Galle
Von Émile Gallé
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Galle - Émile Gallé
Stuttgart.
Einleitung
Kaffee-Service Chasseur et Chasseresse, 1882-1884.
Fayence, gelber Scherben, kleisterblaue Zinnglasur;
Kaffeekanne: Höhe: 26,5 cm; Breite: 22 cm; Tiefe: 15 cm.
Musée de l’École de Nancy, Nancy.
Am Ende des 19. Jahrhunderts sah Westeuropa die Geburt einer großen Erneuerung im Bereich der angewandten Künste. Dabei lag das Hauptaugenmerk auf der Naturnachahmung. In der Tat wurden in den 1860er Jahren entscheidende wissenschaftliche Arbeiten (von Haeckel, Kommode, Blossfeldt, u.a.) veröffentlicht, die der neuen Kunst ein Formenrepertoire boten und in Richtung Moderne verwiesen.
Parallel dazu entwickelte sich ein Geschmack für japanische Kunst durch Persönlichkeiten wie Hayashi Tadamasa, einem Kunsthändler, der sich in Frankreich niederließ und somit Westeuropa die Entdeckung der japanischen Produktionsweisen ermöglichte. Die japanische Kunst basiert auf der Naturbeobachtung – der poetischen Interpretation natürlicher Formen. Wissenschaft und Kunst wiesen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ähnliche Tendenz in Richtung Erneuerung auf.
Dies ging Hand in Hand mit einem künstlerischen Erwachen der Nationalitäten in ganz Westeuropa. Es war nicht mehr nur eine Frage des vergangenen oder ausländischen Geschmacks. Stattdessen entwickelte jede Nation ihre eigene Ästhetik. Des Weiteren bestand die Notwendigkeit, Dekorationen zu reduzieren, nützliche Verzierungen und Objekte in den Vordergrund zu rücken. Dies war durch verschiedene Tendenzen während des Jahrhunderts verboten gewesen: „[In diesem Jahrhundert] gibt es keine Volkskunst", sagte Émile Gallé 1900. Aber in den 1870er bis 1880er Jahren kehrten diese Kräfte zurück. Was in der Vergangenheit als überflüssig erschienen war, erfuhr schließlich erneute Beachtung auf dem Gebiet der Kunst. All diese Ereignisse fanden in Westeuropa zur gleichen Zeit statt und führten im späten 19. Jahrhundert zur Geburt des Art nouveau (dt. Jugendstil), dessen Name perfekt auf die Erneuerungen verwies. Obwohl häufig eine stilistische Ähnlichkeit bestand, variierte die formale Entwicklung des Jugendstils von Land zu Land.
Vier Schalen Fleurs Ornemanisées, aus dem Service
Animaux héraldiques, 1884. Fayence, grauer Scherben,
kleisterblaue Zinnglasur, Höhe: 3,5 cm; Breite: 22 cm;
Tiefe: 19 cm. Landesmuseum Württemberg, Stuttgart.
Die Pariser Weltausstellung von 1889 spiegelte das Ausmaß des Jugendstil-Einflusses wider: er betraf nicht nur sämtliche Bereiche der Kunstschöpfung, sondern auch die nationalen Gegebenheiten. In Frankreich explodierte der Jugendstil im Jahr 1895 zur gleichen Zeit, als die Plakate von Alfons Mucha für Sarah Bernhardt in der Rolle der Gismonda für Furore sorgten. Im Dezember des gleichen Jahres eröffnete Siegfried Bing, ein Kunsthändler mit deutschen Wurzeln, aber französischer Staatsbürgerschaft, eine Galerie, die sich vollkommen dem Jugendstil widmete, und leistete somit einen großen Beitrag zur Verbreitung des neuen Genres. Auf dem Gebiet der angewandten Kunst erlangte Émile Gallé – ein in Nancy geborener Glasmacher, Tischler und Töpfer – über ein Jahrzehnt Berühmtheit mit seinen Kunstwerken im Jugendstil. Seine Leidenschaft für die Botanik nahm er durch den Handel mit Fayencen und Glaswaren seines Vaters im Jahr 1877 auf. Seine Inspiration bekam er durch die Natur, aber auch die japanischen Künstler, die er sammelte. Er entwickelte neue Techniken, beantragte Patente und führte verschiedene Schritte der Arbeitsteilung, ein Erbe der Industriellen Revolution, in seinen Werkstätten ein. Während der Weltausstellung 1889 erhielt Gallé drei Auszeichnungen für seine Entwürfe, jeweils in einer anderen Kategorie. Daher erhielt er vom Kritiker Roger Marx den Beinamen homo triplex.
Im Jahr 1901 gründete Gallé zusammen mit Victor Prouvé (1858-1943), Louis Majorelle (1859-1926) und Eugène Vallin (1856-1922) die Alliance des Industries d’Art, bekannt auch unter dem Namen Schule von Nancy. Ihr Ziel war es, die Trennung zwischen den Disziplinen abzubauen: Es sollte kein Unterschied mehr zwischen den erfahrenen und unerfahrenen Künstlern geben. Die Natur ist die Grundlage seiner Ästhetik, somit die Erschaffung von Blumen- und Pflanzenstilisierungen. Diese Übertragungen mussten industriell gefertigt werden können. Jedoch, nachdem der Jugendstil seinen Höhepunkt im Jahr 1900 erreicht hatte, verschwand er schnell wieder aus der Welt der Kunst. Im Gegensatz zu seinem vorrangigen Anspruch ist der Jugendstil eigentlich ein eher luxuriöser Stil und schwierig in großen Mengen reproduzierbar. Die Weltausstellung von Turin im Jahr 1902 zeigte, dass sich bereits eine neue Kunstbewegung etablierte, der Art déco.
Schreibzeug, um 1878. Fayence,
gelblicher Scherben, weiße Zinnglasur,
Höhe: 13,5 cm; Breite: 34 cm; Tiefe: 20,5 cm.
Landesmuseum Württemberg, Stuttgart.
Der Naturfreund
Tintenfass Marguerite, vor 1872.
Fayence, gelbrötlicher Scherben, weiße Zinnglasur,
Höhe: 6,5 cm; Breite: 7 cm; Tiefe: 7cm.
Landesmuseum Württemberg, Stuttgart.
Miniaturkommode, vor 1872.
Fayence, gelbrötlicher Scherben, weiße Zinnglasur,
Höhe: 13,5 cm; Breite: 23 cm; Tiefe: 14,5 cm.
Landesmuseum Württemberg, Stuttgart.
Das Bessere ist ein Feind des Guten
Die Notwendigkeit, ständig etwas Neues zu schaffen, lässt uns manchmal die Regeln des guten Geschmacks und der ästhetischen Gefühle vergessen. Haben wir es nicht schon miterlebt, wie die Menschen von einem Unsinn wie einer grünen Rose schwärmten? Eine grüne Rose ist keine Rose, es ist Rosenkohl. Der vielleicht auf geschäftlichen Anforderungen beruhende Wunsch nach Innovationen würde schließlich dazu führen, alles das rückgängig zu machen, was die Natur an Charmantem geschaffen hat, und müsste Grazie durch Sprödigkeit ersetzen. Aus der Veilchenblume machen wir so ein Mauerblümchen und freuen uns darüber.
So kann man einen unserer brillanten und außerordentlichen Kollegen von der Gartenbauliteratur sehen, der die folgenden befremdlichen Zeilen verfasste, um die Haltung einer der anmutigsten Pflanzen zu beschreiben:
Wenn ich die Gattung Fuchsia einmal kritisieren müsste, dann wäre es die herabhängende Anordnung der Blüten, denn man kann sie nur von unten her sehen, wie Ohrringe, dadurch sind sie für Blumensträuße ungeeignet.
Er befürwortete daher eine alte Form, die Fuchsia erecta, von der er ein Beispiel zeigt:
Schauen Sie sich diese massiven Stangen an, geschwollen, abnormal, diese steifen Stiele, sozusagen ,aus Eisen gemacht’, dann werden Sie ein Gefühl dafür bekommen, was die Natur, wenn auch durch intensive Landwirtschaft manchmal ausgerottet, so gut gemacht hatte, um von unten nach oben gesehen zu werden.
Der Blumenhändler Garo kann etwas Hässliches zu einem der schönsten, zierlichsten Blumenarrangements komponieren, diese winzigen Gewindeglocken, diese Korallen und Granat-Anhänger, diese ,Ohrringe’, wie es von unserem guten Freund Carrière betont wurde. Er konnte ja nicht wissen, wie recht er hatte, denn der berühmte Pariser Juwelier Lucien Falize (1837-1897) schuf mit Rubinen und Diamanten an einem Tag die schönsten Verzierungen für die Ohren einer Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht.
Der Gärtner muss einen natürlichen Geschmack besitzen, der in einer aufrichtigen Bewunderung und einer Leidenschaft für die Meisterwerke der Natur seinen Ursprung findet. Seine Rolle ist es jedoch nicht, sie zu verändern, um in einer Gegenästhetik die natürlichen Eigenschaften einer Gattung in ein gestaltloses Ungleichgewicht zu bringen, sondern nur die stilvollen, die dekorativen, zu erheben, um sie zu unvergleichlicher Schönheit zu bringen. Es ist aber eine künstliche, auf einem straffen Draht befestigte Frucht, sie würde es nicht verdienen, auf einem Kirschbaum aufgehängt zu werden. Der Obsthändler bringt uns die andersartigen Ohrringe aus Kirschen, dieses köstliche Kleinod, vom Zweig auf die Lippen.
Glücklicherweise lehnt die Öffentlichkeit bestimmte Innovationen ab. Sehen Sie, wie froh sie waren, in Ausstellungen oder in den Sammlungen seltsamer, fantastischer und monströs vergrößerter Objekte natürliche und einfache Formen zu entdecken und wiederzufinden. Außerdem kann uns die aufrechte Fuchsia nicht erschrecken. Noch lange Zeit wird sie die netten Ohrringe, die an unseren Fenstern und unseren Balkonen schwingen, nicht abnehmen können.
Das symbolische Dekor
Émile Gallé wurde 1891 zum Mitglied der Académie Stanislas [Anm.: in Nancy] gewählt. Die Dankesrede, die er dort in der öffentlichen Sitzung vom 17. Mai 1900 gehalten hatte, wurde in Erinnerung daran von dieser Vereinigung gedruckt (Band XVII).
In genau diesem Augenblick, in dem ich hierher gekommen bin, um der Académie Stanislas für die Ehre zu danken, die sie mir durch die öffentliche Aufnahme zuteil werden ließen, weiß ich, was ich Ihnen für Ihre Gastfreundschaft schulde: fast zehn Jahre! Meine Mentoren waren angesichts der Sparsamkeit meiner Beiträge zu ihren Werken nicht zu hart gewesen. Und ich bin mir Ihrer Geduld und auch der Unzulänglichkeit meiner Referenzen im Vergleich zu Ihrem Wohlwollen nur zu gut bewusst.
Die Verzögerungen, die Sie akzeptiert haben, halten mich heute etwas von meiner Freude ab. Zwei Freunde, die meine Bürgen waren, fehlen: Jules Lejeune und Pastor Otto Cuvier haben uns verlassen. Ich erwähne diese beiden edelmütigen Personen nicht aus Eitelkeit, aber ich respektiere es, dass Sie durch die Aufnahme eines in seinen verschiedenen Experimenten einfachen Kunsthandwerkers dem guten Urteilsvermögen dieser beiden geschätzten Männer Anerkennung zollen. Beide waren in ihrer Menschenfreundlichkeit, ihrer Toleranz gegenüber jedem aufrichtigen Glauben und in ihrem anerkennenswerten Eifer, Menschen in Frieden, Studium und Wertschätzung zu vereinen, ein Vorbild. Es genügte ihnen, meine Sorgen und Zweifel nicht über ihr eigenes Entgegenkommen, sondern über mich ein wenig zu lindern.
Mein Engagement für die Académie reicht weit in meine Jugend zurück, zu den Jahrestagungen, diesen alten und guten Donnerstagen im Mai, wenn meine Klassenkameraden aus dem Lycée Nancy, Hubert Zæpfell und der engelhafte Paul Seigneret, der junge Märtyrer, zwei reine Opfer, uns von der lauten Institution Leopold abholten, um in diese königliche Umgebung zu gelangen und um die Lacroix, die Margeries, die Burnoufs, die Benoîts, die Lombards, die Vollands und die Duchênes zu hören.
Unsere noch junge Geisteswissenschaft genoss den Vorteil einer großzügigen Wissenschaft, ein Attizismus, schön wie die goldenen Guipure-Stickereien [Anm.: Ätzstickerei] von Jean Lamour (1698-1771). Wer hätte gedacht, dass der mittelmäßige Schüler des besten Meisters überhaupt es wagen würde, eines Tages hier, und Gott sei Dank vor vielen von Ihnen, einen verspäteten französischen Aufsatz zu präsentieren? Diese Aufgabe wird dank der Wahl eines vertrauten Themas meiner üblichen Arbeit hoffentlich leichter Anklang finden und sie mag vielleicht aufrichtig und bedeutungsvoll sein. Sie geben daher dieses Mal einem Komponisten von Ornamenten, einem Bild-Assemblierer, das Wort, um über die Symbolik im Dekor zu sprechen.
Stellen wir uns Themen vor, die für die Beschichtung von Formen, Gedanken, Linien, Schattierungen, für die Dekoration unserer Wohnungen oder für Gebrauchsgegenstände spezifisch sind oder zur reinen Freude dienen, die sich ihrem Zweck in einer materialspezifischen Weise dem Marmor oder dem Stoff, dem Metall oder dem Holz anpassen – es ist zweifellos eine aufregende Tätigkeit. Aber eigentlich ist es viel ernster, zeigt schwerwiegende Konsequenzen, die der Schöpfer der Verzierungen in der Regel nicht einmal ahnt.
Vase Marguerite, 1874-1878. Fayence,
weißliche Zinnglasur, gelbrötlicher Scherben,
Höhe: 17,4 cm; Breite: 17 cm; Tiefe: 7,5 cm.
Münchner Stadtmuseum, München.
Komplettes Raucher-Service: Tablett, Tabakdose, Aschenbecher,
Zigarrenbehälter und Streichholzbehälter, Datum unbekannt.
Weiße Zinnglasur. Landesmuseum Württemberg, Stuttgart.
Jede Implementierung menschlicher Anstrengung, so klein das Gesamtergebnis auch sein mag, lässt sich in der manchmal einschüchternden Geste des Sämanns zusammenfassen. Ob absichtlich