Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Fehldiagnose psychosomatisch: Wenn Ärzte nicht weiter wissen
Fehldiagnose psychosomatisch: Wenn Ärzte nicht weiter wissen
Fehldiagnose psychosomatisch: Wenn Ärzte nicht weiter wissen
eBook399 Seiten4 Stunden

Fehldiagnose psychosomatisch: Wenn Ärzte nicht weiter wissen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Während die Psyche in der Medizin lange kaum eine Rolle gespielt hat, wird heute die Diagnose "psychosomatisch" inflationär gebraucht.
Bei Symptomen wie chronischer Müdigkeit, Infektanfälligkeit, Verdauungsbeschwerden, diffusen Schmerzen, "Brainfog" oder Chemikaliensensitivität landen Patienten vorschnell in der Schublade "psychosomatisch".
Mit ganzheitlicher Labordiagnostik kann man jedoch zahlreiche Ursachen körperlicher Beschwerden aufdecken, bei denen die Schulmedizin mit ihrem Latein am Ende ist.
Dazu gehören Ursachen wie Mikronährstoffmängel, stille Entzündungen, toxische Belastungen, gestörte Immunbalance, genetische Polymorphismen, Nebennierenschwäche, Dysbiosen des Mikrobioms und viele mehr.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum23. März 2024
ISBN9783384182111
Fehldiagnose psychosomatisch: Wenn Ärzte nicht weiter wissen

Ähnlich wie Fehldiagnose psychosomatisch

Ähnliche E-Books

Medizin für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Fehldiagnose psychosomatisch

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Fehldiagnose psychosomatisch - Reinhard Clemens

    Kapitel 1: Fehldiagnose „psychosomatisch" – Was steckt dahinter?

    Nahezu täglich suchen Patienten meine Praxis mit der Diagnose „psychosomatisch auf. Die meisten von ihnen haben bereits einen Ärztemarathon hinter sich, jedoch konnte kein Mediziner eine physische Erkrankung feststellen. Schlussendlich werden die teils intensiven Symptome als psychosomatisch eingestuft, oft ohne Rücksicht darauf, ob tatsächlich ein psychisches Problem vorliegt. Viele Patienten fühlen sich missverstanden, als psychisch krank abge-stempelt und sind überzeugt, dass eine unentdeckte körperliche Krankheit vorhanden ist. Aus meiner Erfahrung heraus haben diese Patienten oft Recht. Da sie nicht in das Schema der schulmedizinischen Diagnostik passen, wird von Ärzten letztendlich die Verlegen-heitsdiagnose „psychosomatisch gestellt. Doch wie kommt es zu solchen Fehldiagnosen? Welche Ursachen liegen dahinter?

    Ein Zitat einer Patientin verdeutlicht das Problem: „Wenn Ärzte nichts finden, ist es immer mal ganz schnell die Psyche."

    1.1. Verlegenheitsdiagnose „psychosomatisch"

    Wie ist es paradoxerweise dazu gekommen, dass die Diagnose „psychosomatisch" in der heutigen Schulmedizin beinahe inflationär verwendet wird? Viele Jahrzehnte lang hat die Schulmedizin gebraucht, um überhaupt seelische Ursachen für körperliche Be-schwerden anzuerkennen. Doch warum neigt sie jetzt dazu, psycho-somatische Beschwerden zu diagnostizieren, wo sie vielleicht gar nicht vorliegen?

    Solange psychosomatische Beschwerden nicht in den medizinischen Leitlinien aufgeführt waren, galten sie schlichtweg als nicht existent. Jetzt, da die Leitlinien besagen, dass zum Beispiel Reizdarm eine psychosomatische Erkrankung ist, muss es also auch so sein. Wenn bei einer Darmspiegelung keine krankhaften Veränderungen der Darm-schleimhaut nachgewiesen werden können, werden auch starke Bauchkrämpfe rein psychischen Ursachen zugeschrieben. Egal, ob der Patient tatsächlich seelische Probleme hat oder nicht. Nahrungsmittel als Auslöser kommen nicht infrage, da bereits alle möglichen (bisher anerkannten) Ursachen ausgeschlossen wurden. Weder Zöliakie, noch Fruktose- oder Laktoseintoleranz liegen vor. Alles andere ist unbe-kannt, also wird es als undenkbar betrachtet. Da jedoch eine Diagnose für die Abrechnung nach ICD-10 Norm notwendig ist, bleibt oft nur die Diagnose „psychosomatisch" als letzter Ausweg.(1) Hierfür gibt es Pillen (Psychopharmaka) oder eine Überweisung zum Psychologen. Fall abgeschlossen.

    Da Heilpraktiker nicht generell nach ICD-10 Norm oder leitlinien-konform handeln müssen, sind sie von Hause aus offener für „alternative Ideen. Da Heilpraktiker auch lesen können¹) und dank Internet medizinische Fachinformationen für jeden zugänglich gewor-den sind, beschäftigen sie sich mit neuesten medizinischen Forschun-gen. Während wir bis vor ein paar Jahren noch ausschließlich teils Jahrhunderte alte Heilweisen angewandt hatten (wie Akupunktur oder Ayurveda), bedienen wir uns mittlerweile auch modernem medi-zinischem Forschungswissen. Wenn man dann die X-te Studie über den Zusammenhang der Darmflora mit chronischen Darmproblemen gelesen hat, fühlt man sich bestätigt darin, den Darm zu „sanieren, um einen Reizdarm zu behandeln. Unsere Patienten haben einfach nicht die Zeit, auf irgendwelche neuen Leitlinien zu warten.

    1) Ich bitte um Verzeihung für den zynisch klingenden Ton meiner Aussage, dass Heilpraktiker auch lesen können. Leider gibt es ein weitverbreitetes Heilpraktiker-Bashing, das von bestimmten Gruppen sowohl über Nischenmedien als auch über Mainstream-Medien betrieben wird. Dieses Thema ist meiner Meinung nach so bedeutend, dass es problemlos ein eigenes Buch füllen könnte. Ein Medizinstudium ist zweifellos von großer fachlicher Tiefe geprägt. Dennoch sollte man betonen, dass die Erlangung der Heilpraktiker-Erlaubnis keineswegs ein Spaziergang ist, entgegen gegenteiliger Behauptungen. Das aus diesem Prozess gewonnene medi-zinische Wissen erweist sich als äußerst wertvoll und von breit gefächerter Bedeutung. Meine Erfahrung lehrt mich, dass es dazu befähigt, medizinische Zusammenhänge zu durchdringen. Mittels spezifischer Fachfortbildungen und Eigenstudium kann man sein Wissen in speziellen Fach-gebieten vertiefen. Es sollte jedoch betont werden, dass ein und dasselbe medizinische Wissen, sei es durch ein Universi-tätsstudium oder anderswo erworben, nicht automatisch zu größerer Klugheit führt. Im digitalen Zeitalter ist Wissen frei zugänglich. Die wahre Kunst besteht darin, das erworbene Wissen im medizinischen Kontext richtig einordnen zu können.

    Somatoforme Störungen - Somatisierungsstörung - psychosomatische Störung

    Im ICD-10 werden psychosomatische Erkrankungen unter dem Oberbegriff „Somatoforme Störungen (ICD-10, F45) katalogisiert. Als Unterbegriff wird „Somatisierungsstörung (F45.0) weitestgehend als Synonym für (multiple) psychosomatische Störung verwendet. Während diese Begriffe auch im Sprachgebrauch der Ärzte meist als gleichbedeutend verwendet werden, können sie im engeren Sinne differenziert werden.

    Mit somatoformer Störung oder Somatisierungsstörung meint man körperlich wahrgenommene Symptome, die trotz aufwändiger Diag-nostik keinerlei körperliche Befunde ergeben. Das heißt, es kann aus Sicht der Mediziner wirklich nichts gemessen werden. Typisch hierfür ist, dass es sich um multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome handelt, die mindestens zwei Jahre bestehen. Die Patienten stellen körperliche Symptome wiederholt bei den Ärzten vor und fordern hartnäckig nach medizinischen Unter-suchungen, obwohl die Befunde wiederholt unauffällig sind und die Ärzte versichern, dass die Symptome nicht körperlich begründbar seien. Kurz gesagt, handelt es sich um eine psychische Erkrankung, sofern die Störung korrekt als solche diagnostiziert wird. Bekanntestes Beispiel für eine somatoforme Störung ist die Hypochondrische Störung (F45.2).

    Im Gegensatz dazu kann im engeren Sinne mit einer psycho-somatischen Erkrankung eine wirklich messbare und diagnostizierbare körperliche Symptomatik gemeint sein. Zum Beispiel ein stress-bedingtes Magengeschwür, ein Tinnitus (indirekt messbar), Bluthoch-druck oder Hautausschläge, die ebenso stressbedingt sein können. Im Übrigen sind auch nach dieser Definition stressbedingte Erkrankungen nicht allein von der Psyche abhängig. Denn Stress führt zur messbaren Veränderung der Stresshormone und Neurotransmitter und löst im Körper subtile Entzündungsprozesse (-> 3.1. Stille Entzündungs-prozesse) und andere Probleme aus, die dann die eigentlichen körperlichen Beschwerden erzeugen. Mehr dazu in späteren Kapiteln. Die individuelle Stressresistenz und Funktion der Nebennieren sowie die Fähgigkeit des Körpers, Entzündungsprozesse und (oxidativen, nitrosativen) Zellstress zu regulieren, ist entscheidend. Wenn wir diese physiologischen Funktionen verbessern, steigt unsere Stressresistenz und sinkt unser Risiko für stressbedingte Erkrankungen.

    Das heißt, man kann vereinfacht gesagt bei somatoformen und psychosomatischen Störungen zwischen psychischen Erkrankungen und stressbedingten Erkrankungen unterscheiden. Da diese Unterscheidung in der Praxis häufig nicht oder eben nicht korrekt getroffen wird, nutze ich in diesem Buch den landläufigen Begriff „psychosomatisch". Damit schließe ich fälschlicherweise als somatoform fehldiagnostizierte Störungen mit ein. Natürlich kommt es auch in meiner Praxis vor, dass ich Patienten vor mir habe, bei denen ich eine somatoforme Störung vermute. Logischerweise können auch solche Patieten irgendwann mal in einer Naturheilpraxis landen.

    In diesem Buch geht es um Patienten, die vorschnell in dieser Schublade landen und bei denen aus diesem Grund körperliche Symptome unbehandelt bleiben. In der Praxis sind die Grenzen nicht selten fließend. „Man kann auch Läuse und Flöhe zugleich haben." Das betrifft verschiedene körperliche Probleme sowie das Nebeneinander von körperlichen und seelischen Problemen. Häufig sind die Bereiche eng miteinander verwoben. Zur Lösung der Problematik muss ich aber auf alle Themen eingehen und da können voreilig benutzte Schublade kontraproduktiv sein.

    Meiner Beobachtung nach spielt die Compliance der Patienten eine wichtige Rolle bei der Unterscheidung zwischen somatoformen, psychosomatischen und körperlich bedingten Problemen. Patienten mit körperlichen Problemen und stressbedingten psychosomatischen Erkrankungen haben meist eine gut Compliance, das heißt, „sie machen gut mit". Bei wirklich psychisch bedingten Somatisierungsstörungen ist die Compliance oft gering. Wenn beispielsweise immer weitere, teils beliebige Tests eingefordert werden, ohne dass ein Therapieplan zumindest ausprobiert wird, dann denke ich auch an Schwerpunkte im seelischen Bereich. Gleichzeitig ist es eine Herausforderung für mich als Therapeut, immer offen zu bleiben und mein eigenes Nicht-Wissen zu akzeptieren. Ich habe viel durch meine Patienten gelernt und lerne weiterhin. So kann es sein, dass mein Patient unter einer körperlichen Problematik leidet, die ich noch nicht kenne oder für die ich noch kein geeignetes diagnostisches Instrument gefunden habe. Es ist meine Aufgabe, jeden Patienten ernst zu nehmen und gemeinsam auf die Suche nach Lösungen zu gehen.

    1.2. Zeitmangel der Kassenärzte

    Es ist allseits bekannt, dass der durchschnittliche Patient selten länger als 5 Minuten Zeit hat, um mit seinem behandelnden Arzt zu sprechen.(2,3) Nach oft stundenlangem Warten im Gedränge des Warte-zimmers, wo man Zeitschriften durchblätterte oder gelangweilt am Handy spielte, ist es endlich so weit. Dann muss eine mitunter jahrelange Krankengeschichte in diese kurze Zeitspanne gepresst werden. Keine einfache Aufgabe, weder für den Erzählenden noch für den Zuhörenden. In nur 5 Minuten lässt sich keine Geschichte ange-messen erzählen. Im Vergleich dazu dauert ein guter Film 90 Minuten (ähnlich wie die durchschnittliche Dauer einer Erstanamnese beim Heilpraktiker); in 5 Minuten kann man gerade mal den Trailer zeigen. Viele Patienten beklagen den Zeitmangel in den Arztpraxen. Nur rund ein Drittel der Patienten zeigt sich laut Umfragen noch rundum zufrieden mit der ärztlichen Behandlung.(4)

    Aufgrund des Drucks von Zeit und Kosten bleibt dem Arzt oft nichts anderes übrig, als zumindest eine vorläufige Verdachtsdiagnose zu stellen. Diese führt zu tausenden Behandlungsfehlern jedes Jahr.(5) Ähnlich wie bei Quizshows wie „Wer wird Millionär? fragt er sich: Werden die Beschwerden des Patienten von alleine abklingen? Soll ich ein Rezept für Medikamente ausstellen? Soll ich ihn wieder einbestellen, nachdem ein Blutbild erstellt wurde? Soll ich ihn an einen Facharzt überweisen? Wie werde ich den Patienten los, bevor er mir seine gesamte Lebensgeschichte, bzw. die XXL-Version seiner Kranken-geschichte, erzählt? Hierbei sind rollbare Hocker besonders nützlich. Der Arzt rollt auf den Patienten zu, misst den Blutdruck und führt ein kurzes Gespräch. Nach 3 Minuten rollt er demonstrativ wieder zurück und fragt: „Gibt es sonst noch etwas? Der Patient stammelt, „Ähm ja, eigentlich wollte ich…" Was wollte er eigentlich? Das fällt ihm wieder ein, wenn er vorne am Empfangstresen steht, um seine Überweisung oder sein Rezept abzuholen.

    Ich behaupte, dass eine beträchtliche Anzahl von Patienten, die als psychisch krank eingestuft werden, eigentlich nicht unter psychischen Störungen leiden, sondern sich schlicht unverstanden fühlen. Ja, sich chronisch unverstanden zu fühlen, kann auch eine Neurose sein. Und jeder sollte sich selbstkritisch prüfen, ob dies auf ihn zutrifft. Doch aufgrund mangelnder Zeit und fehlendem Verständnis sollte es nicht zu Fehldiagnosen und überflüssigen Verschreibungen von Anti-depressiva und Co. kommen.

    1.3. Symptombezogene Diagnostik der Fachärzte

    Eine große Errungenschaft der Medizin ist zugleich ihre größte Crux. Die moderne Medizin hat sich enorm professionalisiert und speziali-siert. Labormedizinische und vor allem apparative Untersuch-ungsverfahren können selbst kleinste Anomalien in jedem Organsys-tem aufdecken. Dadurch können gefährliche Erkrankungen wie Arter-ienverschlüsse oder bösartige Tumore äußerst präzise erkannt und be-handelt werden. Zweifellos rettet die moderne Medizin täglich Leben.

    Allerdings neigt die moderne Medizin aufgrund ihrer Spezialisierung dazu, den Mensch wie einen Flickenteppich aus Organen zu behandeln. Der ganzheitliche Blick auf den menschlichen Organismus bleibt dabei außen vor. Vereinfacht ausgedrückt gibt es für jedes Organsystem ein spezifisches Fachgebiet. Ein Gastroenterologe für das Verdauungs-system, ein Neurologe für das Nervensystem, ein Orthopäde für den Bewegungsapparat, ein Dermatologe für die Haut, usw. Das Problem ist nur, dass keines dieser Systeme unabhängig von den anderen funktionieren kann.

    Wenn Hautkrankheiten nur oberflächlich mit Cremes behandelt oder Gelenkschmerzen lediglich mit Schmerzmitteln unterdrückt werden, geht der umfassende Blick auf das Gesamtbild verloren. Es ist keine Seltenheit, dass man als Patient hier in Berlin Fachärzte in verschiedenen Stadtvierteln aufsucht. Mein Herzspezialist befindet sich dann vielleicht in Charlottenburg, mein Gastroenterologe in Schöne-berg und mein Endokrinologe in Kreuzberg. Als wären meine Organe über die gesamte Stadt verteilt. Diese Fragmentierung mag absurd erscheinen, entspricht jedoch oft der Realität. Die Kommunikation der Fachärzte untereinander beschränkt sich meist auf Stichworte auf dem Überweisungsschein. Zusammenhängende Behandlungspläne und aufeinander abgestimmte Therapien und Medikamentengaben - Fehlanzeige.

    1.4. Mangelnde fachübergreifende Diagnostik und Therapie

    In einem idealen Gesundheitssystem würden verschiedene Fachärzte in engem Austausch stehen, ihre Erkenntnisse miteinander teilen und gemeinsam eine umfassende Behandlungsstrategie erarbeiten. Doch leider denken viel zu wenige Hausärzte darüber nach, dass beispiels-weise Verdauungsbeschwerden und Hautprobleme miteinander ver-bunden sein können. Stattdessen neigen sie dazu, Probleme auf psychosomatische Ursachen zu schieben, wenn zum Beispiel eine Darmspiegelung beim Gastroenterologen unauffällig war und der Prick-Test beim Hautarzt keine Allergien zeigte. Die logische Konse-quenz ist dann die nächste Überweisung – diesmal zum Nervenarzt oder Psychologen.

    1.5. Begrenzte ICD-10 Normen und Leitlinien-orientierte Medizin

    Die ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) ist eine medizinische Klassi-fikationsliste der WHO. Sie ordnet medizinischen Problemen, Symptomen und Krankheiten spezifische Codes zu, die international anerkannt sind. Seit dem 01. Januar 2022 gilt offiziell die elfte Version, die ICD-11.(6) Allerdings ist diese in Deutschland noch nicht im Einsatz (Stand März 2024). Es ist zudem unwahrscheinlich, dass die neue Version etwas an den hier beschriebenen Problemen ändern wird.

    Denn die Einschränkungen der ICD resultieren weniger aus ihrem Umfang und ihrer fachlichen Tiefe, sondern vielmehr aus einem veralteten, eingeschränkten Denkmuster im medizinischen System. Die ICD-Normen spiegeln die Vor- und Nachteile der symptombezogenen Diagnostik der Fachärzte wider, die ich bereits beschrieben habe. Sie sind eng mit der leitlinienorientierten Medizin verbunden.

    Medizinische Leitlinien fungieren sozusagen als Handbuch für Ärzte, nach dem sie agieren. Sie bieten klare Anweisungen für Diagnose und Therapie. Sie sind Wegweiser für eine fachgerechte Medizin. Wenn ein Arzt nach den festgelegten „Regeln der Kunst" arbeitet, liegt er meist richtig und minimiert Fehler. Zwar ist ein Arzt nicht immer an Leitlinien gebunden, doch wenn er von ihnen abweicht, begibt er sich auf unsicheres Terrain und muss seine Entscheidung gut begründen.

    An dieser Stelle spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, insbe-sondere das Dogma der symptombezogenen Herangehensweise und der Zeitmangel. Wenn Gesundheit als das Fehlen von Symptomen betrachtet wird, mag die Behandlung eines Schmerzes mit Schmerzmitteln vorübergehend ausreichend sein. Oder eine bakterielle Infektion wird durch die Gabe eines passenden Antibiotikums geheilt. In solchen Fällen können Leitlinien durchaus hilfreich sein, da sie dem Arzt vorgeben, welche Antibiotika beispielsweise bei einer Streptokokken-Infektion und welche bei einer Chlamydien-Infektion verwendet werden sollten.

    Hierbei treten zwei Probleme auf, bei denen sich ein Arzt mithilfe von Leitlinien und der ICD-Codes absichern kann. So wird er kaum kritisiert, wenn er bei einer Mandelentzündung vorsorglich Penicillin verschreibt, um eine vermutete Streptokokken-Infektion zu behandeln. Aufgrund von Zeitmangel führt er möglicherweise keinen Abstrich und kein Antibiogramm durch und übersieht dabei vielleicht, dass es sich um eine virale Tonsillitis handelt, die nicht auf Antibiotika anspricht. Dies wird ihm nicht als fehlerhafte Behandlung angekreidet, da er im Wesentlichen im Einklang mit den Leitlinien gehandelt hat. Falls es jedoch tatsächlich eine Streptokokken-Infektion war und diese eine seltene, aber ernsthafte Komplikation wie eine Endokarditis verursacht, wird er sich verteidigen müssen, wenn er kein Penicillin verordnet hat.

    Soweit, so gut und so richtig. Doch wie steht es mit den Ursachen möglicher wiederkehrender Mandelentzündungen und den Folgen unnötiger Antibiotika-Gaben? Zwar gibt es Codes in der ICD-10 für das Thema Infektanfälligkeit (Z86.1) und Veränderungen der Darmflora (Dysbiose, sonstige Krankheiten des Darms K63.8), jedoch fehlt der Kontext, in dem diese sinnvoll eingesetzt werden können. Denn was haben Halsprobleme mit dem Darm zu tun? Der HNO-Arzt interessiert sich für das eine Organ, der Gastroenterologe für das andere. Doch pflegen diese beiden Fachärzte einen intensiven Austausch oder beraten sich in einer Telefonkonferenz über den gemeinsamen Patienten? Wohl kaum.

    Positiv ist anzumerken, dass zumindest bei Privatärzten und vereinzelt auch bei Kassenärzten ein Umdenken stattfindet. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten und ihres Behandlungskonzepts wagen immer mehr Ärzte den Blick über den Tellerrand. Wie frustrierend muss es auch sein, wenn Patienten mit denselben Beschwerden immer wieder auftauchen oder sich Probleme nach der eigenen Behandlung inklusive Medikamentennebenwirkungen chronifizieren? Die Ideen für integrative Behandlungsansätze sind vorhanden, doch das System ist noch nicht bereit dafür.

    Exkurs Leitlinien: Die Idee ist gut, doch Lobbyismus ist besser

    Die Idee der Leitlinien ist eine sehr gute. Sie soll Ärzten eine klare Orientierung in ihrem Handeln auf Basis der evidenzbasierten Medizin geben. Leitlinien werden in medizinischen Fachgremien erarbeitet, beziehen evidenzbasierte Wissenschaft und das Wissen von Experten mit ein.

    Das BMG beschreibt Leitlinien wie folgt: „Leitlinien sind systematisch entwickelte Handlungsempfehlungen, die Ärzte und Patienten bei der Entscheidungsfindung über die angemessene Behandlung einer Krankheit unterstützen. Als wichtiges Instrument der evidenzbasierten Medizin geben sie den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der in der Praxis bewährten Verfahren wieder. … Leitlinien werden in der Regel von den Vertretern der Berufsgruppen, beispielsweise den wissenschaftlichen medizinischen Fachgesell-schaften, erarbeitet. Leitlinien leisten einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung. Die Bewertung von Leitlinien für wichtige Versorgungsbereiche gehört zu den wesent-lichen Aufgaben des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)."(7)

    Das IQWiG wiederum sagt in seiner Selbstbeschreibung: „Das IQWiG ist ein fachlich unabhängiges wissenschaftliches Institut. Das heißt, keine Interessengruppe kann die Ergebnisse der vom Institut erstellten Gut-achten beeinflussen. … Aufträge darf das IQWiG ausschließlich vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) oder vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) annehmen. Der G-BA ist das oberste Beschlussgremium der sogenannten Selbstverwaltung im Gesundheitswesen und entscheidet zum Beispiel darüber, welche medizinischen Leistungen von den gesetzlichenKrankenkassen übernommen werden."(8)

    Also eigentlich alles super. Wissenschaft und medizinische Experten hier, unabhängige Entscheidungsfindung der Politik dort. Wäre alles noch besser, wenn es keinen Lobbyismus gäbe, der mitunter massiv auf die genannten Akteure einwirkt.

    In einem Artikel des Senders Deutschlandfunk Kultur mit dem Titel „Leitlinien in der Medizin - Goldstandard oder Goldesel heißt es, „Es wird fast nicht möglich sein, eine Leitlinie zu erstellen mit Experten aus dem jeweiligen Fachgebiet, ohne dass man da viele Autoren findet, die Gelder der Pharmaindustrie bekommen haben, sagt der Allgemein-mediziner Thomas Rosemann.(9)

    Aufgrund dieser Problematik wurde die Seite leitlinienwatch.de gegründet, auf der Leitlinien bewertet und mögliche Interessenkonflikte aufgezeigt werden. Sie wurde von dem Berliner Neurologen Prof. Dr. Thomas Lempert gemeinsam mit Gleichgesinnten ins Leben gerufen.

    Dort erklärt man: „Die ärztlichen Autoren medizinischer Leitlinien sind jedoch häufig mit der Industrie verflochten, beispielsweise durch Beraterverträge, Vortragshonorare und Industrie-finanzierte Studien. Dadurch entstehen Interessenkonflikte, die nicht nur offengelegt, sondern in ihren Auswirkungen minimiert werden müssen." In insgesamt 156 bewerteten Leitlinien (Stand November 2023) werden von Leitlinienwatch nur 30% als gut bezeichnet. Bei den restlichen wurden mögliche Interessenkonflikte dokumentiert.(10)

    Kommen wir zur Politik und damit zu den „unabhängigen Entscheidungsfindern, die dafür sorgen, dass die leitlinienorientierte Medizin auch von den Krankenkassen (besser gesagt den Beitragszahlern) finanziert wird. Auf der Seite abgeordnetenwatch.de findet sich ein Artikel mit der Überschrift „Zugang zu Abgeordneten: Pharmalobby verpflichtet enge Mitarbeiter von Gesundheits-politikern.(11) Der Titel spricht bereits Bände und Bedarf eigentlich keiner weiteren Erläuterungen. Vertieft man sich in den Bericht, so kann man daraus lesen, dass es sich hier nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass dieses Vorgehen gang und gäbe ist. Es werden „Scharen von Lobbyisten in Bewegung gesetzt", die ganz gezielt Politiker in Schlüsselpositionen adressieren und für die Pharmaindustrie unter Vertrag nehmen. Auch die Krankenkassen spielen hier mit. So lud die AOK gezielt Mitglieder des Gesundheitsausschusses zum gemeinsamen Essen ein. Also genau die politischen Akteure, deren Abstimmungs-verhalten im Ausschuss unmittelbar die Finanzen der Krankenkassen beeinflusst.

    Trotz all den Interessenkonflikten und der wirtschaftlichen Einfluss-nahme haben medizinische Leitlinien sicherlich ihren berechtigten Nutzen. Es wäre jedoch falsch, ja fast schon grotesk, sie mit einem Idealbild der Wissenschaft gleichzusetzen. Sie sind quasi das Beste, was alle Beteiligten, von den Forschern über die Ärzte bis hin zu den Krankenkassen, an genormter Schulmedizin ermöglichen können, unter Berücksichtigung ihrer eigenen wirtschaftlichen Wünsche und Zwänge.

    1.6. Wirtschaftlicher Druck der Krankenkassen und Zwang zur Diagnosestellung

    Ein bedeutsamer Einflussfaktor auf das heutige medizinische Ge-schehen ist der wirtschaftliche Druck, dem die Krankenkassen und das Gesundheitssystem insgesamt ausgesetzt sind. In diesem komplexen Geflecht können Ärzte nicht einfach unbeirrt ihren Weg gehen. Der finanzielle Druck führt dazu, dass viele Prozesse in der medizinischen Praxis standardisiert und ökonomisch optimiert werden müssen. Hierbei spielt die Diagnosestellung eine entscheidende Rolle, denn sie ist nicht nur die Grundlage für die Therapieentscheidungen, sondern hat auch direkte Auswirkungen auf die Abrechnung mit den Kranken-kassen.

    Ärzte sehen sich gezwungen, innerhalb knapper Zeitfenster eine Diagnose zu erstellen, die nicht nur den tatsächlichen Zustand des Patienten widerspiegelt, sondern auch den strengen Vorgaben der medizinischen Klassifikation, der ICD-10, entspricht. Die ICD-Codes sind nicht nur für die Behandlung, sondern auch für die Abrechnung mit den Krankenkassen von entscheidender Bedeutung.(12,13) Dieser wirtschaftliche Aspekt kann dazu führen, dass Ärzte unter Druck geraten, eine Diagnose zu stellen, selbst wenn der klinische Zustand des Patienten nicht eindeutig ist oder die Symptome vielschichtig sind.

    In dieser Situation wirken die symptombezogene Diagnostik der Fachärzte, die begrenzten ICD-10 Normen und die leitlinienorientierte Medizin zusammen, um eine möglichst schnelle und präzise Diagnose zu erzwingen. Dies kann in manchen Fällen zu einer Oberflächlichkeit der Untersuchungen führen, bei der der Fokus auf der Identifizierung eines Codes liegt, der die erbrachten Leistungen am besten abbildet. Der ganzheitliche Blick auf den Patienten und die umfassende Analyse möglicher Zusammenhänge geraten dabei in den Hintergrund.

    Letztendlich kann der Zwang zur raschen Diagnosestellung unter dem wirtschaftlichen Druck dazu führen, dass Patienten mit komplexen oder schwer zu fassenden Beschwerden in eine Schublade gesteckt werden, die nicht unbedingt zu ihrer tatsächlichen Situation passt. Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind oft jene Patienten, deren Symptome nicht eindeutig einer organischen Ursache zuge-ordnet werden können oder deren Leiden sich über verschiedene Organsysteme erstrecken. Die Einordnung in eine passende ICD-Kategorie wird dabei zur Herausforderung, die mitunter den Patienten selbst und seine individuelle Situation aus den Augen verliert.

    Die Kombination aus wirtschaftlichem Druck, begrenzten ICD-Codes und leitlinienorientierter Medizin kann daher zu einem Teufelskreis führen, in dem die Diagnosestellung immer mehr an Bedeutung gewinnt und der ganzheitliche Blick auf den Patienten abnimmt. Es wird deutlich, dass eine Veränderung dieses Systems nicht nur auf individueller ärztlicher Ebene, sondern auch auf gesundheitspolitischer und struktureller Ebene dringend erforderlich ist, um eine um-fassendere und menschenzentrierte medizinische Versorgung zu gewährleisten.

    1.7. Geringes Laborbudget der Kassenärzte

    In vielen Fällen höre ich von Patienten, dass ihre Ärzte ein „großes Blutbild" durchgeführt haben und dabei nichts Auffälliges festgestellt wurde. Oft wird dann gesagt, dass alles in Ordnung sei und man sich nicht zu viele Gedanken machen solle. Diese Aussage impliziert, dass sämtliche Untersuchungen durchgeführt und dabei keine Anomalien gefunden wurden. Daher wird oft eine psychosomatische Ursache der Beschwerden als einzige Erklärung angeführt.

    Es stellt sich jedoch die Frage, wie der Arzt ein „großes Blutbild" definiert. Es gibt eine objektive und eine subjektive Antwort darauf. Objektiv betrachtet umfasst ein großes Blutbild nach medizinischer Definition die Zählung der Blutzellen einschließlich der Differenzierung der weißen Blutzellen, der Leukozyten. Dies ist zweifellos ein grund-legender Teil der Labordiagnostik, aber auch ein recht begrenzter. Mithilfe dieser Untersuchung können zum Beispiel Anämien oder Blutgerinnungsstörungen erkannt werden, ebenso wie Anzeichen für ein geschwächtes Immunsystem, eine Infektion oder sogar Hinweise auf eine Leukämie. Das sind wichtige Informationen, jedoch nur Puzzleteile des Gesamtbildes.

    Reicht ein großes Blutbild also aus, um bei komplexen Beschwerden eine umfassende Antwort zu bekommen? In den meisten Fällen sicherlich nicht. Das würde auch kaum ein Arzt behaupten. Allerdings liegen die Kosten für ein solches Blutbild bei etwa 4 Euro und damit ungefähr in Höhe des Laborbudgets, das ein Hausarzt pro Quartal für jeden seiner Patienten abrechnen kann. Wenn er dieses Budget überzieht, kann es zu finanziellen Einbußen für seine Praxis kommen. Wenn er die Ausgaben für Laboranalysen unter sein Gesamtbudget drückt, erhält er einen sogenannten Wirtschaftlichkeitsbonus (auch „Laborbonus" genannt).(14, 15)

    Daher ordnet ein Kassenarzt nicht für jeden Patienten in jedem Quartal ein umfangreiches Blutbild an. Das wäre schlicht unwirtschaftlich.

    Aus subjektiver Sicht

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1