergeld zu kriegen?«

    Der Pathologe warf ihm einen bitterbösen Blick zu.

    »Niemand berührt oder verrückt hier irgendein Körperteil, ohne dass ich eine Anordnung dazu erteilt habe.«

    Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er musterte die Kommissare von oben bis unten und widmete sich weiter dem Kopf.

    Bleib bloß sachlich, ermahnte sich Burmeester und ignorierte das überkandidelte Verhalten des Chefs in diesem Ring.

    »Was sagten Sie über den Fundort?«

    Simon Termath fasste kurz zusammen, der Fachbubi lauschte aufmerksam.

    »Gehen Sie davon aus, dass dieser Kopf seine Zeit nicht lange im Kies verbracht hat. Dann wäre er nicht mumifiziert.«

    Simon Termath hob schülerhaft die Hand, um Sprechzeit zu fordern.

    »Heißt das wirklich so, mumifiziert? Ich dachte Mumien gäbe es nur im alten Ägypten, Körperpräparation, Einbalsamierung.«

    Lauter Stichworte für einen Fachmann.

    »Nein, nein, andere Kulturen haben auch Formen der Erhaltung von Körpern entwickelt. In Italien kann man ganze Hallen mit übereinander und stehend gelagerten Mumien in bestimmten Kirchen besichtigen. Ausgetrocknete Tote, die man zur Verehrung bewahrte. Die Ägypter waren weder die ersten noch die einzigen Meister des Faches.«

    »Was muss geschehen, damit das Ergebnis so aussieht?«

    Burmeester deutete mit dem Kopf zu dem Kopf auf dem Edelstahluntergrund.

    Doktor Bubi fühlte sich noch wichtiger und straffte die Haltung.

    »Ganz einfach, denken Sie an Trockenfisch und Backobst.«

    Burmeester verschlug es einen Moment lang die Sprache. Backobst und ein Totenschädel, so jung und schon so abgebrüht in seinen Vergleichen. Er dozierte auch unaufgefordert weiter, der schnippelnde Nachwuchs.

    »Mehrere Methoden sind möglich, Sauerstoffmangel, also der völlige Entzug von Luft, oder Wärmezufuhr. Trockenheit und Kälte reichen auch. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Ötzi.«

    Er setzte seine Runde um den Tisch mit anmutig langsam gesetzten Schritten fort, die an Tai-Chi-Übungen für Anfänger erinnerten. Seine Augen starrten konzentriert auf den Kopf.

    »Anders bei Feuchtigkeit unter Ausschluss der Luft. Moorleiche oder dergleichen, da kommt es nicht zum völligen Flüssigkeitsverlust, und das Körperfett sammelt sich unter der Oberfläche. Das wäre dann eine Wachsleiche, schon mal gehört? Ist das hier auf keinen Fall.«

    Am Kopfende des Tisches ging er in die Hocke, musterte die Schädeldecke mit übertriebener Aufmerksamkeit.

    »Dieser Mensch hier ist eindeutig ausgetrocknet.«

    Wieder schaute er sich die Schnittstelle an, an der Kopf und Rumpf voneinander getrennt wurden.

    »Völlig klar, erst gewaltsam abgetrennt, dann mumifiziert.«

    Simon Termath horchte auf. »Wie kommen Sie drauf?«

    Ich habe es studiert, Sie Kretin, schien der schräge Blick aus blauen Augen zu sagen. Der Pathologe ließ sich zu näherer Erläuterung herab.

    »Die Schnittstelle ist teils glatt, weist aber auch kantige Bruchstellen auf. Sie ist vor allem ebenso ausgetrocknet wie der Rest, schön gleichmäßig.«

    »Kapitalverbrechen also, eindeutig?«

    »Ganz eindeutig ist die Trennung des Kopfes vom Körper, sachkundig und mit geschärftem Werkzeug. Das besagt noch nicht viel über die Todesart, aber gehen Sie ruhig von einem Kapitalverbrechen aus.«

    Burmeester kam nicht mit.

    »Moment, lässt sich die Ursache des Todes tatsächlich noch feststellen?« Jetzt erntete er einen spöttischen Blick, der ihn fast in die Offensive zwang. »Nun lassen Sie uns hier nicht in der Warteschleife verhungern, was können Sie sagen?«

    »Vermuten kann ich. Da, schauen Sie sich die Schädeldecke an. Erkennen Sie die Verformung auf der rechten Hinterkopfseite? Das ist nicht heute beim Sturz in den Kahn passiert, das ziert diesen Kopf schon lange.«

    »Erschlagen?«

    »Erstes Semester: Hutkrempenregel. Müssten Sie auch kennen, Sie erinnern sich?«

    Der gewiefte Pathologe wechselte zum Oberlehrer, schritt an seinen Probanden vorbei. Wie sollte einem was Effektives einfallen, bei dem Lackaffengetue? Schulterzucken. Akademisches Oberwasser.

    »Alle Verletzungen unterhalb einer gedachten Hutkrempe deuten auf einen Sturz, alle oberhalb auf einen Schlag.«

    »Also hat jemand zugeschlagen, Kopf und Körper getrennt und dann irgendwo kühl und trocken versteckt.«

    »Gut rekapituliert.«

    Anerkennendes Kopfnicken für die einfachen Kriminaler von außerhalb.

    Simons Blick traf Burmeester, und ohne Worte las er so etwas wie »Komm, wir löchern ihn«. Gut, da machte er mit.

    »Lässt sich das Geschlecht bestimmen?«

    »Wie sieht es aus mit dem Zeitpunkt des Todes?«

    »Wie alt war das Opfer wohl zur Tatzeit?«

    Die erhobene Hand des Fachmanns gebot Einhalt.

    »Wir können die Zähne zerschneiden, um an den Zuwachsringen auf das ungefähre Alter zu kommen. Todeszeitpunkt wird schwieriger. Großen Aufschluss gewinnen wir durch die Partikel, die sich in den Hautfalten eingefressen haben. Trocken und kalt bedeutet nicht staubfrei, und jedes Material hinterlässt Spuren. Und Geschlechtsbestimmung per DNA-Analyse ist das einfachste der Verfahren, das Ergebnis gibt es in achtundvierzig Stunden. Noch was, meine Herren? Die Arbeit ruft.«

    Wieder fühlte sich Burmeester unangenehm gemustert, sein Adrenalinspiegel stieg in den kritischen Bereich. Barsch hinterließ er seine Karte auf dem Edelstahltisch. Man verabschiedete sich knapp.

    Nach zehn Metern auf dem Flur lästerten sie los.

    »So ein arroganter Pinsel!«

    »Simon, so kenn ich dich gar nicht, aber arrogant ist noch der harmloseste Begriff, der mir einfällt. Wie der uns gemustert hat, ich konnte mich nur knapp beherrschen.«

    »Und so ein Jüngelchen.«

    »Ob der sein Studium schon beendet hat?«

    »Wie der uns vorgeführt hat, das lief haarscharf an einer Beleidigung vorbei.«

    »Wenn er seine Arbeit gut und pünktlich erledigt, dann geht’s ja noch.«

    »Werden wir morgen wissen.«

    Sie gingen auf eine Glastür zu, spiegelten sich in den Türflügeln links und rechts. Burmeester sah und verstand. Sie hatten den Hofer einfach total überfordert. Er selbst in seinem asymmetrischen T-Shirt in krassem Pink mit dem frechen Aufdruck »Sprich mich doch endlich an« auf der Brust, darunter die knallrote Caprihose, orangefarbene Trekkingsandalen

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