Operation Terra 2.0: 2 - Verhängnisvoller Optimismus
Von Andrea Ross
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Über dieses E-Book
Eine gesellschaftskritische Science Fiction-Odyssee, die der Menschheit zweier Welten einmal mehr die Grenzen ihrer Möglichkeiten aufzeigt.
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Operation Terra 2.0 - Andrea Ross
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-034-7
E-Book-ISBN: 978-3-96752-534-2
Copyright (2019) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: XOXO Verlag
© Alexander Etz, Lemon Art Design Torrevieja,
www.lemonartdesign.com
© Lizenz Foto Umschlag: 123rf.com
Buchsatz: Alfons Th. Seeboth
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
Was in Band 1 geschah …
Operation Terra 2.0 Menschheit im Exil
Die Evolutionsgeschichte des Menschen nahm einst auf dem Mars ihren Anfang, als dort die ersten Keime des Lebens durch einen Asteroideneinschlag angelangten und gediehen.
Über Jahrmillionen hinweg entwickelten sich aus diesen Einzellern hochintelligente, widerstandsfähige Hominiden, die ihre Welt zunehmend technisierten und damit allmählich den Respekt vor den Kräften der Natur verloren. Es handelte sich um einen schleichenden Prozess, in welchem sich die Menschen ihre Lebensgrundlage durch leichtsinnige Zerstörung der Umwelt nach und nach selbst entzogen.
Der ganze Planet geriet zunehmend zur lebensfeindlichen Zone, doch als man die Zusammenhänge endlich wahrhaben musste, war es längst zu spät. Die schützende Atmosphäre entwich in einem sich exponentiell beschleunigenden Prozess ins Weltall hinaus. Immer dünnere Luft erschwerte das Atmen und tödliche Krankheiten rafften Milliarden von Marsianern dahin. Die einstige Krone der Schöpfung musste hilflos mitansehen, wie widerstandsfähigere Spezies kampflos die Oberherrschaft über den Mars übernahmen.
Eines schicksalsträchtigen Tages machte die lebensbedrohliche Strahlung, die nun nahezu ungefiltert durch die marode Schutzhülle des Planeten dringen konnte, eine Existenz an der Oberfläche schließlich völlig unmöglich. Ein Häuflein Überlebender flüchtete sich in die weit verzweigten Lavaröhren jenes riesigen Schichtvulkans, welchen die irdischen Astronomen heutzutage Olympus Mons nennen.
Buchstäblich in letzter Sekunde vor einem drohenden Vulkanausbruch gelingt es einer relativ kleinen Anzahl von Menschen, ihrer sterbenden Welt zu entkommen. Zwei Raumschiffe brechen hastig auf, um anderswo den Grundstein für neue Zivilisationen zu legen.
Eines davon reist zum Nachbarplaneten Erde, welcher von den einstigen Marsianern »Terra« genannt wird. Die hoch entwickelten Neuankömmlinge verdrängen innerhalb kürzester Zeit die dort vorgefundenen Neandertaler-Hominiden. Sie verbreiten sich und ihre Lebensart in rasender Geschwindigkeit über den gesamten Planeten, dabei kommt es allerdings gelegentlich zur Vermischung der beiden Menschengattungen.
Das technisch modernere Generationenraumschiff fliegt mit zehnfacher Lichtgeschwindigkeit ins Sternbild Cygnus, das ca. 2.700 Lichtjahre vom Mars und seinem Sonnensystem entfernt liegt. Dort wartet ein erdähnlicher Planet auf Besiedlung, der nach seiner Entdeckerin Tiberia getauft wird.
Während auf Terra ein aggressives Revierund Verdrängungsverhalten zu ständigen Konflikten führt, entwickelt sich auf Tiberia dank des Fehlens konkurrierender Primaten und eines milden Klimas eine geradezu paradiesische Hochkultur. Es entsteht unter diesen günstigen Bedingungen neben einer ausgeklügelten Infrastruktur eine zwar ziemlich restriktive, aber gleichwohl stabile und hochfunktionale Gesellschaftsund Staatsform, die über viele Jahrtausende hinweg nahezu unverändert Bestand hat.
Voller Abscheu beobachten die Tiberianer, was auf Terra an ständigen Gewalttätigkeiten, bodenloser Ungerechtigkeit und sinnlosem Streben nach materiellen Gütern vor sich geht. Stellenweise sieht man sich genötigt, höchstpersönlich in den Verlauf der Geschichte einzugreifen, um das Schlimmste für die dort lebenden Menschen zu verhindern. Schließlich handelt es sich um marsianische Brüder und Schwester, die einst denselben Wurzeln entsprungen sind!
Was stets gut gemeint gewesen war, zeitigte leider oft unbeabsichtigte Nebenwirkungen: die Sache mit Moses zum Beispiel, der bei den Bewohnern Terras bloß zehn einfache Regeln für das friedliche Zusammenleben implementieren wollte.
Oder schlimmer noch: der gründlich misslungene Versuch, als am Modellbeispiel von Atlantis demonstriert werden sollte, wie eine intellektuelle Hochkultur entstehen kann, damit diese ihren Einwohnern anschließend ein relativ sorgenfreies Leben ermöglicht. Die Terraner schafften es zum Entsetzen der bald als »Götter« angesehenen Außerirdischen, jeden noch so ehrgeizigen Plan in Rekordzeit zu pervertieren und ins glatte Gegenteil zu verkehren.
Im Grunde hätten die Tiberianer nach dieser bitteren Erkenntnis einfach ihre halbherzigen Versuche einstellen und die Terraner guten Gewissens sich selbst und ihrem unausweichlichen Schicksal überlassen können. Wenn … ja, wenn da nicht zwischenzeitlich diverse Probleme auf dem eigenen Planeten aufgekeimt wären … !
Sobald Menschen auf zu engem Raum zusammenleben müssen und dadurch die Ressourcen knapp werden, sind Konflikte vorprogrammiert. Diese universelle Regel gilt sogar für die bestens strukturierte und kontrollierte Kultur auf Tiberia. Zunächst versucht man, die wachsende Unzufriedenheit in den Griff zu bekommen und verharmlost die sichtbaren Auswirkungen. Doch die gefährliche Spirale aus Ungehorsam, Aggression und stetiger Abnahme des Einsatzwillens in der Bevölkerung dreht sich immer schneller, droht eines Tages in zerstörerische Anarchie zu münden. Es kriselt und bröckelt an allen Ecken und Enden.
Die Obrigkeit ist gezwungen zu handeln, sofern sie die Kontrolle nicht verlieren will. Die Unruhestifter sollen Tiberia verlassen und nach Terra deportiert werden, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Das Problem dabei ist nur, dass man niemandem zumuten könnte, zwischen diesen emotional entarteten Hominiden zu siedeln … schon gar nicht freiwillig!
So entsteht nach endlosen Beratungen zwischen den Vordersten sämtlicher Sektionen und der Regentenfamilie Tiberias ein wahnwitziger Plan:
Noch ein allerletztes Mal soll auf Terra im richtigen Moment in die Geschichte eingegriffen werden, und das mittels einer sorgfältig durchdachten Zeitreise! Wenn der Hauptgrund für irdische Kriege schon in der latenten Aggressionsbereitschaft der dort lebenden Individuen sowie einer unterschiedlichen, meistens religionsoder kulturbedingten Weltanschauung zu sehen sind – bitte, dann muss man eben genau dort den Hebel zur Regulierung ansetzen!
Aufgrund des immensen Erfolgsdrucks setzen die Vordersten alles daran, die Operation Terra 2.0 getaufte Mission sorgfältig zu planen und deren handverlesene Teilnehmer intensiv auf ihre schwierige Aufgabe vorzubereiten. Zumindest in der Theorie scheint die Wahrscheinlichkeit hinreichend groß zu sein, dass der gewünschte Umdenkprozess auf Terra endlich in die Wege geleitet werden kann.
Der bedauernswerte Protagonist für die Mission ist schnell gefunden: Es handelt sich um einen Wissenschaftler namens Solaras. Dieser Mann, der in genetischer und charakterlicher Hinsicht über die passenden Eigenschaften verfügt, wird mittels fieser Erpressung durch seine Vorderste Alanna rekrutiert. Er hat nämlich gegen eherne Regeln der Gemeinschaft verstoßen und überdies nach einer Verkettung höchst unglücklicher Umstände eine junge Frau auf dem Gewissen. Wenn er sein eigenes Leben retten will, bleibt ihm nur die Entscheidung zur Teilnahme an der Mission – er hat keine wirklich freie Wahl und ist darüber natürlich alles andere als erfreut.
Noch bevor die Menschheit auf Terra ihre industrielle Revolution erlebt und vollends dem rücksichtslosen Kapitalismus erliegt, wird sie sich mit seiner Hilfe hoffentlich an eine sanftmütige, friedliche Form des Zusammenlebens gewöhnen. Solaras soll zu diesem Zweck eigens eine neue Denkweise ins Leben rufen, die hehre Werte wie Respekt vor dem Leben, Duldsamkeit, Liebe und Mitgefühl favorisiert, um die terrestrische Weltgeschichte nachhaltig zu verändern.
Dazu muss er allerdings zunächst wie ein ganz gewöhnlicher Junge in Judäa aufwachsen, damit er vorbehaltlos von seiner Umwelt akzeptiert wird. Man versetzt den jungen Erwachsenen mithilfe modernster Technik in ein vorgeburtliches Entwicklungsstadium zurück und gedenkt dieses tiberianische Ungeborene in den Unterleib einer einheimischen Terranerin einzusetzen, die unter dem schönen Namen Maria bekannt ist…
Um sicherzustellen, dass Solaras zuverlässig den vorgesehenen Weg einschlägt und am Ende selbstlos Frieden stiftet, stellt man ihm ein spezialisiertes Einsatzteam zur Seite. Dieses soll unbemerkt aus einem felsigen Wüstenabschnitt heraus unterstützend mitwirken und im Notfall sofort eingreifen können.
Als Vermittlerin zwischen diesen tiberianischen Helfern und dem völlig ahnungslosen, über seine wahre Identität nicht informierten Solaras wird eine sorgfältig ausgewählte Dozentin aus der Sektion Ideologie eingesetzt, die in ihrer tiberianischen Heimat Kalmes genannt wird.
Die junge Frau reist der ersten Abordnung mit einem zweiten Raumschiff hinterher und wird den Zeittunnel zu einem späteren Zeitpunkt verlassen, nämlich dann, wenn Solaras auf Terra bereits ein Alter von 18 terrestrischen Jahren erreicht hat. Beide Missionare erhalten für die Dauer der Operation Terra 2.0 gängige irdische Namen aus der Region zugeteilt.
Jesus und Maria Magdalena sollen sich anfreunden und baldmöglichst gemeinsam auf revolutionären Pfaden wandeln – doch sie haben die Rechnung leider ohne den freien Willen der Terraner und Alannas nicht immer ganz ehrenwerte Absichten gemacht …
***
Liebe Leser,
im Anhang finden Sie ein Glossar, das auch eine Kurzanleitung für das verwendete KIN-Zeitsystem enthält. Wissenswertes über den Planeten Tiberia ist in Band 1 – Menschheit im Exil beschrieben. Jetzt wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung beim Weiterlesen!
Ihre Autorin Andrea Ross
Terra – Eine Reise ins Ungewisse
Verstört starrte der braungebrannte Ziegenhirt Matthäus gen Himmel. »Was ist denn los, Vater? Was hast du gesehen?«, fragte ein kleiner Bub, der barfuß neben ihm herging und ein neugeborenes Jungtier auf den Armen trug.
»Sieh doch, dort oben, die leuchtende Kugel mit dem Feuerschweif! Sie fällt zur Erde herab und wir müssen zusehen, dass wir uns schnell in den steinigen Höhlen verbergen! Mein Sohn, dies könnte das Ende der Welt bedeuten!«
Der Junge ließ vor Schreck die kleine Ziege zu Boden fallen und griff nach der schwieligen Hand seines Vaters. Gemeinsam rannten sie über das unwegsame Gelände auf eine löchrige Felswand zu, um sich dort in relative Sicherheit zu bringen.
Völlig außer Atem erreichten sie gemeinsam den Eingang zu einer nicht sehr tiefen Höhle, die halb hinter einem stacheligen Busch verborgen lag.
»Kauere dich in die hinterste Ecke, umschließe die Beine mit den Armen und berge deinen Kopf zwischen den Knien! Bete zum Herrn, damit er uns verschonen möge! Ich komme gleich zu dir, will nur noch einmal kurz nachsehen, ob der brennende Stern hier in der Nähe auf die Erde fallen wird!«
Der Junge tat, wie ihm geheißen wurde und wimmerte vor Angst, während Matthäus eilig dem Höhlenausgang zustrebte. Noch nie zuvor hatte er seinen ruhigen, stets besonnenen Vater dermaßen aufgewühlt zu Gesicht bekommen.
Schon gar nicht grundlos! Selbst die schwierige Geburt seiner jüngsten Schwester in der vergangenen Woche, bei der Mutter um ein Haar verblutet wäre, hatte ihn nicht aus dem Konzept bringen können. Jetzt kehrte er im Laufschritt zu seinem Sohn zurück, doch seine harten Gesichtszüge wirkten kein bisschen entspannter.
»Ich glaube, wir haben den rasenden Zorn des Allmächtigen auf uns gezogen! Er bestraft uns reichlich für unsere Sünden, dies ist das Ende! Die Priester Jehovas haben sich nicht getäuscht, als sie uns vor diesem Tag warnten!«, schrie Matthäus voller Panik und umschlang seinen drittgeborenen Sohn schützend mit beiden Armen, als draußen ein dumpfes Dröhnen hörbar wurde, das stetig näherzukommen schien. Ein bläulicher Schein erfüllte die Höhle für einen endlosen Moment lang, tauchte sie in ein geisterhaftes Licht; dann verschwand das gesamte Phänomen so plötzlich, wie es erschienen war. Zitternd klammerten sich Matthäus und Josua aneinander.
Doch der erwartete Einschlag nebst Weltuntergang blieb aus. Nach ungefähr einer Stunde, in welcher sich rein gar nichts Beunruhigendes mehr ereignet hatte, wagte es Matthäus endlich, vorsichtig die Höhle zu verlassen und nachzusehen.
Gar seltsame Gedankenkonstrukts plagten ihn. Hatten sie am Ende gar nicht bemerkt, dass sie in einer infernalischen Flammenhölle ums Leben gekommen waren? War es so schnell und schmerzlos vorübergegangen? Hatte der Herr ihn und seinen Sohn womöglich in seiner übergroßen Güte direkt hinauf ins Paradies befördert, weil sie an ihn glaubten und sonntags den Gottesdienst verrichteten?
Als er ins Freie trat, konnte er partout nichts Ungewöhnliches feststellen. Kein Zweifel, dies war immer noch jene karge Steppe, durch welche schon seine Urväter ihre Tiere auf der Suche nach Wasserstellen und Futter getrieben hatten. Die Landschaft lag friedlich im Sonnenlicht vor ihm, als hätte es die leuchtende Kugel niemals gegeben.
Aber er hatte sie doch mit eigenen Augen gesehen! Wie konnte etwas so Mächtiges einfach aus dem Blickfeld verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen?
Im Höhleneingang zeigte sich Josuas schwarzer Haarschopf.
»Vater, wo ist denn der helle Stern jetzt hin? Und wo sind all unsere Tiere? Sie müssen sich erschreckt haben und ängstlich weggelaufen sein!«
Matthäus beneidete seinen Sohn um die leichtfertige Sorglosigkeit der Jugend. Die Kinder dieser Welt quälten sich nicht mit Fragen um das Wie oder Warum, sondern gingen einfach wieder fröhlich zur Tagesordnung über. Josua sorgte sich weit mehr um das entlaufene Zicklein, als dass ihn der Verbleib der leuchtenden Himmelserscheinung jetzt noch interessiert hätte. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Während der kleine Junge sich behände anschickte, in einem schlecht einsehbaren Taleinschnitt nach den verängstigten Ziegen zu suchen, fasste Matthäus resigniert einen Beschluss:
Er würde die merkwürdige Begebenheit für den Moment auf sich beruhen lassen und am Abend bei seiner restlichen Familie nachfragen, ob außer ihm noch jemand einer gleißenden Kugel mit Feuerschweif ansichtig geworden sei. Dann würde man ja gleich sehen, ob er vorhin bloß einem hinterlistigen Trugbild des Teufels aufgesessen war! Er fiel auf seine Knie und faltete andächtig die Hände.
»Danke, oh Herr, dass du unser unwürdiges Leben verschont hast! Gepriesen sei Dein heiliger Name, Grundgütiger!«
*
Melchior hyperventilierte vor Aufregung, während sein Team wie ein Haufen aufgescheuchter Hühner durcheinanderlief. Man konnte jeden wie auch immer gearteten Ernstfall im Simulator proben, sooft man wollte – in der Realität musste man dennoch meist mit unerwarteten Begebenheiten kämpfen, die vorher niemand auf der Rechnung gehabt hatte.
»Der Raumgleiter ist zum Stehen gekommen, Verankerung vorläufig ausfahren und Luken öffnen! Erbitte Schadensbilanz. Ist jemand verletzt, können wir das Schiff noch wie geplant zur Endposition manövrieren? Und vor allen Dingen: Wie geht es unserer wertvollen Fracht in der Retorte? Überprüft mir die biologischen Marker mit dem Vitascan, und zwar bitte ebenso schnell wie gründlich!«
Die tiberianische Mannschaft machte sich diensteifrig daran, seine Befehle auszuführen, auch wenn allen der Schreck noch gehörig in den Knochen steckte. Glücklicherweise verfügten sämtliche für diese Mission ausgewählten Zeitreise-Experten über eine sorgfältige Ausbildung und waren darauf konditioniert worden, selbst in bedrohlichen Lagen fehlerfrei zu funktionieren. Wurde ein klarer Befehl erteilt, führten sie diesen buchstabengetreu aus, ohne groß nachdenken zu müssen.
Kapitän Melchior hingegen hatte derweil mit dem teilweise ausgefallenen Bord-Navigationssystem seine liebe Not, aber er musste umgehend herausfinden, ob die zuletzt angezeigten Landekoordinaten ihre Richtigkeit hatten.
Nicht auszudenken, falls sie wegen des technischen Defekts in einem ganz anderen Landstrich Terras herausgekommen wären! Der Zeittunnel wurde aus Sicherheitsgründen grundsätzlich nur bis zu einem Raumpunkt oberhalb der Planetenatmosphäre generiert – wie weit sie nach dem Austritt noch geflogen waren, konnte man schlecht abschätzen. Mit der flachen Hand drosch Melchior wütend auf das ramponierte Navoport-System ein, bis es mit einem jämmerlichen Winseln vollends seinen Dienst aufkündigte.
Hatte das Ding die Endkoordinaten ihrer derzeitigen Position angezeigt, oder doch schon weit vorher seinen Geist aufgegeben? In diesem Fall wären sie allerdings in räumlicher Hinsicht viel zu weit gereist!
Es gab nur einen einzigen Weg, das zumindest ungefähr herauszufinden: Er musste sich einen Weg durch Trümmer und herunterhängende Kabelstränge bahnen, um zu einer der beiden Ausstiegsluken zu gelangen. Wann immer die hochfunktionale Technik streikte, konnte man sich höchstens noch auf die eigenen zwei Augen verlassen. Wobei seine Augennerven gerade gehörig schmerzten, was sich ursächlich auf die Unannehmlichkeiten der soeben überstandenen Zeitreise zurückführen ließ.
Die Heckluke war bereits mithilfe der mechanischen Vorrichtung geöffnet worden, so dass sich ein Schwall brütend heißer Luft ins Innere des normalerweise perfekt temperierten Raumgleiters ergoss. Was für ein höllisches Klima! Melchior konnte diesen Planeten schon jetzt nicht ausstehen. Hier sollte er mindestens ein KATUN lang ausharren und dem Missionar zu Diensten sein? Worauf hatte er sich da nur eingelassen!
Vorsichtig spähte der erfahrene Flugkapitän aus der Luke, sorgsam die Sonneneinstrahlung vermeidend. Ein Glück, da draußen gab es nur unbewohnte Einöde zu sehen. Er mochte sich gar nicht erst bildlich ausmalen, welchen Gefahren sie sich ausgesetzt hätten, wenn der Raumgleiter versehentlich mitten in einer Stadt bruchgelandet wäre!
Wahrscheinlich hätte die einheimische Bevölkerung äußerst sauer auf die Eindringlinge reagiert und vielleicht sogar geschossen oder mit Steinen geworfen … nach allem, was ihm eingetrichtert worden war, handelte es sich bei den terrestrischen Menschen um ein überaus kriegerisches Volk.
Jetzt bewegte sich auf einmal doch etwas, erschrocken prallte Melchior um gut einen Meter zurück.
»Das ist bloß ein besonders hässliches terrestrisches Tier, es wird uns nichts antun! Schau, es scheint auf Futtersuche zu sein!«, lachte Balthasar und klopfte seinem Befehlshaber aufmunternd auf die Schulter. »Keine Angst, es frisst nur Pflanzen und verschmäht Außerirdische!«
Dieser unerschütterliche Optimist war nicht so leicht zu beunruhigen; schon auf dem Flug hatte er sich als ruhender Pol nützlich gemacht, weil er auch im größten Chaos gelassen blieb und mühelos den Überblick behielt. Es entpuppte sich bereits zum jetzigen Zeitpunkt als gute Entscheidung, den wohlbeleibten Scherzbold mitzunehmen!
Balthasar behielt natürlich Recht. Das dürre Tier glotzte gelegentlich in ihre Richtung, rupfte währenddessen aber gemächlich Lücken in den ohnehin spärlichen Bodenbewuchs dieser ausgetrockneten Landschaft. Es schien sich nicht näher für das metallene Etwas zu interessieren, das direkt vor seiner Schnauze in der Sonne glänzte. Vermutlich handelte es sich also um eine recht dumme und damit ungefährliche Spezies.
Melchior war wegen seines überempfindlichen Ausbruchs peinlich berührt und bemühte sich deswegen tunlichst um einen Themenwechsel.
»Habt ihr Neuigkeiten für mich? Wie geht es meiner Mannschaft, gab es Verletzte?«
»Nur leichte Blessuren wie Schnittwunden oder Hämatome. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes mit einem blauen Auge davongekommen, wie es scheint. Caspar ist bereits dabei, die Leute zu behandeln.«
»Und der Behälter mit der Retorte? Ist wenigstens unser zugleich winziger und schicksalsträchtiger Passagier wohlauf, obwohl sich unser hochmodernes Fortbewegungsmittel offensichtlich in einen Haufen nutzlosen Schrotts verwandelt hat?«, fragte er sarkastisch.
»So schlimm ist es auch wieder nicht! Unser Mini-Jesus ist topfit und das Schiff auch nicht irreparabel beschädigt. Sibilla meint sogar, wir könnten es mithilfe der Restenergie in den Brennstoffzellen bodennah fortbewegen und wie vorgesehen in einer geräumigen Höhle verbergen.
Na ja … welche wir allerdings erst mithilfe von einprägsamen Landmarken suchen gehen müssten, denn das Geoscan ist definitiv hinüber. Wir dürften uns im Westjordanland befinden
– aber wo genau, das kann ich dir auch nicht sagen. Am besten wir reparieren schnell das Notwendigste und schicken dann eine kleine Expedition da hinaus!« Er deutete mit einer ruckartigen Bewegung seines Kinns Richtung Ausgang und lächelte.
Balthasar war im Gegensatz zu seinem Kapitän stets praktisch orientiert, ein mutiger Mann der Tat, der sensibel auf die Gunst des Augenblicks reagierte. Melchior wusste manchmal nicht, ob er diese Eigenschaft gutheißen oder lieber verdammen sollte.
Da hinaus, in eine unbekannte Landschaft auf einem ihm vollkommen fremden Planeten … diese Idee schmeckte dem Kapitän überhaupt nicht! Ihm oblag die gesamte Verantwortung für Leib und Leben der Mannschaft, dazu auch noch diejenige für das Gelingen der Mission. Demgegenüber tat Balthasar sich freilich leicht mit seinem Ansinnen namens »da hinaus«! Man durfte Entscheidungen von solcher Tragweite niemals Hals über Kopf treffen!
Mit diesen und ähnlichen Überlegungen versuchte Melchior, sein Zaudern vor sich selbst zu rechtfertigen. In Wirklichkeit hatte ihn spätestens seit der Bruchlandung nämlich eine diffuse Angst vor dem Unbekannten befallen, doch das wollte er seinen forschen Untergebenen nicht einmal ansatzweise ahnen lassen.
»Alles zu seiner Zeit!«, wiegelte er ab und wechselte mit viel Geschick erneut das Thema. »Was mich momentan viel mehr bewegt – habt ihr schon herausfinden können, weshalb unsere Tarnschilde nicht funktionierten? Sind wir womöglich vor dem Abflug sabotiert worden?
Mir ist aus der Raumfahrtgeschichte Tiberias kein einziger Fall einer totalen Fehlfunktion bekannt. Sicher, irgendwann ist immer das erste Mal, und doch … wie du wahrscheinlich mitbekommen hast, ist diese Mission nicht bei allen Vordersten auf Gegenliebe gestoßen! Wir sollten es daher keinesfalls versäumen, akribisch nach der Ursache zu forschen.
Für die Bewohner Terras muss es jedenfalls ausgesehen haben, als nähere sich ein unheilbringender Komet, als wir mit unserem rotglühenden Raumgleiter die Atmosphäre durchbrochen haben. Ich kann nur hoffen, dass aufgrund des spektakulären Schauspiels niemand neugierig geworden ist und alsbald nachsehen kommt.«
Balthasar schüttelte bedauernd seinen kugelrunden Kopf. »Es wird eine Weile dauern, bis wir herausfinden können, was die Fehlfunktion verursacht hat. Unser Techniker und Chefnavigator Opheon wird sich der Sache annehmen, sobald sein Arm verbunden ist und wir den Raumgleiter vor neugierigen Blicken verborgen haben.
Dieses Rätsel werden wir vorläufig zu all den anderen auf jene lange Liste an Fragen setzen müssen, welche wir über das kommende KATUN unseres Hierseins zu klären haben! Die Zeit wird uns sicher nicht lang werden, bis
