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Lesereise Jerusalem: Das Gebet als Ortsgespräch
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eBook119 Seiten1 Stunde

Lesereise Jerusalem: Das Gebet als Ortsgespräch

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Über dieses E-Book

Sie ist die Stadt des Friedens - und doch der Brennpunkt eines hundert Jahre alten Konflikts. Eine Stadt der Sehnsüchte, die von Tausenden ihrer Bewohner verlassen wird. Eine Stadt des Glaubens, die so manchen zum Zyniker werden lässt. Und eine Stadt der Hoffnung, an der unzählige verzweifeln: Jerusalem.

Gil Yaron taucht tief ins facettenreiche Leben einer zerstrittenen, um Normalität ringenden Bevölkerung ein. Seine Geschichten bilden ein literarisches Wechselbad zwischen Tempelberg und Hightech-Firmen, zwischen arabischen Dörfern und israelischen Irrenanstalten, zwischen Polizeiwachen und verfallenden Parlamenten. Trotz der Konflikte, die es beschreibt, bleibt das Buch eine Ode an das Menschliche der himmlischen Stadt.
SpracheDeutsch
HerausgeberPicus Verlag
Erscheinungsdatum25. Juni 2014
ISBN9783711752130
Lesereise Jerusalem: Das Gebet als Ortsgespräch

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    Buchvorschau

    Lesereise Jerusalem - Gil Yaron

    Jerusalem, die Ewige: Wer ist ein Flüchtling?

    Nichts macht Jerusalem verlockender, als sie einmal besessen und dann verloren zu haben. Wer ist im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern Sieger, wer Opfer?

    Die Idylle scheint komplett. Das Getöse auf Israels wichtigster Verkehrsader Autobahn Nummer 1, die Tel Aviv und Jerusalem miteinander verbindet, ist hier unten im Tal nur ein leises Rauschen. Das Rascheln leuchtend weißer Mandelblüten wird vom Plätschern der kleinen Quelle von Ein Naftoah übertönt. Ein religiöser Aussteiger sitzt splitterfasernackt auf den Steinen am Rand eines Brunnens und trocknet seinen bleichen, dürren Körper in der warmen Frühlingssonne. Sein Kollege taucht prustend neben ihm aus dem trüb grünen Wasser auf. Bei Omar al Ghubari weckt dieser Anblick nur blanke Wut: »Jedes Mal wenn ich herkomme, ist es, als würde man mich wieder und wieder umbringen«, sagt der junge Araber. Ghubari ist Aktivist bei Sokhrot, einer israelischen Organisation für Palästinenser, die während des Unabhängigkeitskriegs 1948 zu Flüchtlingen wurden. Seit Jahren dokumentiert der Fünfzigjährige die Geschichte zerstörter arabischer Dörfer und ringt um ein Rückkehrrecht der Flüchtlinge. Für Israelis mag der Brunnen mit seinen romantischen Ruinen ein Naturschutzgebiet an der westlichen Einfahrt ihrer Hauptstadt sein. Sie gaben ihm den biblischen Namen »Ein Naftoah«, der aus dem Buch Josua stammt. »Wir sind in Lifta«, erklärt Ghubari hingegen mit Nachdruck: »Das hier ist ein palästinensisches Dorf.« Wenn es nach ihm ginge, würde dieses grüne Fleckchen wieder zu einer florierenden arabischen Gemeinde.

    Neben dem Streit der Herrschaft über den Tempelberg / Al-Aqsa-Moschee gilt die Flüchtlingsfrage als das schwerste Problem des israelisch-palästinensischen Konflikts. Wohl nirgends kann man die Emotionalität dieser Problematik besser begreifen als in Lifta. »Es gibt verschiedene Statistiken, wie viele Dörfer 1948 zerstört wurden«, sagt Ghubari. »Die Schätzungen schwanken zwischen vierhundertachtzehn und sechshundertachtundsiebzig zerstörten Ortschaften.« Die meisten arabischen Dörfer wurden von Israels Armee gesprengt, nachdem rund sechshundertfünfzigtausend Palästinenser – auch hier gibt es verschiedene Zahlen – geflohen waren. Der junge Staat, der seinen Unabhängigkeitskrieg nur knapp überlebt hatte, wollte sicherstellen, dass diese feindliche Bevölkerung nie zurückkehrt. Schließlich hatte sie nur wenige Wochen zuvor versucht, die Juden Palästinas zu vertreiben. Und so stehen heute nur noch die Häuser, in denen jüdische Holocaustüberlebende aus Europa oder ein Teil der rund achthundertfünfzigtausend Juden, die nach Israels Staatsgründung aus arabischen Staaten vertrieben wurden, Zuflucht fanden. Es sind malerische Orte wie das Künstlerdorf Ein Hod in der Küstenebene oder Jerusalemer Stadtteile wie Ein Karem und Malha. Lifta ist eine Ausnahme: Es ist das einzige Dorf, das weder zerstört noch neu bevölkert wurde.

    Israels Unabhängigkeitskrieg heißt bei den Palästinensern Nakba – Arabisch für Katastrophe. Sie beginnt im Winter 1947. Am 29. November verabschiedet die Generalvollversammlung der Vereinten Nationen Resolution 181 und teilt Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Die arabische Welt hat geschlossen gegen den Teilungsplan gestimmt, sie will die Gründung eines Judenstaats mit allen Mitteln verhindern. Noch in der Nacht nach dem historischen Beschluss werden in den arabischen Stadtvierteln Jerusalems Gewehre an die Bevölkerung verteilt. Am Morgen darauf fällt der Startschuss des Bürgerkriegs zwischen Juden und Arabern. Arieh Heller befördert an diesem Tag einundzwanzig Passagiere im Bus mit dem Kennzeichen 2094 von Netanja nach Jerusalem. Etwa drei Kilometer südlich des arabischen Dorfes Fadscha deutet ihm ein Araber am Straßenrand um acht Uhr zwölf, anzuhalten. Heller sieht, wie unter dem Mantel des Arabers der Lauf einer Maschinenpistole aufblitzt. Er tritt aufs Gas, aber zu spät. Eine Granate wird auf den Bus geworfen, mehrere Palästinenser eröffnen das Feuer und töten fünf Menschen. Wenige Stunden später ermordet dieselbe Terrorzelle zwei weitere Juden. Die Teufelsspirale von Gewalt und Vergeltung beginnt sich zu drehen.

    »Ich erinnere mich an den November 1947, wir waren im Hof vor unserem Haus«, sagt Yaacub Odeh, einer der wenigen ursprünglichen Liftawis – so nennen sich die Bewohner Liftas –, die noch leben. Sein Atem kommt in kleinen Wölkchen aus dem Mund, es ist kalt an diesem Wintermorgen im Gärtchen eines Ostjerusalemer Hotels. Umso klarer dampft der Mokka auf dem runden Tisch vor ihm: »Meine Mutter bereitete Brennholz vor«, erzählt Odeh von dem Augenblick, in dem er erstmals etwas vom Krieg erfuhr: »Plötzlich hörten wir Schüsse. Mein kleiner Bruder erschrak. Wir rannten zurück ins Haus.« Da ist kaum Nostalgie, wenn Odeh von seiner Kindheit spricht. Stattdessen sickert Bitterkeit aus den zahlreichen Falten seines Gesichts. Schon vor dem Krieg war seine Kindheit nicht leicht: »Ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen. Mein Vater war ein Bauer, meine Mutter Hausfrau. Sie konnten nichts sparen. Wenn sie nicht arbeiteten, gab es bei uns nichts zu essen.«

    Das war für Lifta nicht gerade typisch. »Im Jahr 1948 lebten in Lifta rund viertausend Menschen in dreihundert Häusern«, sagt Ghubari, während er auf einem Pfad durch die Ruinen stapft. »Es war eins der größten Dörfer Palästinas und sehr wohlhabend. Die Ländereien reichten bis zum Blumentor vor der Altstadt, zum Skopusberg, wo heute die Hebräische Universität steht. Auch die Knesset und Israels höchster Gerichtshof stehen auf Land von Lifta.« Die Ruinen, die sich harmonisch ins Tal einbetten, beeindrucken noch heute durch ihre Größe. Es sind gewaltige Gebäudekomplexe mit großen Rundbögen. Dennoch wirken sie, als sprössen sie aus dem Boden. In der Mitte des Dorfes steht die Moschee von Saif a Din, benannt nach einem Vertrauten Saladins. Der soll seine Männer 1187 hier zurückgelassen haben, um das gerade erst eroberte Jerusalem zu stärken. »Die Moschee könnte sehr alt sein«, meint Ghubari. Wirklich weiß das niemand. Manches spricht dafür, wie zum Beispiel dass sie kein Minarett hat und im Verhältnis zur Einwohnerzahl ziemlich klein ist: »Früher waren die Menschen nicht so religiös wie heute«, meint Ghubari. Einmal in der Woche gemeinsam beten genügte damals.

    Im Dezember 1947 war die Idylle vorbei. Die Wogen der Gewalt erreichen Jerusalem drei Tage nach dem Teilungsbeschluss. Am 2. Dezember stürmen Araber aus der Altstadt ins Einkaufsviertel Mamilla. Da, wo heute Araber und Juden friedlich die neu aufgebaute Einkaufsmeile entlangschlendern, brannte ein Mob vierzig jüdische Geschäfte nieder. Kurz darauf stecken Juden das arabische Kino »Rex« in Brand. Im Kampf um Jerusalem fällt Lifta eine besondere Rolle zu: Bisher war die strategische Lage ein wirtschaftlicher Pluspunkt. Seit Jahrhunderten liegt Lifta auf der einzigen Verbindung zwischen Jerusalem und der Küste. Am Straßenrand betreiben geschäftstüchtige Liftawis zwei beliebte Kaffeehäuser. Doch jetzt steht die Aussicht der Häuser im oberen Lifta im Dienst Abd al-Qadir al-Husainis, des Anführers des arabischen Widerstands in Jerusalem. Er will die jüdischen Stadtviertel aushungern. Der »Krieg der Straßen« und die Belagerung Jerusalems haben begonnen. Seine Männer observieren von Lifta die einzige westliche Zufahrt zur Stadt. Ab dem 10. Dezember berichten jüdische Zeitungen immer wieder von Schüssen, die von Lifta auf Fahrzeuge auf der Autobahn oder auf Häuser in jüdischen Stadtvierteln abgegeben werden. Das Dorf wird Ziel jüdischer Vergeltungsangriffe. Im Dezember tötet die Hagana einen mutmaßlichen Informanten aus Lifta, seine Verwandten üben Vergeltung. Anfang Januar hält ein Bus einer jüdischen Untergrundorganisation vor einem der Kaffeehäuser und eröffnet das Feuer. Sechs Menschen kommen ums Leben.

    »Ich kann mich an die Beerdigung erinnern«, sagt Odeh. Sein Haus, von dem nur noch Überreste stehen, war nicht besonders groß. Dafür lag es prächtig, direkt am Brunnen: »Ich konnte nachts das Wasser plätschern hören«, erzählt er. »Unser Haus hatte zwei Etagen – unten ein Lager und einen Stall für die Tiere. Wir hatten Hühner, einen Esel, Ziegen. Oben schliefen wir alle in einem Raum.« Rund um das Haus standen Feigen- und Nussbäume. Odeh erinnert sich auch noch gut an seinen Schulweg, den sie al Aqaba – das Hindernis – nannten, weil es ein so steiler Pfad war, der den Berg hinauf Richtung Jerusalem führte. Bildung war für Palästinas Araber etwas Neues. Laut einem britischen Zensus von 1930 waren 78,1 Prozent der arabischen Männer und satte 98,2 Prozent der Frauen Analphabeten, ganz im Gegensatz zu den Juden, die fast alle des Lesens kundig waren. Überhaupt, meint selbst Ghubari, der Lifta eben noch als wohlhabend beschrieb, »muss dieses Dorf auf Juden sehr ärmlich gewirkt haben.« Es gab kein fließendes Wasser, keine Straßen, man konnte nur zu Fuß oder auf einem Reittier hierhergelangen. Das Dorf lebte von Landwirtschaft, hatte erst wenige Jahre zuvor seine erste maschinelle Olivenpresse gekauft.

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