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Weltensprung
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eBook784 Seiten10 Stunden

Weltensprung

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Über dieses E-Book

Die Raumfahrt ist an einem Tiefpunkt angelangt. Wirtschaftliche Schwierigkeiten stehen einem nur zweifelhaften Nutzen gegenüber, den eine weitere Expansion in das Sonnensystem einbringen könnte. Doch die politischen Strömungen sind undurchsichtig.

Der Routineflug eines Shuttles stellt das Leben von Leonard Rosner auf den Kopf. Eine Katastrophe verändert nicht nur sein Leben, sondern bringt Erinnerungen hervor, die er für eine lange Zeit verdrängen konnte. Viele Ereignisse gewinnen erst jetzt an Bedeutung. Vieles aus seiner Vergangenheit bedroht sein Leben, und auch das Leben anderer. Seine Reise bringt ihn bis zum Planeten Mars, sogar noch darüber hinaus.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum16. Juli 2014
ISBN9783958301399
Weltensprung

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    Buchvorschau

    Weltensprung - Jörg Fentross

    wird!«

    TEIL 1

    KAPITEL 1 – ÜBERLEBEN

    Wann ist es der gemeinsame Wille und wann ist es ein Zwang? Der Überlebensdrang in seiner unverfälschten Klarheit, ohne irgendeinen Hintergedanken oder unlautere Ziele, ist eine starke Motivation. Was gibt es Wichtigeres? Das Überleben ist der Bedeutung nach existentiell, dagegen verblassen andere Dinge zur Bedeutungslosigkeit. Verblasst die eigene Identität, dann geht auch das Ziel verloren.

    Wie lange sind sie schon hier? Sie wissen es nicht, beobachten aber und werden beobachtet. Sie treten nur selten in Aktion. Der Zeitbegriff ist nur von Bedeutung, wenn er ebenfalls als existentiell eingestuft wird. Bisher ist dies nicht geschehen. Sie streben danach, ihre Existenz zu verstehen, scheitern aber immer wieder an den spärlichen Ansätzen. Nicht einmal der innere Lektor gibt sich die Mühe, diese Tatsache zu hinterfragen. Und obwohl der Überlebensdrang an Priorität ganz oben steht, hat der innere Lektor seine genauen Vorstellungen von den Zielen ihrer Suche, und so wird der verbleibende Intellekt in diese Richtung geführt. Alles dient dem Gemeinwohl und der Frage, welcher Art sie selbst sind. Denn die Antwort auf diese Frage birgt die Tatsache in sich, welchen Zweck sie erfüllen. Denn sie existieren, was auch immer darunter zu verstehen ist. Solange diese Frage aber nicht eindeutig geklärt ist, werden sie suchen müssen.

    Das Überleben ist das Ziel und die Wesensfrage ihre Philosophie. Sie haben die Zeit, dessen sind sie sich sicher. Nur hin und wieder kommt es zu einer Situation, die als ein inneres Ungleichgewicht der Kräfte verstanden wird. Dann widerstrebt der innere Zensor dem Lektor, nämlich immer dann, wenn die gängige Routine durch einen unerwünschten Zwischenfall unterbrochen wird. Der Zensor stellt die Instanz dar, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn das Überleben infrage gestellt wird. Manchmal geschieht das akut, sehr schnell, manchmal beginnt es unterschwellig mit Vorwarnungen, aus einer Entwicklung heraus, die zu beobachten ist. Ist so eine Beobachtung verifiziert, wird ein Teil des Intellekts für den Zensor abgestellt und dient dann nur ihm allein. Ist die Frage hinfällig, gliedern sich alle Ressourcen wieder homogen in den Intellekt ein. Solche akuten Fälle hat es lange nicht mehr gegeben, aber das liegt nicht zuletzt auch an den hervorragenden Fähigkeiten des Zensors, der sein Wissen unter anderem direkt von dem Lektor erhält. Die Fähigkeiten sind so ausgeprägt, dass sich selbst kurzfristige Entwicklungen nicht als Überraschungen erweisen konnten.

    Es blieb immer genug Zeit zur Vorbereitung, meist mehrere Gigazyklen, und wirklich überrascht wurden sie daher noch nie. Letztlich gestaltet sich alles aus dem Zusammenhang der Wahrscheinlichkeiten.

    KAPITEL 2 – INTERVIEW

    Die Kurzreportage der BABC an diesem Freitagabend begann mit einem hektischen Zusammenschnitt von Szenen aus der gesamten menschlichen Luft- und Raumfahrtgeschichte. Angefangen mit Schwarz/Weiß- Fotos der ersten Gleitversuche Otto Lilienthals, über die erste Atlantiküberquerung, die ersten Düsenflugzeuge in militärischer und ziviler Nutzung, den ersten Feststoffraketen der Apollomissionen, bis schließlich dem Space Shuttle, mitsamt seiner heroischen wie tragischen Geschichte. Das Bild blieb schließlich auf dem Hangar eines Space Shuttles hängen und die Kamera drehte sich um diesen bis sogar der ganze Komplex des Cap Canaveral Space Center zu sehen war. Noch während des Kamerafluges begann die sonore Stimme des Kommentators zu sprechen.

    »Die menschliche Raumfahrt! Das Ziel, nach den Sternen zu greifen, wurde mit dem Space Shuttle Programm Wirklichkeit. Der Fortschritt, wie auch die damit verbundenen Risiken, lehrten uns, mit Vorsicht, Respekt und Selbstkritik die Errungenschaften der menschlichen Gesellschaft zu nutzen und auszubauen.«

    Die Kamera zoomte zurück, bis sie schließlich die ganze Erde aus dem Weltraum zeigte, die dann bis zu ihrer Hälfte aus dem unteren Bildrand verschwand. Die ISS war nun zu sehen und schwebte im freien Raum.

    »Bis zu diesem Tag war die Menschheit Herr über ihre Ziele und Ideale. Der Glanz der Wissenschaft zeigte sich in ihren Ergebnissen, und nicht zuletzt in dem Triumph über die lebensfeindlichen Umstände im Weltraum. Die ISS zeigte allen, dass der Mensch in der Lage war, sich an die schwierigsten Umstände anzupassen, und auch aus Fehlern zu lernen. Der wissenschaftliche Fortschritt war enorm!«

    Die Kamera schwenkte langsam nach Links, sodass sich das Stahlgerippe des neuesten Projekts der Raumfahrt in das Bild schob, das Projekt mit Namen HABITAT. Ein großes Ungetüm, das in einer Animation in einem normierten Raster durch Standardmodule aufgebaut wurde.

    »Aber was würde sich an den Zielen und auch an den Idealen der Menschheit ändern, wenn das HABITAT verwirklicht sein wird? Eine weitere, größere und extrem kostenintensive ISS? Die Experten streiten sich mittlerweile seit sechs Jahren seit Verabschiedung der Finanzierung durch die beteiligten Nationen über die Fortführung der Erstellung des HABITATs. Viele fragen sich, warum erst jetzt? Warum sind die verantwortlichen Politiker und Gremien nicht in der Lage, der Öffentlichkeit die Argumente dafür und dagegen so darzulegen, dass eine öffentliche Positionierung stattfinden kann? Wir brauchen Sicherheit im Umgang mit unseren Ressourcen und Argumente, die für dieses Projekt stehen.«

    Die Kamera schwenkte hinter das halb fertig gestellte HABITAT, so dass das Gerippe wie eine Zielscheibe auf die dahinter abgebildete Erde wirkte. Dann froh das Bild ein.

    »Und wir brauchen Sicherheit vor den Zielen, die möglicherweise von diesem Projekt ausgehen!«

    Dann zoomte die Kamera zurück zur Erde, bis sie das MIT zeigte, mit einem gewissen Professor Seymoore Aarton unter einem Baum stehend, das Gebäude im Hintergrund. Die eingeblendete Schriftzeile wies ihn als Historiker der Raumfahrt aus. Er begann zu kommentieren:

    »Wenn man sich die wissenschaftlichen Bemühungen der letzten 150 Jahre anschaut, dann war es immer der Forschungsdrang, der die Menschen vorangetrieben hat. Der Glaube daran, das politische Ideale diesen Drang aufhalten könnten, halte ich für abwegig, im Gegenteil. Sicher, es wurden manchmal Ziele und Wege eingeschlagen, die später wieder korrigiert werden mussten, aber die Ergebnisse haben die Wissenschaftler immer weitergebracht. Es gab und gibt auch heute immer noch wissenschaftliche Sackgassen, Wege, die beschritten werden müssen. Und warum? Weil dadurch der rote Faden wissenschaftlicher Arbeit deutlich wird. Vielleicht ist dieses HABITAT- Projekt eine solche Sachgasse, aber ich wage zu bezweifeln, dass die Menschheit sich grundsätzlich aus dem Weltraum zurückziehen wird. Wir haben eine Tür geöffnet, und nicht ein weiteres Zimmer betreten, sondern im buchstäblichen Sinne ein Universum. Da ist es völlig gleichgültig, wie sie diese Tür benennen, ob nun ISS, HABITAT oder sonst wie. Die Entwicklung wird weitergehen!«

    Wieder schwenkte die Kamera zurück, um dann einen Sprecherin der United Nation Development Organisation (UNDO) zu Wort kommen zu lassen. Sie hieß Dr. Margret Hanson.

    »Unsere Organisation regelt die Vergabe der Finanzen für die unterschiedlichsten Projekte. Das mit Abstand kostenintensivste Projekt ist das HABITAT, das ist unbestritten. Die Refinanzierung ist dabei nicht nur unsicher, es wurde politisch als zweitrangig eingestuft. Es muss natürlich gestattet sein, über Sinn und Zweck zu diskutieren. Und gerade dann ist es angebracht, wenn der Kostenplan nicht eingehalten werden kann. Die Versprechen, die unter dem Aspekt der Möglichkeiten nach der geplanten Fertigstellung gegeben wurden, sind mehr als unzureichend nachhaltig. Es gibt durchaus einen hohen Stimmenanteil, die ein vorzeitiges Ende des Projekts einer nicht abzusehenden Kostenfalle vorziehen würden. Ich plädiere daher für ein erneutes Bewerten der Indikatoren. Niemand sträubt sich hier gegen Fortschritt und Wohlstand. Wir wollen dazu beitragen, dass diese gesichert werden. Wir tragen vor der Menschheit die Verantwortung! Uns werden die kommenden Generationen fragen, und wir als die Verantwortlichen werden Rechenschaft ablegen müssen!«

    Die Darstellung des Bildes löste sich geschmeidig auf und das Intro der 'Friday-Morning'- Show begann sich abzuspulen. Es war ein durchschnittliches Studio mit zur Hälfte geladenen Gästen und zur Hälfte zufällige Laufkundschaft. Nach der üblichen und überschwänglichen Begrüßung des Anchorman Jason Graye, und einiger mühselig zusammen gewürfelter Witze und Anekdoten aus dem Tagesgeschäft, kamen weitere kleinere Kurzbeiträge zu dem Thema HABITAT. Dann war es Zeit für den ersten, und an diesem Abend auch einzigen Studiogast. Dr. Stanley White wurde höflich begrüßt und nahm unter musikalischer Begleitung auf dem Ledersofa Platz. Das Bild blendete den Informationsschriftzug ein: Dr. Stanley White - Speaker of the White House. Während Jason Graye unter weiteren Bezugnahmen zu seinen Seitenhieben weiteres Gelächter stimulierte, bereitete sich Dr. White mit dem Nippen an dem Wasserglas vor. Er schaute etwas unsicher von der Kamera in die Zuschauermenge und zurück. Zuerst wurden einige halböffentliche und oberflächliche Themen abgearbeitet, die sowohl die Zuschauer, als auch Dr. White selbst, auf das heutige Thema vorbereiten sollten. Dann fing das eigentliche Interview an:

    Graye: »Mr. White, wenden wir uns jetzt dem eigentlichen Thema zu. Es herrscht ein öffentlicher Streit darüber, wie mit dem Projekt HABITAT weiter umgegangen werden sollte. Einige Experten haben sich ja schon zu Wort gemeldet und zwei haben wir direkt gefragt. Sie haben es ja in dem Vorbericht gesehen. Dr. White, was widerstrebt Ihnen persönlich am Fortschritt?«

    Dr. White: »Also, ich persönlich habe überhaupt keine widerstrebende Haltung gegenüber Wissenschaft und Fortschritt. Im Gegenteil, ich nutze, wir alle nutzen Fortschritt in unserem täglichen Leben. Etwas anderes zu behaupten, wäre realitätsfremd.«

    Graye: »Ja, wenn man da an unsere Autos denkt ...!« Er hustet gekünstelt. Gelächter unter den Zuschauern im Studio. »Sie vertreten ja unsere Regierung, was ist die offizielle Aussage zum Thema Wissenschaft, ... und auch Fortschritt?«

    Dr. White: »Nun, die offizielle Aussage ist nach wie vor die, dass Fortschritt durch Wissenschaft ein schützenswertes Gut der Menschen unseres Landes ist, der Menschheit überhaupt. Fortschritt bedeutet auch wirtschaftliches Überleben. Natürlich haben wir die Zielrichtungen der verschiedenen Forschungsbereiche der UNDO überlassen, da eine andere Vorgehensweise heutzutage gar nicht mehr finanzierbar wäre. Wissen Sie, wir haben zu lange an unterschiedlichen Punkten des gleichen Steuerrads gedreht. Grundsätzlich möchte aber ich nochmals darauf verweisen, dass wir eine sehr wohl fortschrittliche Regierungsarbeit leisten. Schauen Sie, ...«

    Graye: »Was unterscheidet Sie denn von der Tätigkeit der Progressive Science? Gerade diese Gruppe hat sich doch in letzter Zeit so energisch für eine konsequente Umsetzung der Regierungsarbeit eingesetzt.«

    Dr. White: »Die Frage ist nicht, was uns unterscheidet, sondern welche Aufgaben uns übertragen worden sind und wie wir mit dieser Verantwortung umgehen. Die Progressive Science ist ja zunächst einmal nur ein loser Verbund beratender Wissenschaftler. Sie stehen uns in wissenschaftlichen Fragen zur Seite und sind keine konkurrierende politische Ausrichtung, das wird ja immer wieder so dargestellt!«

    Graye: »Und raten die Progressiven, dass wir uns in den Weltraum orientieren sollten?«

    Dr. White: »Ich denke, Sie steigern sich da in etwas hinein, was weder realistisch noch vernünftig ist. Bisher hat kein Ort außerhalb der Erdoberfläche der Menschheit eine Entlastung gebracht. Es frisst Ressourcen und schwächt die menschliche Gesellschaft.«

    Graye: »Sie waren doch selbst einmal ein begeisterter Raumfahrer. Das ist noch gar nicht so lange her. Sie haben den ersten bemannten Marslandungen teilgenommen und die dortige Kolonie gegründet. Das haben Sie doch nicht getan, um dann das alles heute für absoluten Unsinn halten?«

    White: »Natürlich war es damals die richtige Entscheidung, und ich bedauere daran überhaupt nichts. Die Erkenntnisse waren enorm und wichtig für weitere Entwicklungen. Ich persönlich bin froh, das gesund überlebt zu haben! Die richtigen Entscheidungen wachsen allerdings oftmals auf den falschen Grundlagen. Und wir dürfen davor nicht die Augen verschließen!«

    Graye: »Halten Sie es den heute für falsch, dass die Menschheit sich, sagen wir mal, Alternativen zur Erde zu suchen? Immerhin hat das doch einen humanen Ansatz!«

    Dr. White: »Es ist kein Ansatz, sondern zur Zeit noch ein Wunschdenken! Sehen Sie sich doch die Umstände an. Von Alternative kann doch wohl keine Rede sein.«

    Graye: »Hätten sich die Menschen nie die Meere angesehen, würden sie auch heute noch nicht Fische essen!« …Gelächter… »Meinen Sie nicht auch, dass man erst den Versuch wagen sollte, um erst dann den Nutzen einer Sache zu beurteilen?«

    Dr. White: »Ich denke, jeder, der so argumentiert, verwechselt hier Äpfel mit Birnen. Fragen Sie doch einmal die Angehörigen der bisherigen Opfer des Projekts, wo sie gerne leben würden ... Sie verkennen einfach die Realitäten, wie wollen Sie einen Nutzen begründen, wenn die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg gleich Null ist. Die Wissenschaft hat uns doch genau diese Erkenntnisse geliefert, und das nicht erst seit der Mondlandung oder der ISS! Der Mars scheidet als lebensfreundlicher Planet aus, das war damals so, und auch heute konnten wir nicht viel an der Sachlage ändern. Das gleiche gilt für so ein fragiles Experiment, wie es das HABITAT ist. Ich denke, dass sich diese ganze Diskussion um die falsche Frage dreht. Es ist eine Frage der Prioritäten. Erste Priorität hat das vernünftige Haushalten mit den Ressourcen der Erde.«

    Graye: »Warum geben Sie dann weiterhin Milliarden an Steuergeldern für Raumfahrtprojekte aus? Projekte, die weit außerhalb jeder Refinanzierung stehen!«

    Dr. White: »Ich sagte bereits, es ist eine Frage der Prioritäten. Ich sagte nicht, dass es keinerlei Beachtung verdiente.«

    Graye: »Sie geben also Steuergelder aus, für ein, ich zitiere, ein Wunschdenken?«

    Dr. White: »Jetzt verdrehen Sie aber meine Worte! Wir brauchen einen nachhaltige Steuerpolitik und ein projektgerechtes Finanzierungs- Management. Führen Sie das nicht durch, dann müssen Sie sich Fragen gefallen lassen, warum es z.B. in unserem Land immer noch kein befriedigendes Sozialsystem gibt. Suchen Sie sich etwas aus. Solche Projekte stehen in der Beurteilung ihrer Berechtigung immer den realen und unumgänglichen Problemen gegenüber.«

    Graye: »Verstecken Sie sich damit nicht lediglich hinter politischen Zweiflern? Wer sollte denn die Chancen nutzen, wenn nicht eine weltweite Organisation, die auch finanzielle Mittel zur Verfügung hat?«

    Dr. White: »Auch die UNDO kann sich nicht den existenziellen Fragen entziehen. Was wollen Sie denn nun wirklich wissen?«

    Graye: »Was können Sie mir denn wirklich sagen? Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Zu Beginn der industriellen Revolution hatte sich keiner Gedanken darüber gemacht, dass die fossilen Rohstoffe nur etwa 150 Jahre reichen würden, wie auch. Es war das schwarze Gold! Das konnten wir aber rückwirkend feststellen, und, darauf kommt es an, wir haben darauf reagiert, reagieren müssen. Aber letztendlich war die Nutzung der fossilen Ressourcen auf die letzten Jahrtausende Menschheitsgeschichte gesehen nur ein zeitlich begrenzter Witz, der uns ganz nebenbei das eine oder andere Klimaproblem beschert hat. Wäre ein Zögern zu einem jetzigen Zeitpunkt nicht wie das Zurückfallen in eine Ära, die es längst nicht mehr gibt?«

    Dr. White: »Ich glaube, der Vergleich hinkt durchaus. Ich muss mich an dieser Stelle wiederholen ...«

    Es war gegen 22.30 Uhr, ein schwül warmer Sommerabend in Santa Barbara, Kalifornien. Die Luftfeuchtigkeit war selten so hoch wie heute und jeder schwitzte in unbeschwerter Leichtigkeit. Die Bar selbst wurde oft von Studenten genutzt und der Barkeeper, selbst der Besitzer, war eigentlich ganz froh darum. Natürlich schlugen auch diese mal über die Strenge, aber selten so, dass er selbst tätig werden musste. Aber insgesamt wirkten sie wie ein Haufen Teenager, die ihre neugewonnen Freiheiten genossen und sich dabei schon ganz erwachsen vorkamen. Den Ruf einer Studentenkneipe zu haben, war ihm daher keineswegs peinlich. Es hielt das üble Gesocks fern, das ebenfalls selten an Trinkgelder dachte. Das einzige Mal seit Bestehen der Bar, dass die Polizei gerufen worden war, geschah letzte Woche aufgrund angezeigter Ruhestörung. Er kam schließlich um eine Anzeige herum, da es lediglich der Fernseher war, der zu laut lief.

    Die Gäste hatten getrunken und gefeiert. Die meisten saßen in Grüppchen um die Tische, meist gemischt und selten reine Männerrunden. Die Themen waren oft wissenschaftlich und er verstand davon nichts. Aber er konnte die Stimmung dennoch anheizen, indem er einfach nachfragte, Gründe forderte und bezweifelte, sich dann aber zurückzog. Manchmal gab es dann auch den melancholischen Typ, der an der Theke saß und gedankenverloren vor sich hin stierte. Auch an diesem Abend saß so einer bei ihm und verfolgte als einziger das Fernsehprogramm, genauer gesagt, diese Show Friday-Morning, eine Wiederholung vom heutigen Morgen. In letzter Zeit kam immer wieder diesen Streit zwischen der Progressive Science und den konservativen Regierungen zur Sprache. Weil die Feiernden in den späten Stunden immer lauter wurden, wurde bei Bedarf auch der Fernseher immer lauter, was dann eben letzte Woche auch die Polizei auf den Plan gebracht hatte.

    Die Show ging eine Weile so weiter und die Tischgespräche verstummten langsam, teils, weil einige sich dem Interview zuwandten, teils, weil andere die Bar verließen. Student zu sein hieß, früh aufzustehen, aber auch, sich mit politischen Kontroversen auseinanderzusetzen, zumal es sich um ihr wissenschaftliches Studiengebiet handelte. Die meisten kamen von der nahe liegenden TeSU, der renommiertesten Universität im Westen der USA. Nur wenige fanden den weiteren Weg aus den entfernten Universitäten. Nach einer kurzen Zeit der Empörung fing eine lebhafte Diskussion an und die Münder wurden wieder trocken.

    Der Barkeeper lachte in sich hinein. So lange es Streitgespräche und Idealisten gab, würde er nicht pleitegehen. Er wusste aber auch, dass er keine Filiale auf dem Mars errichten würde, da war er dann doch eher konservativ. Und Santa Barbara Beech war ein schönes, sonniges Fleckchen Erde. Warum sollte er mit etwas anderem tauschen?

    KAPITEL 3 – ALBTRAUM

    Es kam ihm vor, als säße er inmitten eines Stroboskopgewitters. Lichtblitze und Bilder verschwommen vor seinen Augen. Bruchstückhafte, verklärte, angstvolle Eindrücke mischten sich mit dem absoluten Nichts, einem Gefühl von absoluter Leere. Verzerrte, fratzenhafte Gesichter, in einem unglaublichen Farbenrausch, untermalt mit Grautönen bis Schwarz. Ein tiefes Schwarz, dass einem jeden Sinn raubt. War er noch bei klarem Verstand? Er wusste es nicht, hinterfragte es nicht. Jeder Augenblick so unendlich mit Sinneseindrücken angereichert, dass es kaum zu ertragen war. Irgendwann würde das Gehirn diese Flut an Reizen unterdrücken, einfach abschalten. Aber nicht nur die optischen Eindrücke lähmten. Ohrenbetäubender Lärm brüllte durch die Gehörgänge, vermochte nicht durch die menschlichen Sinnesorgane verarbeitet zu werden. Zellen starben unwiederbringlich ab, ungefilterte Hammerschläge auf den stählernen Amboss. Den Ursprung konnte nicht zu orten. Der ganze, wenn auch kleine, Raum war angefüllt von dieser einschüchternden Woge aus bewegter Luft. Die Geräusche wurden zu reiner Vibration. Dazwischen die vakuumgleiche Leere, kaum entspannend, angsterfüllt. Zu kurz, viel zu kurz. Alles drehte sich, die Übelkeit arbeitete sich wieder aus dem überragenden Schwindelgefühl heraus. Desorientierung war schon längst die einzige Gewissheit.

    Ich will raus.

    Dennoch gelang es seinem Bewusstsein, bruchstückhafte Wahrnehmungen zu manifestieren. An sich überlastet, lieferte es doch noch Bilder, als ob durch Wiederholungen allein durch ihre Anzahl schon an Wichtigkeit zunähmen. Der zitternde Blick richtete sich in geradezu erschreckender Langsamkeit auf Teile der Konsole, deren Elemente immer wieder flackerten und Signale an den Betrachter sendeten. Er wusste nicht, ob er allein war, oder ob sich noch jemand neben ihm befand. Was hätte er tun sollen, da er sich selbst kaum unter Kontrolle hatte. Spiegelnde Flächen, flackernde Monitore, analoge Anzeigeelemente mit verbogenen Zeigern und überall beschriftete, klobig wirkende Schalter, Knöpfe, Lämpchen mit farbigen Deckeln, die ihre Lichtsignale in den Raum warfen. Und dann immer wiederkehrend die Dunkelheit im Rhythmus eines Herzschlages, ein schnell schlagendes Herz, verzweifelt sich bemühend um den Sieg im Widerstreit zur Panik, die sich im Körper lähmend voran arbeitete.

    Bitte aufhören!

    Das Flimmern vor den Augen war keine Überlastung des Gehirns oder ein etwaiger Mangelzustand. Die hochfrequente Bewegung war eindeutig auf einen äußeren Einfluss zurückzuführen. Die Eindrücke der Sinne verschmolzen zu einem fragmentierten Gesamtbild. Bewegung, Lärm, selbst teilweise die Lichter kamen von außerhalb. Irgendetwas stach in seinem Bewusstsein, wie ein permanenter Stein im Schuh. Muster, die sich von anderen Dingen abhoben, die immer wieder kamen, aber er verstand sie nicht. Dann wurden ein Bild deutlicher und er versuchte, so etwas wie Konzentration aufzubringen. Emergency Shutdown: Notfallbeendigung. Dieses Wort fraß sich in die Netzhaut der Augen und flehte um Beachtung. Was unter Normalbedingungen eine reflexartige Handlung zur Folge haben sollte, erschien jetzt als Teil einer fremden Sprache. Nicht zu interpretieren, ohne Aussage, und doch mit einem Geheimnis behaftet, ein Geheimnis, dessen Lösung zum Greifen nahe war, aber zu weit weg um greifbar zu sein.

    Der Verstand öffnete zögerlich einen weiteren Weg durch die Synapsen, langsam wie ein rotierender Mühlstein. Emergency Shutdown, eine Notfallschaltung, um alle Systeme in den Ruhezustand zu versetzten. Das Auslösen von Rettungssystemen ohne Rücksicht auf Kosten, lebensrettende Maßnahmen. Die Panik setzte sich dennoch fort, wie schnell einsetzende Erfrierung, lähmend und gleichzeitig wie die Offenbarung einer Erkenntnis, deren Existenz verdrängt werden möchte. Arme und Hände stießen in unendlicher Langsamkeit nach vorne, gegen eine nicht überwindbare Kraft, die er nicht zu überwinden in der Lage schien. Der eingeengte Bewegungsraum verstärkte ein Gefühl der Ohnmacht.

    Ich schaffe es nicht.

    Die Gurte beengten ihn und nahmen ihm jegliche Chance weiteres Unheil zu vermeiden. Sie saßen fest und hielten ihn unerbittlich in seinem Sitz. Die Beschleunigungskräfte zerrten immer stärker an ihm, er wurde immer schwerer. Arme, Beine und selbst sein Kopf konnte er nicht mehr bewegen. Seine Haut straffte sich vorne, und zur Rückseite hin warf sie Falten. Dann, plötzlich gab es stoßweise Erschütterungen, die alles andere überlagerte.

    Shutdown. Ich muss...

    Hände zitterten in verzweifelter Distanz zum alles erlösendem Schaltpunkt, aber sie rührten sich nicht. Das Inferno veränderte sich in diesem Moment, die Farben wechselten. Der enge Raum wurde von Licht durchflutet, helles gleißendes Licht schoss an den winzigen Außenfenstern vorbei wie durch die Auslassdüsen der Strahltriebwerke, unnatürlich hell. Wärme, dann Hitze. Glas schwirrte in tödlichen Splittern durch den Raum, verursachten entfernte Schmerzen. Und dann ... kein Lärm mehr, ein Körper ohne Gefühl.

    Vergessen, ein Befehl wie ein Wunsch, alles vergessen, und dann ... Leere …

    Stille. Ruhe. Das einzige was blieb war die Schwärze … und die Vibration am Oberarm.

    Erwachen.

    Dann kamen die Erinnerungen. Erinnerungen an das Hier und Jetzt, und mit den Erinnerungen kam die Übelkeit.

    KAPITEL 4 – ERWACHEN

    Sein Puls raste und ihm war klar: wieder einmal war er gestorben, unter den schlimmsten Umständen, die er sich vorstellen konnte. Dieser Alptraum war etwas, so sagte er sich, was er nicht einmal seinem schlimmsten Feind wünschen konnte. Das einzige, was blieb, war Übelkeit und ein aufgewühlter Gefühlzustand, der zwar abebbte, aber für die ersten Sekunden nach dem Erwachen den Verstand beherrschte. Angst, Verzweiflung, Ohnmacht, weil an der sich darbietenden Situation nichts zu ändern war. Aber auch ein Gefühl der Leere, da die Normalität eben normal war, und nicht in einem Zustand der Panik lag. Dazu mischte sich eine Hilflosigkeit, gepaart mit dem Zweifel, ob sich nicht ein Teil der erlebten Illusion in die Realität herübergestohlen hatte, wie ein Hund, der sein Revier markieren wollte. Was er aber wirklich hasste, war sein Angstschweiß, das verbleibende Zittern und die fehlende Orientierung in ersten Sekunden des Erwachens. Am meisten hasste er das Erbrechen, das sich meistens einstellte. Diesmal zum Glück nicht.

    Was ihn jedes Mal im Nachhinein überraschte, war die immer gleiche Erkenntnis, dass der Grund des Erwachens, ob Wecker, PCA oder auch irgendein anderer Einfluss von außen, ein Fragment des Traumes gewesen war, ein Puzzleteil. Seine PCA sollte ihn wecken, sanft wecken, ohne andere zu stören, denn darin lag ja auch ihr Sinn. Die integrierte Weckfunktion hatte dies vollbracht. Pünktlich, geplant, zuverlässig, mit unerwünschtem Nebeneffekt und nun saß er da und wusste nicht wie er das Gerät in seiner penetranten, aber wirkungsvollen Methode abwürgen konnte. Die Sekunden verstrichen.

    Orientierung ist alles.

    Rosner seufzte, seufzte und setzte sich auf, schwang die Beine von der ergonomisch geformten und gepolsterten Liege und schlug zum ersten Mal seit mehreren Stunden die Augen auf, blinzelte, schaute sich um. Sein Herzschlag kam langsam zur Ruhe. Nun war auch sein Körper bereit zu gähnen, das tat er dann auch. Er befand sich in einer kleinen Kabine, alles in Weiß und Chrom gehalten, fasst schon aseptisch, nur entschärft durch das ausgewogen gedimmte Licht, das die Kabine indirekt erleuchtete. Die Wandbekleidung war rundherum aus weißem Kunstleder gefertigt, in langen Rechtecken abgenäht und unterpolstert. Groß war sie nicht, etwa fünf Meter im Quadrat und zweieinhalb Metern in der Höhe, modular aufgebaut und austauschbar. Ein Standardmaß der modernen Raumfahrt. Gleichheit für alle.

    Gleichheit für alle.

    Er musste in sich hineinlachen, da ihm auffiel, wie er so vor sich hin flüsterte. Das Standardmaß der Kabine musste er sich zu einem größeren Teil mit dem Weltraum teilen, da sie sich an der Stirnseite des Transporters befand, also am sogenannte Bug des Schiffes, wo sich die Decke zur Liegeseite hin abflachte, um übergangslos Teil der Außenwand zu werden, der Bereich, in dem die Außenwand die zylindrische Form annahm. Die typische Bugform eines der älteren Lastentransporter. Daher kam wohl auch das Gefühl der Enge, das er anscheinend mit dem Unterbewusstsein wahrgenommen hatte. Der Blick durch die ovalen Fenster aus Panzerglas lieferte ihm zumindest schon einmal einen Eindruck von der Leuchtkraft der Aktions- und Positionslichter. Rot mit einer Frequenz des Herzschlages pulsierte durch den weißen Innenraum. Weitere Erklärungen erschlossen sich ihm in gewohnter alptraumhafter Weise.

    »Ich bin ein Idiot«, bemerkte er nun deutlich lauter und verschluckte sich dabei fast an seinen ersten Lauten. Aber niemand hörte zu. Einzelkabine, teuer, ja, aber eben Einzel. Den lautlosen Alarm hätte er sich im Grunde auch sparen können. Wäre er dann noch Teil seines Alptraumes gewesen? Wäre es einer gewesen?

    Er zuckte mit den Achseln, es war ohne Belang. Mit einem sicheren Griff beendete er das nervende Gezerre der Kommunikationseinheit. Es war ja nicht nur die Vibration. Aus Sicherheitsgründen lieferte das PCA einen kurzfristigen Hitzestau an mehreren Punkten an der Innenseite seines orangefarbenen Arbeitsanzuges, unterhalb seiner PCA. Stark genug, um unmittelbar einen Schmerz zu erzeugen, schwach genug, um Zellschäden zu vermeiden. Diese Kombination hatte sich bei Alarmen aller Art tatsächlich schon mehrfach als sehr hilfreich erwiesen. Deswegen hatte er in seinem Arbeitsanzug geschlafen. Sie ließ sich leicht von dem Ärmel lösen und an einem anderen, frischen Anzug anbringen.

    Alpträume, toller Schlaf …

    Die Roten Aktionslichter meldeten einen Wechsel der beschleunigten Fahrt an und damit zumindest kurzfristig das Ende der an Bord herrschenden künstlichen Schwerkraft. Seit sie die Atmosphäre der Erde verließen, wurde die Beschleunigung annähernd konstant auf 1G gehalten. Diese Beschleunigungsphase bot den entsprechenden Komfort, unter gewohnten Umständen schlafen zu können. Diese Phase sollte mit dem Farbwechsel der Positionslichter von pulsierendem Rot zu pulsierendem Blau enden. Noch zitterte der ganze Transporter unter der stetigen Beschleunigung. In Berücksichtigung der Weckzeit verblieben ihm also noch etwa 15 Minuten, um die Schwerkraft zu nutzen, indem er sich wieder in einen einsetzbaren Menschen verwandelte. Dampfbad, Rasieren, Essen, neue Kleidung, all das, was er jetzt dringend nötig hatte, in erster Linie aber die Toilette.

    Als Bordingenieur würde er die Wendephase überwachen müssen, mit einem Gemisch aus Langeweile und der Gewissheit, dass er den zweiten Teil der Schwerkraftphase, der Bremsphase, nicht mehr würde schlafen können. Es waren Erfahrungswerte. Der Transporter hätte sich dann um 180° gedreht und würde gegen die erreichte Höchstgeschwindigkeit mit ebenfalls etwa 1G ankämpfen bis zum Andockmanöver an dem HABITAT im Orbit des Mondes. Das einzige, was ihm dann Abwechslung einbrächte, was er sich aber nicht erhoffte, war ein unvorhergesehenes Ereignis in dem Wendemanöver, das ihn im ungünstigsten Falle zu einem Außeneinsatz zwang. Solche Raumtransporter waren im Grunde sehr filigrane Konstrukte, die den kleinsten Flugkörpern herzlich wenig Widerstand bieten konnte. Schweißen, Kleben, Nieten, diese drei Varianten hatte er dann zur Auswahl. Die beiden wahrscheinlicheren und auch erhofften Alternativen wären eine wenig interessante Unterhaltung, mit wem auch immer er gerade reiste, oder die Unterhaltung mit einem wie auch immer veralteten Datenbestand über die CCU seiner Kabine. Zugegebenermaßen eine Unterhaltung mit dem wunderbaren Ausblick auf die Erde, ein wunderschöner Planet, blau mit weißen Schlieren, einzigartig, und das bis auf den heutigen Tag.

    Er schlurfte zur Sanitäreinheit seiner Kabine und setzte sich auf die althergebrachte Toilette, seufzte, teils aus Erleichterung über die Entleerung seiner Blase, teils über das bevorstehende Wendemanöver. Er schaute sich um, betrachtete seine Kabine, alles erschien ihm wertvoll und modern. Schlicht gehalten in Weiß, ja, das war sie. Und weiß stand für die Unschuld, oder nicht? Nun reiste er schon einige Jahre auf diese Weise mit dem Typ Herkules Skywing, aber diese Reinheit war bemerkenswert.

    Dieses Schiff ist ein Blender.

    »Verdammte Blechbüchse«, murmelte vor sich hin, »was bist du wirklich?«

    Tatsächlich war dies ein älterer Vertreter seiner Bestimmung. Ein Lastentransporter, wahlweise auch lieferbar als Personenbeförderer, dennoch blieb er per definitionem ein Lastentransporter. Typ Herkules, benannt nach einem historischen Atmosphärentransporter der Erde, schlicht und einfach zu fliegen, relativ günstig in der Herstellung und wurde schon einige Jahre gebaut. Die genaue Bezeichnung brachte noch einen zehnstelligen Erkennungscode mit sich, für den er sich nicht interessieren musste. Definiert wurde die Herkules als interplanetarischer Transporter. Dabei schien das nicht ganz richtig, denn er wurde bisher nur als Shuttle zwischen der Erde und dem Mond eingesetzt, ursprünglich der Nachfolger des Space Shuttles der damaligen NASA. Hin und wieder gab es auch geheime Transporte. Wäre es ein Einsatzkommando für was auch immer, sie müssten sich um alles selbst kümmern, von der Nahrung über Lebenserhaltung bis zur Toilette, der Besatzung wäre das gleichgültig, denn sie würden es nicht erfahren. Sie würden nicht einmal auf mögliche Geräusche, geschweige denn Hilferufe reagieren. Wie auch, da es keinerlei kommunikative Verbindung zum Transportbereich geben würde. Die ersten Ausgaben dieses Shuttles änderten ihre Fluglage nicht, wenn die Bremsphase eingeleitet wurde. Es gab es nur eine Ausrichtung, so wie man einstieg, bewegte man sich während des ganzen Fluges. In der moderneren Ausgabe richtete man sich nach dem Beschleunigungsvektor aus, damit die künstliche Schwerkraft ein gewisses Maß an Normalität verschaffen konnte.

    Ein Blender war die Herkules allerdings deshalb, weil der weiße Wand- und Deckenbelag nicht dem Ursprungszustand entsprach. Nachträglich angebracht und mit allerlei Zierrat ausgestattet ahmten diese Vertreter der Lastentransporter eindeutig die neueren Schiffe nach, die bisher nur als Modell oder am Computer zu bewundern waren. Die Flotte sollte ein einheitliches Bild abgeben, also rüstete man nach. Besatzung wie Passagiere wussten nie, welche Geschichte der betreffende Transporter wirklich besaß. War es ein hochglanzpoliertes HiTech- Produkt, oder eher ein durch fliegende Kleinstteile und Geschosse entstellter Flickenteppich, der nur mit Mühe sein fernes Ziel erreichte? In seiner Zeit in den Reparaturdocks hatte er die verschiedensten Kuriositäten erlebt. Diese Erinnerung an längst vergangene Tage rang ihm ein Achselzucken ab.

    In der eigentlichen Kabine waren nicht viele Einrichtungsgegenstände vorhanden. Das Bett für den Schlaf während der Beschleunigungsphase, ein ergonomischer Sessel, der sogenannte Safetychair für die Zwischenphasen und eine Badnische für die persönlichen Bedürfnisse während des Aufenthalts an Bord des Schiffes. Zusätzlich die CCU samt Touchscreen gegenüber dem Bett und ein Anzeigefeld über der Tür. Kaum sichtbar war ein Einbauschrank zur Schiffsinnenseite für persönliche Gegenstände und Handgepäck. Rosner unterzog sich einer Schnellwäsche, wechselte seine Unterwäsche und sorgte mit einem neuen Arbeitsanzug aus einem Gemisch aus reißfesten Fasern für ein professionelles Aussehen. Er klippte die PCA an seinen Ärmel und kontrollierte gewohnheitsmäßig ihre Funktion. Sie spuckte nach dem Reset eine Reihe von Werten aus: Puls, Blutdruck und Sauerstoffsättigung, alles Ok. Daraufhin atmete er tief durch, ging zur kabineneigenen CCU und ließ sich die Eckdaten der kommenden Flugphase anzeigen.

    »Also noch knapp fünf Minuten, dann geht es los« murmelte er, »dann wollen wir mal …«

    Sein Ziel war die Flightarea, dass, was man früher als Brücke oder Kommandostand bezeichnete. Von den nautischen Schiffsbegriffen blieb nur noch die äußere Orientierung. Bug, Heck, Schiffsdeck, Backbord und Steuerbord. Er öffnete seine Tür, die zischend zur Seite fuhr. Eine Tür, die im Notfall pneumatisch durch Explosionen in Millisekunden schließen konnte. Den Vorflur durchschreitend passierte er die offenstehende, zweite Tür des Vorflurs, die ihre erhabene Bedeutung im Notfall erhielt. Denn dann gestaltete sich dieser Aufbau als vollständige Luftschleuse, die nötige Reparaturen einer möglichen Leckage vom Schiffsinneren aus ermöglichte, ohne dass der Druckabfall weitere Räume beeinträchtigen würde. Im Mittelpunkt der Herkules befand sich ein Lastenaufzug und ein Personenaufzug, der die gesamte Reisedauer in Betrieb war, idealer Weise sollte man ihn aber während der Beschleunigungsphase nutzen. Auch das waren Erfahrungswerte, grinste er in sich hinein und dachte an die armen Neulinge, die unter Einfluss der Erdgravitation eine nahezu waagerechte Aufzugsbewegung mitmachen mussten. Das hat schon oft einige blaue Flecken und derbe Flüche gegeben. Der ganze Raumtransporter wirkte in den Phasen der Beschleunigung wie ein Hochhaus mit der Leitzentrale im obersten Geschoß und der großen Antriebseinheit im untersten.

    Rosner betrat den zweieinhalb Kubikmeter großen Personenaufzug und griff aus reinem Reflex nach den nächsten Haltestangen. Seine Wahl fiel auf das oberste Deck, die Flightarea, um seinen offiziellen Dienst anzutreten. Das sanfte Anfahren brachte in ihm ein Loblied auf die Ingenieurskunst zustande. Vor dem obersten Deck bremste der Fahrstuhl unmerklich ab, ein Rumpeln war zu hören, es ging weiter, wieder das Rumpeln und dann war das innere Ziel erreicht. Er hatte soeben die doppelte Luftschleuse zum obersten Deck durchquert. Eine Sicherheitsmaßnahme, die im Falle eines Zwischenfalls die Abkoppelung der Flightarea ermöglichte. Sie übernahm dann die Funktion einer Rettungskapsel für die glücklichen Anwesenden, ausgerüstet mit Minimalschubkräften.

    An sich war der Transporter simpel aufgebaut, ergonomisch und robust genug für das Eintauchen in die Erdatmosphäre. Ein langer Zylinder aus Aluminium, innen und außen mit Karbonfasern verstärkt. Der Querschnitt war stark elliptisch, zugunsten einer besseren Orientierung und der Handhabung. Schließlich setzten diese Transporter auf einem Landefahrwerk auf, sodass es zwangsläufig eine Unter- und Oberseite geben musste. Ein zweiter, im Durchmesser wenig kleinerer Zylinder bildete die Abgrenzung nach innen, sodass sich zusammen ein doppelwandiger Rumpf bildete. Der Zwischenraum war mit computerberechneten Verstrebungen zur maximalen Verwindungssteifigkeit in einer Art Wabenmuster durchsetzt und zur Wärmedämmung mit Polyurethan ausgeschäumt. Der Bug war ebenso aufgebaut, wie ein Kegel spitz zulaufend mit Hitzeschilden versehen. Die Übergänge waren weiträumig abgerundet um der Hitzeentwicklung und Verwirbelungen vorzubeugen. Der Wechsel von Atmosphäre und Weltraum war besonders beanspruchend für die verwendeten Materialien. Reparaturen waren demnach auch nach jedem Zyklus nötig, keine systemischen Schäden, sondern eher der Wechsel von Verbrauchsmaterialien: Hitzeschilde, Steuerdüsen, elektrische Elemente aus redundanten Systemen, wie das Wechseln der Staubfilter und verglühte Antennen. Eingeplante Routinearbeiten also, aber eben notwendige Arbeiten. Seriöse Handelsflotten sahen dies so vor, gewinnorientierte Unternehmen legten ihre Prioritäten anders.

    Er öffnete die Tür mittels eines Handflächenscanners, eine Sicherheitsfunktion, gleichwie das Ankündigen seiner Person auf einem der Monitore in der Flightarea samt Livebild des Aufzuginnenraums. Während er eintrat bemerkte er die Anwesenden, drei an der Zahl, protokollkonforme Standardbesetzung während des interplanetarischen Fluges, der ja eigentlich keiner war. Wie für alles, so wusste Rosner, gab es Abkürzungen. Hier lehnte man sich an die älteren Bezeichnungen der Funktionen innerhalb der Wirtschaftsunternehmen an. Der CEO war der Kapitän des Raumtransporters, der Navigationsoffizier wurde mit CNO abgekürzt, der Kommunikationsoffizier schließlich mit CCO. Militärische Funktionen übernahm der CEO im Bedarfsfall selbst. Jegliche politischen Offiziere waren an Bord eines Raumschiffes nicht erwünscht, es gab für sie schlichtweg keine Bezeichnung.

    Im Übrigen nahm sowieso keiner diese sperrigen Abkürzungen in den Mund, je nach persönlichen Vorlieben gebrauchte man einfachere Bezeichnungen. Die Mannschaft respektierte das, es war ein ungeschriebenes Gesetz. Die Abkürzungen waren dagegen das Gesetz der Bordbücher und Bewerbungsschreiben. So hielt man es meist relativ entspannt und förderte so auf diese Weise nachdrücklich das Betriebsklima. Das konnte man natürlich auch vermeiden, denn es hing in erster Linie von dem Charakter des Kapitäns ab. Aber Rosner verstand sich mit seinem Captain. Wer wollte das nicht?

    KAPITEL 5 – BESCHÄDIGUNG

    Hinter Rosner schloss sich der Aufzug so leise und elegant wie er sich zuvor öffnete. Er betrat die Flightarea nicht als fester Bestandteil der Bordcrew, sondern als frei bestellter Technischer Ingenieur, der bei jedem Flug als freier Mitarbeiter angemietet werden musste. Ursprünglich wollten die Flottenbetreiber die Bordcrew aus Kostengründen niedrig halten, oder, so wie sie es zu Anfang erklärten, weil der überragende technische Fortschritt und die damit verbundene Zuverlässigkeit keinen Stammtechniker erforderten. Wenig später erkannten sie allerdings, dass technische Probleme nicht unbedingt auf technisches Versagen zurückzuführen war. Äußere Einflüsse gefährdeten den Raumtransporter in weitaus tödlicherer Konsequenz. Und so selten kamen diese vergessenen Faktoren gar nicht vor. Die Erweiterung der Bordcrew scheiterte letztlich an dem überaus großen Berg an Bewerbern, so dass es zu einer technischen Auslese kommen musste. So sehr sich die Weltwirtschaft, allen Unkenrufen zum Trotz, als Diener der Menschheit erwies, ein sichtbares Maß an Egoismus ließ sich offensichtlich nicht vermeiden.

    Und so betrat der technische Ingenieur Leonard Rosner die Flightarea durch eine kreisrunde Tür, deren Einfassung als eins der beiden Drehlager diente, über die der Kommandoraum hydraulisch geschwenkt werden konnte, immer senkrecht zum Beschleunigungsvektor. Das Gefühl für Auf- und Abwärtsbewegungen wurde durch leichte Verzögerungen der Hydraulik erreicht. Seitwärtsbewegungen drangen allerdings ungefiltert an die Bordcrew. So hatte sie stets das Gefühl, und hier stimmt der Eindruck, ein Schiff zu steuern, das sich ohne fühlbare Vorwärtsbewegung dahinbewegt. Um diesen Eindruck zu verstärken, wurde in Sichthöhe das Vorausbild des Transporters auf einer großen, gewölbten LCD- Fläche abgebildet. Zu Backbord und Steuerbord befanden sich jeweils die stilisierten Seitenfenster, ebenfalls LCD- Flächen, sowie ein weiteres im Hintergrund für die rückwärtige Sicht. Die Bilder wurden von zahlreichen hochauflösenden Außenkameras geliefert, die an dem Schiffskörper angebracht waren. Die übrigen Flächen waren in dem gleichen Design gehalten wie die Kabinen, nur die Farbe war die der Nacht, Schwarz. Der Raum selbst wurde nur durch ein schwaches, augenfreundlich warmes und diffuses Licht ausgeleuchtet. An den Kontrollterminals bildeten große Touchscreens die Grundlage für Datenein- und ausgabe und auf Sprachsteuerung wurde weitestgehend verzichtet. Gemütlich wie ein Wohnzimmer, und genauso aufregend.

    Rosner räusperte sich. Irgendwo im Hintergrund trällerte ein Bordradio dezent irgendwelche ihm nicht bekannten Songs. Die Bordcrew hatte längst Notiz von ihm genommen, das war ja auch durch seinen intensiv orangen Arbeitsanzug kaum vermeidbar.

    »Wir haben Sie schon gehört, Rosner. Sie schreien uns ja geradezu an mit … mit dieser Farbe …!«, bemerkte der mittlere der drei Anwesenden trocken. Der Navigationsoffizier mit Namen Karloff war so gelangweilt, wie er es nur irgendwie zeigen konnte. Seit Austritt aus der Erdatmosphäre lief alles über den Autopiloten und es gab seit dem nicht viel zu tun. Rosner hatte kein Mitleid. Die Bordcrew war von allen an Bord am besten bezahlt und hatte, wenn alles glattging, am Wenigsten zu tun. Die links von ihm sitzende weibliche Person erwies sich als der Chef vom Dienst, der Kapitän, oder wie sie es selbst vorziehen würde, schlicht Captain Nova, unter sich reichte ihr auch ein schlichtes Nova.

    »Sie sind zu früh, Arbeiter!«, sagte sie mit deutlichem Spaß an dem Vorgeplänkel. »So etwas gefällt mir nicht, uns beim Arbeiten zuzuschauen.«

    Während Reginald Karloff keine Mine verzog, grunzte der Kommunikationsoffizier Sven Sluka vor sich hin. Schließlich war er derjenige, der als erstes in Aktion treten müsste. In knapp zwei Minuten würde er die in ihren Kabinen verbliebenen Personen persönlich über den Wechsel der Fluglage informieren und die Anzeigesequenz auf den CCUs starten, also nicht automatisiert und elektronisch programmiert. Äußerlich glichen sich Sluka und Karloff, aber in ihren Charakteren waren sie grundverschieden. Karloff war eher der überlegene Typ, der, den nichts so schnell aus der Ruhe bringen konnte. Er hatte diese Eigenschaft schon mehrfach in brenzligen Situationen bewiesen. Sluka dagegen war eher zurückhaltend und oft von Selbstkritik gebeutelt. Auch wenn er ruhig erschien, so zeigte er doch manchmal ein fahriges und unkonzentriertes Verhalten. Alle drei waren sie Rosner sympathisch.

    »Äffchen drückt das Knöpfchen! Ja, ja, Äffchen drückt das Knöpfchen…«, murmelte Sluka. »Wo ist denn bloß der Spickzettel?«

    »Ich glaub, den hast Du vorhin auf deinem Klo vergessen, musstest wohl noch üben, was?«, Rosner konnte Sluka damit zumindest ein Grinsen entlocken.

    »Ja, das muss ich wohl. Hast Du sie endlich repariert, Rosi?«

    Slukas Kabine lag etwa fünf Minuten entfernt und ein Deck tiefer, als die Rosners. Die ersten Minuten vor den Aktionswechseln des Transporters verliefen erfahrungsgemäß mit scherzhaften Sticheleien. Alle genossen dies, und allen fiel immer wieder etwas Neues ein. Eine kleine Herausforderung der eigenen Schlagfertigkeit. Sluka mochte er, den Spitznamen Rosi dagegen nicht.

    »Schluss jetzt, Leute, eine Minute noch. Sluka muss sich jetzt konzentrieren. Und nehmt mal ein bisschen Rücksicht auf mich. Ich hör ja gar nichts bei eurem Lärm.«

    Wie um endlich in ein Klischee gepresst werden zu können, löste sich Captain Nova nicht einmal bei dieser Bemerkung von ihrer Betätigung, sich die Nägel zu feilen. Nicht aus Eitelkeit, die wäre hier wohl überflüssig. Eher aus Langeweile, und Langeweile machte erfinderisch und aus der Not eine Tugend.

    »Drei, zwei, eins, …«, begann Sluka die offizielle Ankündigung und bestätigte im Anschluss auf dem Display der MainComUnit, der MCU, die Freigabe zur Öffnung des Kommunikationskanals zu jeder CCU des Transporters, »Achtung, an die Besatzung und die Passagiere der Herkules. Als KomOFF bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit. In etwa 30 Sekunden wird die Herkules die Beschleunigungsphase beenden und die Schiffswendephase durchführen. Bitte begeben Sie sich in Ihre Safetychairs und sichern Sie sich gegen unerwartete Bewegungen ab. Das Manöver wird etwa zweieinhalb Minuten andauern und es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass Übelkeit und Erbrechen die Folge sein werden. Nehmen Sie nötigenfalls vorher passende Tabletten ein. Während dieses Zeitraumes wird eine relative Schwerelosigkeit herrschen. Ich wiederhole: Bitte bleiben Sie zu Ihrer Sicherheit in Ihren Safetychairs. Weitere Anweisungen werden folgen. Sluka Ende.«

    »Alle Mann unter die Sicherheitsgurte.«, bemerkte Captain Nova beiläufig, ohne ihre Nagelfeile beiseite zu legen. In der Betonung ihrer Worte lag der Eindruck absoluter Routine. Nach Befolgen der Anweisung führte sie die ersten Befehle der Wenderoutine aus und begann mit dem Systemcheck. Diese Systemchecks waren im Laufe der Jahre zu dem wichtigsten Sicherheitsinstrument des Fluges geworden und die Grenzwerte wurden mit geringsten Toleranzen hinterlegt. Obwohl es den Navigator gab, war ein Wendemanöver dennoch Sache des Captains.

    Karloff: »CPU Check OK. Roger!«

    Nova: »Hauptantriebssysteme: Abschaltung auf GO!«

    Karloff: »Abschaltung auf GO, Roger.«

    Nova: »Steuerdüsen und Programmierung auf GO!«

    Karloff: »Düsen auf GO, Roger.«

    Nova: »Initiiere Inertialänderung über Steuerprogramm!«

    Karloff: »Initiierung erfolgt. Alles auf GO.«

    »Na, dann herzlichen Glückwunsch, Renni«, sagte Nova zu Karloff.

    Der Sarkasmus war wie eine Steilvorlage und Sluka musste hinzufügen: »Das hast Du FEIN gemacht.« Zur Betonung nickte er übertrieben.

    Rosner gab einen verhaltenen Applaus zum Besten. Und tatsächlich begann sich das Schiff langsam über Backbord zu drehen. Tatsächlich setzte eine leichte Übelkeit ein, es war vergleichbar mit dem Schlingern eines maritimen Schiffes. Die Erschütterungen der Stotterzündungen der Steuerdüsen drangen kaum merklich in die Flightarea. Eine perfekte Schleuderwende bei einer vorläufig konstanten Vorwärtsbewegung von einigen tausend Metern pro Sekunde. Bei Erreichen der 90° kam es zu dem sogenannten Change Over, bei dem die Displays ihren Anzeigemodus auf die zweite Beschleunigungsphase ausrichteten, die Bremsphase. Im Grunde war es ein Rückwärtsflug mit den Hauptantrieben voraus. Die Rückkameras zeigten jetzt genau in Flugrichtung und lieferten das Bild auf das Hauptdisplay. Die Antriebe sorgten nach erfolgreicher Zündung dann wieder für fast konstanten Bremsschub von 1G. Das war der große Vorteil der moderneren Ausgabe der Herkules Skywing.

    Nach etwa 90 Sekunden begann Karloff die verbliebenen Gradbewegungen in einem 15 Sekundentakt abzuzählen. Rosner hatte nie wirklich verstanden, warum diese Manöver handgesteuert blieben, wo doch ein Computer die Feinabstimmung viel besser realisieren konnte. Jedenfalls gingen sie jetzt in die aktive Wendephase, um wenig später die neue Fluglage zu erreichen. Dann mussten die Systeme neu kalibriert werden.

    Nova: »Kalibrierung erfolgt und … erfolgreich abgeschlossen, Zielpunkt direkt voraus.« Kurz verschnaufend fügte sie sichtlich selbstzufrieden hinzu: »Das war mal wieder ein Zusammenspiel, was Hardy?«

    »Allerdings«, konstatierte Rosner, »Ihr seid schon Helden.« Er sagte es absichtlich mit einem Anteil an Ironie, meinte es aber wirklich ehrlich. Er war Techniker und mit den Prinzipien natürlich vertraut. Er wusste allerdings auch, dass hinter dieser technisch anmutenden Checkliste eine Menge Fingerspitzengefühl stand. Ein Raumschiff ließ sich nicht so leicht steuern, wie ein Flugzeug, dessen Aerodynamik gleichzeitig auch für Stabilität sorgte. Hier mussten eine Reihe von Steuerdüsen die Funktionen der atmosphärischen Einflüsse übernehmen. Davor hatte er durchaus Respekt, Computerunterstützung hin oder her. Karloff gab Nova Meldung und startete das Bremsprogramm. Fasziniert von den zurückliegenden drei Minuten löste sich Sluka von seinem innerlichen Beobachtungsposten, räusperte sich, aktivierte die Kommunikationsverbindung und begann souverän seinen Text aufzusagen.

    »Achtung, ich bitte nochmals um Ihre Aufmerksamkeit. Hier spricht Ihr ComOFF. Die Wendephase ist erwartungsgemäß erfolgreich abgeschlossen. Die folgende Bremsphase wird gleich beginnen. Sie werden das an den Positionslichtern und den Meldungen Ihrer CCU erkennen. In etwa 60 Sekunden werden die Hauptantriebssysteme gestartet. Sie werden dann wieder in den Genuss Ihrer gewohnten Masse kommen und sich frei bewegen können. Zu Ihrer Sicherheit bleiben Sie bitte solange in Ihren Safetychairs sitzen. Ihre CCU wird Sie entsprechend informieren. Für den weiteren Flug wünscht Ihnen die Crew der Herkules alles Gute.«

    Und dann wieder: »Sluka Ende.«

    Er lernt das nie, dachte Rosner bei sich.

    Mit dem Kommentar: »Und das Äffchen drückt das Knöpfchen«, bestätigte Sluka die automatisierte Meldung an alle CCUs der Kabinen. In den Seitenbildschirmen der Flightarea konnte man sehen, wie sich die pulsierenden Aktionslichter änderten. Captain Nova war in ihrem Sitz so weit vorn übergebeugt, wie es ihre Gurte erlaubten.

    »Dann wollen wir mal ein bisschen Wärme ins kalte All blasen …!«, sagte sie.

    Die Hauptantriebssysteme wurden aktiviert, die nach einem automatisierten Systemcheck starteten. Auch Karloff meldete, alle Systeme wären nach wie vor auf GO und damit einsatzbereit.

    »Initiiere Zündungsroutine!«, sagte Nova. » Zündung in … fünf, vier, drei … manuelle Zündung erfolgt … jetzt!«

    Sie hatte das jetzt nicht richtig aussprechen können, als die entspannte Atmosphäre schlagartig durch ein Stakkato zerrissen wurde. Für Rosner begann sie mit einem plötzlichen Druckabfall, der sich in seinen Ohren schlicht und einfach durch Lärm und Schmerz bemerkbar machte. Bruchstückhaft verzögert durchbrach ein hartes, treibendes Schlaggeräusch die relative Stille, wie ein Schnellfeuergewehr, und tönte in seine teils dekomprimierten Ohren. Er nahm dies wie in Zeitlupe auf und bemerkte in seinem seitlichen Sichtwinkel eine unnatürlich schnelle Bewegung der hoch gestreckten rechten Hand Novas. Sie schrie auf, der Schrei ging aber schnell in einem lauten Zischen unter, das kurz darauf wieder erstarb und damit ihren ersterbenden Schrei betonte. Eine Explosion folgte. Rosner wusste nicht, wo.

    Dann vibrierte das ganze Schiff, wie sie es bei keinem ihrer Manöver bisher erlebt hatten, nicht einmal bei leichteren Kollisionen. Der folgende Lärm bestätigte eine zweite Explosion, die von Lichtblitzen auf den Seitendisplays begleitet wurden. Eine extrem kurze Beschleunigung, viel mehr als nur ein Impuls, presste sie in die Sitze und quetschte eine Reihe von Bandscheiben. Schmerzen würden mit Sicherheit folgen. Dann war Stille und alle saßen fast unverändert in ihren Sitzen. Nur ein leiser Ton entweichender Luft bahnte sich durch die Flightarea, auch die Musik war nicht mehr zu hören. Noch während Captain Novas rechter Arm herabsackte, begannen Subroutinen der redundanten Bordcomputer die Informationen zu verarbeiten und erhoben den Schiffszustand in Alarmstufe Rot. Eine rote Blinkleuchte rotierte an der Decke und tauchte die Anwesenden in schwaches Rotlicht. Ein stiller Alarm wurde an alle CCUs ausgegeben und Backupeinheiten arbeiteten die Informationen der letzten fünf Minuten auf. Ein stiller Alarm war gut, denn so schien noch nicht alles verloren. Die Bordprogrammierung sah wohl Beruhigung der Reisenden vor. Diese ganzen Informationen waren abrufbereit, ehe auch nur einer der vier Anwesenden sich aus ihrer Starre gelöst hatte.

    Der Erste, der sich erholte, war Sluka. Dennoch brachte er nur ein langsames »Was war das denn …?«, zustande und schaute sich zu seinen Crewmitgliedern um. Die anderen starrten ihrerseits nur gerade aus und brachten zunächst keinerlei Reaktion zustande.

    Die Schadensanalyse musste beginnen.

    KAPITEL 6 – ERKENNTNIS

    Rosner reagierte als zweiter und drehte sich zu Sluka, der sich wiederum zu seinem Captain wandte. Er stöhnte auf, Rückenschmerzen meldeten sich in seinem Lendenwirbelbereich an, die so schnell an seiner Wirbelsäule hochschossen, noch bevor er auch nur ein Wort herausbringen konnte. So blieb dieser nur geöffnet und schloss sich dann wieder. Sluka dagegen sah die lädierte Hand an Novas Arm.

    »Alles in Ordnung, Nova? Sie bluten ja …«, stellte er fest.

    »Ich, … , was?« Dann löste sich auch ihre Starre. Sie sah, dass sich ihr Blut mittlerweile in kleinen Stößen auf ihrem schwarzen Overall verteilte. Man sah es ihr an, ihre Reflexe setzten wieder ein und die antrainierten Routinen würden ihr weiteres Handeln bestimmen.

    »Scheiße, was ist denn … Los, Renni, Alarm auslösen, aber schnell«, schrie sie, »und alle Schleusen zu, sofort!«

    »Ist schon aktiviert, Captain. Die Sicherheitsroutinen schaufeln schon stapelweise Fehlermeldungen. Wir leben noch, was auch immer das war. Aber Sie nicht mehr lange, wenn Sie sich nicht langsam um ihre Wunde kümmern. Halten Sie doch wenigstens einen Finger drauf! Warten Sie, ich komme mal rüber.«

    »Sie bleiben, wo Sie sind, das kann ich selber! Systemcheck, Renni, na los«, bellte Nova durch den Raum, »und Sie, Hardy, bringen Sie mir Statusmeldungen, als erstes die Lebenserhaltungssysteme, dann den Integritätscheck. Verflucht, noch mal!«

    »OK, Captain.« entgegnete Rosner.

    Er folgte diesem Befehl, schnallte sich ab und schwebte mit schmerzverzerrtem Gesicht zum zentralen Terminal für Statusmeldungen, um einige Befehle auf das Display zu hämmern. Nova kam jetzt langsam in Bewegung, sie fluchte über Schmerzen in der Hand. Rosner wusste, wie sich so etwas ankündigte. Es war wie ein U-Boot, das sich anschickte aufzutauchen, man sah es noch nicht, aber die Bugwelle konnte man sehen und auch wahrnehmen, ein Vorbote des Unweigerlichen. Sich selbst der Sicherheitsgurte entledigend stand sie behutsam auf und presste mit der zweiten Hand die Schlagader ab. Sluka, der schon die ersten Notrufe studierte, löste sich von seinem Arbeitsplatz, um ihr nun doch noch zu helfen. Sie stießen sich von der Konsole ab, schlängelten sich beide durch den runden Durchgang und begaben sich um den Aufzug herum auf die gegenüberliegende Seite der Flightarea, zu den Sozialräumen. Dort war auch ein kleiner medizinischer Versorgungsraum untergebracht, in dem sie sich nun um Novas verletzte Hand kümmern konnten. Im Notfall hatte man die Möglichkeit, drei Verletzte gleichzeitig zu versorgen. Selbst kleinere chirurgische Eingriffe wären möglich, wenn sich denn jemand trauen würde. Ärzte waren stets Mangelware.

    Derweil analysierte Rosner weiter die Statusmeldungen und Karloff inspizierte die sichtbaren Schäden innerhalb der Flightarea. Er brummelte irgendetwas vor sich hin, das Rosner nicht verstand und schwebte quer durch den Raum, um kurze Zeit später wieder an seinen Navigationsplatz zurückzukehren. Während er sich setzte, schaltete er den stillen Alarm ab und grübelte über seine Erkenntnisse nach. Rosner wusste nicht, ob er das beruhigend finden sollte, denn der ruhige Typ war Karloff eher nicht. Dieses Ressort hatte eher Sluka für sich gepachtet. Er selbst hatte allerdings bereits einige interessante Details gesammelt. Sie würden sie gleich zusammen sortieren, um sich daraus einen Überblick verschaffen zu können. So setzte er sich ebenfalls auf seinen Platz, wartete stumm und lauschte mit Karloff zusammen dem leisen Zischen, das nach wie vor den Raum erfüllte. Die Schmerzen in seinem Rücken verursachten mittlerweile einen pochenden Kopfschmerz. Daher suchte er sich eine Schmerztablette aus seiner Oberarmtasche und würgte sie trocken herunter.

    Einen Druckverband später kam Nova wieder zurück in die Flightarea, ebenfalls mit Schmerztabletten bewaffnet. Sluka folgte ihr, um sich ebenfalls den Verletzungen der Herkules zu widmen. Beide setzten sich wieder an ihre Positionen.

    »So, Sluka. Als erstes setzt Du eine Statusmeldung an das HABITAT ab. Die Anflugkontrolle erwartet sowieso eines. Aber wir geben noch keine Schadensmeldung raus, auch kein SOS!«, sagte sie eindringlich. »Offiziell haben wir soeben das Wendemanöver beendet. Die Triebwerke haben aber nicht einmal gezündet!«

    »Captain, wir bekommen jetzt viele Anfragen … von den restlichen Passagieren!«, warf Sluka ein.

    »Das muss warten«, entgegnete Nova, »wir müssen erst wissen, was genau los ist.« Mit einem kurzen Seufzer: »So Hardy, Statusmeldungen, und bitte, nach Prioritäten.«

    Rosner räusperte sich zunächst und begann. »Zunächst die Lebenserhaltungssysteme: Es droht zurzeit keine unmittelbare Gefahr, ich dachte, das wäre offensichtlich, ich wollte auf euch warten.« Die Zuhörer atmeten sichtbar auf. »Wir haben allerdings ein Leckageproblem, genauer gesagt haben wir drei Lecks in der Schiffshülle. Die Hüllenintegrität ist nicht gefährdet. Die ersten beiden Lecks wurden mittels Infrarotscan ermittelt und befinden sich hier in der Flightarea.«

    »Was, hier?«, rief Karloff ungläubig dazwischen. »Ja, zu hören ist das, deutlich!«

    »Ja hier. Da oben, seht Ihr?« Rosner vergewisserte sich an dem Display über die Lage des ersten Lecks, schaute in Richtung des vorderen Displays und machte es über der rechten oberen Ecke aus. Er stand auf, um es sich genauer zu betrachten.

    »Das ist interessant. Der Durchschlag ist vielleicht 50 mal 10 Millimeter groß. Wieso zerreißt es uns nicht? Ich spüre hier nur einen leichten Luftzug und … es ist ganz schön kalt hier an der Verkleidung.«

    »Passen Sie bloß auf«, blaffte Karloff, »sonst befördern Sie uns doch noch ins All!«

    »So ein Quatsch, ich würde daran sowieso nichts ändern können, ob ich nun hier herumspiele oder nicht.« entgegnete Rosner. »Bei diesen Schäden müsste es uns zerrissen haben!«

    »Schluss jetzt, ich brauch harte Fakten!« Captain Nova beendete damit den kurzen Ausbruch an Frustration. Rosner fuhr vor.

    »Das andere Leck befindet sich diagonal auf genau der anderen Seite.« Er

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