Traumatische Schädigungen des Nervensystems
Von Raimund Firsching und Andreas Ferbert
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Über dieses E-Book
In einem separaten Abschnitt werden auch die wichtigsten Fragen der Angehörigen in für den Laien verständlichen Begriffen beantwortet. Die Fragen basieren auf Gesprächen, die die Autoren in vielen Jahren klinischer Arbeit geführt haben.
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Traumatische Schädigungen des Nervensystems - Raimund Firsching
Verletzungen des Nervensystems zählen zu den häufigsten Verletzungsformen. Da es sich dabei nicht um eine 'elektive' Krankheit handelt, muss jeder Arzt mit den Grundproblemen der Behandlung vertraut sein. Das Buch gibt einen systematischen Überblick über die klinische Untersuchung, die bildgebende Diagnostik, die Sofortmaßnahmen, die operative und konservative Behandlung sowie die Spätfolgen. Behandelt werden Schädelhirntraumen aller Schweregrade und Verletzungen der Halswirbelsäule sowie der peripheren Nerven.
In einem separaten Abschnitt werden auch die wichtigsten Fragen der Angehörigen in für den Laien verständlichen Begriffen beantwortet. Die Fragen basieren auf Gesprächen, die die Autoren in vielen Jahren klinischer Arbeit geführt haben.
Prof. Dr. Raimund Firsching ist Direktor der Neurochirurgischen Universitätsklinik Magdeburg. Prof. Dr. Andreas Ferbert ist Direktor der Neurologischen Klinik in Kassel.
Klinische Neurologie
Herausgegeben von Thomas Brandt, Reinhard Hohlfeld,
Johannes Noth und Heinz Reichmann
Raimund Firsching
Andreas Ferbert
Traumatische
Schädigungen des
Nervensystems
Verlag W. Kohlhammer
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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1. Auflage 2009
Alle Rechte vorbehalten
© 2009 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart
Logo der Reihe: Entwurf und Gestaltung Thomas Brandt/Sabine Eßer
Gesamtherstellung:
W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart
Printed in Germany
Print:
978-3-17-019180-8
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Danksagung
1 Geschichtlicher Überblick
2 Epidemiologie der Schädelhirnverletzung
3 Klassifikation der Schädelhirnverletzung
3.1 Klassifikation anhand morphologischer Veränderungen nach Schädelhirnverletzung
3.1.1 Schädelfrakturen
3.1.2 Verletzungen der Dura
3.1.3 Intrakranielle extrazerebrale Hämatome
3.1.4 Morphologisch erkennbare posttraumatische Hirnveränderungen
3.2 Klassifikation nach Ausmaß der Hirnfunktionsstörung (inkl. Komaskalen)
3.3 Klassifikation der Schwere der Hirnschädigung nach radiologischen Befunden
3.4 Klassifikation des Schädelhirntraumas nach Behandlungsergebnis
3.4.1 Der Glasgow-Outcome-Scale
3.4.2 Arbeitsfähigkeit
4 Pathophysiologie und Pathomorphologie der Schädelhirnverletzung
4.1 Äußerlich erkennbare Verletzungsfolgen
4.2 Intrakranielle Blutungen
4.2.1 Epidurale Blutungen
4.2.2 Subdurale Hämatome
4.2.3 Traumatische Subarachnoidalblutung
4.3 Intrazerebrale morphologische Veränderungen
4.3.1 Kontusionen
4.3.2 Nicht herdförmige, diffuse Hirnschädigungen
4.3.3 Schwellung – Odem
4.4 Primäre und sekundäre Hirnschädigungen
4.5 Erhöhung des Schädelinnendruckes
4.6 Hydrozephalus nach Schädelhirntrauma
4.7 Arterielle Verletzungen
4.8 Fokale herdförmige neurologische Ausfallerscheinungen
4.9 Störungen des Bewusstseins
5 Bildgebung beim Schädelhirntrauma
5.1 Historisches
5.2 Die Schädelübersichtsaufnahme
5.3 Angiographie
5.4 Computertomographie
5.4.1 Indikation zur Untersuchung
5.4.2 Einzelne CT-Befunde
5.5 Die Kernspintomographie nach Schädelhirnverletzung
5.5.1 Indikation für die Kernspintomographie nach Schädelhirnverletzung
5.5.2 Häufigkeitsverteilung der unterschiedlichen Schweregrade im Kernspintomogramm
5.5.3 Der Ort der Hirnschädigung im Kernspintomogramm
6 Prognose nach Schädelhirntrauma
6.1 Amnesie
6.2 Koma-Skalen
6.3 Alter
6.4 Schädelinnendruck
6.5 Elektroneurophysiologische Untersuchungen
6.5.1 Elektroenzephalogramm (EEG)
6.5.2 Evozierte Potentiale
6.6 Die prognostische Bedeutung der Bildgebung1
6.6.1 Computertomographie (CT)
6.6.2 Kernspintomographie (MRT)
7 Behandlung des Patienten mit Schädelhirnverletzung
7.1 Klinische Zeichen der Schädelhirnverletzung
7.1.1 Subjektive Zeichen einer Schädelhirnverletzung
7.1.2 Objektive Zeichen einer Schädelhirnverletzung
7.1.3 Hinweis auf eine Schädigung des Nervensystems
7.2 Die Erstversorgung des Verletzten mit Verdacht auf Schädelhirnverletzung an der Unfallstelle
7.2.1 Erste-Hilfe-Maßnahmen am Unfallort
7.2.2 Transport des Patienten mit Bewusstseinstrübung oder Bewusstlosigkeit
7.3 Erste Behandlung im Krankenhaus
7.4 Operative Therapie nach Schädelhirntrauma
7.4.1 Operationen mit aufgeschobener Dringlichkeit
7.4.2 Entlastungskraniektomie
7.4.3 Messung des Schädelinnendruckes
7.5 Intensivmedizinische nicht operative Therapie nach Schädelhirntrauma
7.5.1 Lagerung
7.5.2 Hyperventilation
7.5.3 Liquordrainage
7.5.4 Sedierung und Relaxierung
7.5.5 Barbiturate
7.5.6 Hypothermie
7.5.7 Glucocorticoide
7.5.8 Erhöhte Sauerstoffgabe
7.5.9 Weitere medikamentöse Möglichkeiten auf der Intensivstation
8 Monitoring
8.1 Klinisches Monitoring des neurologischen Befundes
8.2 Basis-Monitoring
8.2.1 Monitoring des Schädelinnendruckes
8.2.2 Monitoring von Parametern des zerebralen Metabolismus
8.2.3 Elektrophysiologisches Monitoring
9 Hirntod
9.1 Die Diagnose des Hirntodes
9.1.1 Voraussetzungen
9.1.2 Zeichen des Ausfalls der Hirnfunktionen
9.1.3 Weitere neurologische und vegetative Funktionsstörungen
9.1.4 Nachweis der Unumkehrbarkeit des Funktionsausfalls (Irreversibilitätsnachweis)
9.1.5 Ergänzende Untersuchungen
9.1.6 Protokollierung der Hirntoddiagnostik
10 Spätfolgen nach Schädelhirntrauma
10.1 Apallisches Syndrom
10.2 Meningitis
10.3 Epilepsie
10.4 Neurologische Ausfälle
10.5 Neuropsychologische Folgen
11 Schleudertrauma der Halswirbelsäule
11.1 Klinik
11.1.1 Zeitverlauf der Beschwerden
11.1.2 Komplikationen
11.2 Epidemiologie
11.3 Biomechanik
11.4 Radiologische Zusatzbefunde
11.5 Elektrophysiologische Zusatzbefunde
11.6 Einteilung nach dem Schweregrad der Verletzung
11.7 Therapie
12 Verletzungen peripherer Nerven
12.1 Allgemeine Hinweise zu peripheren Nervenläsionen
12.2 Drei Typen von Nervenschädigung
12.3 Elektrophysiologische Diagnostik
12.4 Verletzungen von Hirnnerven
12.4.1 Verletzungen von Nerven der oberen Extremität
12.4.2 Verletzungen von Nerven der unteren Extremität
12.5 Therapie der Verletzung peripherer Nerven
13 Begutachtung nach Schädelhirntrauma
13.1 Allgemeines zur Begutachtung
13.2 Was soll begutachtet werden?
13.3 Begutachtung funktioneller Folgeerscheinungen im Einzelnen
13.4 Posttraumatische Epilepsie
14 Hinweise für Betroffene und Angehörige
Literatur
Stichwortverzeichnis
Gewidmet Herrn Professor Frowein
zum 85. Geburtstag
Vorwort
Verletzungen des Nervensystems zählen zu den häufigsten Verletzungsformen. Da es sich nicht um eine »elektive« Krankheit handelt, muss jeder Arzt mit den Grundproblemen der Behandlung vertraut sein, insbesondere natürlich Neurochirurgen, Neurologen, Anästhesisten, Unfallchirurgen, Radiologen und Allgemeinärzte. Zwar sind Schädelhirntraumen infolge von Verkehrsunfällen aufgrund verschiedener Sicherheitsmaßnahmen etwas seltener geworden. Dafür haben andere Verletzungsursachen deutlich zugenommen und werden auch aufgrund der veränderten Altersstruktur der Bevölkerung weiter zunehmen.
Die Behandlung der Schädel-Hirn-Verletzung ist oft schwierig, sie verlangt sehr viel Aufmerksamkeit und nicht selten sind die Aussichten für den Patienten schlecht. Inzwischen kann sich jedermann jederzeit mit elektronischen Mitteln detailliert über jedes Thema informieren, die Leitlinien zur Behandlung des Schädelhirntraumas vieler nationaler und internationaler Fachgesellschaften sind öffentlich zugängig. Es fehlt jedoch eine sinnvolle Zusammenstellung einzelner Aspekte der Schädel-Hirn-Verletzung und eine Bewertung der Behandlungsmöglichkeiten. Die raschen Fortschritte in der Medizin, insbesondere die stürmische Entwicklung der Bildgebung, sind kaum noch überschaubar. Wir möchten mit diesem Buch unsere Kenntnisse und Erfahrungen all denen zugänglich machen, die sich über die Verletzungen des Nervensystems genauer unterrichten wollen, also vor allem Krankenschwestern und Pflegern, Ärzten sowie Angehörigen, Freunden und Bekannten von Verletzten. Es soll einen gut verständlichen Überblick über die klinische Untersuchung, die bildgebende Diagnostik, die operative und konservative Akutbehandlung, die Erholungsaussichten sowie die Spätfolgen und deren Begutachtung bieten. Betrachtet werden Schädelhirntraumen aller Schweregrade, Verletzungen der Halswirbelsäule sowie der peripheren Nerven.
In einem Abschnitt für Angehörige werden die wichtigsten Fragen, die sich bei einem Schädelhirntrauma stellen, in für den Laien verständlichen Worten beantwortet. Die Fragen ergaben sich wiederholt in Angehörigengesprächen, die die Autoren in vielen Jahren klinischer Arbeit geführt haben.
Die Autoren haben gemeinsam an der Neurochirurgischen Universitätsklinik zu Köln vor knapp 30 Jahren unter der Anleitung von Prof. R. Frowein die Grundlagen der Neurotraumatologie erlernt. Sie sind ihren Ehefrauen für die unerbittliche Durchsicht und Verbesserung des nachfolgenden Textes sehr dankbar.
Danksagung
Die Autoren danken sowohl Herrn Professor Skalej, Direktor des Instituts für Neuroradiologie der Universität Magdeburg, für die großzügige Überlassung der radiologischen Befunde als auch Frau Wolf für die kompetente Hilfe bei der Erstellung des Manuskriptes.
1 Geschichtlicher Überblick
Nach den ersten prähistorischen und altägyptischen Empfehlungen zur Behandlung des Schädelhirntraumas sind erst in der Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Schädelhirntrauma publiziert worden (eine ausführliche historische Übersicht findet sich bei Rowbotham 1942, Tönnis 1948, Loew 1950, Muller 1976). Der französische Chirurg Ambroise Paré benutzte im 16. Jahrhundert den Begriff »Commotio«, um eine posttraumatische Funktionsstörung zu beschreiben. Im 17. Jahrhundert unterschieden Boirel und Petit Commotio von Contusio und Compressio cerebri in Abhängigkeit des Schweregrades der klinischen Befunde (Ommaya et al. 1964). Detaillierte Unterscheidungen der klinischen Manifestationen der Commotio, Contusio und Compressio wurden von Dupuytren publiziert. Er bezweifelte jedoch selbst, dass diese Verletzungszeichen tatsächlich unabhängig voneinander existierten (Muller 1976). Im 19. Jahrhundert definierten von Bruns (1854) und von Bergmann (1889) die Commotio als eine kurze und vollständig rückläufige Störung des Bewusstseins und der autonomen Funktionen, einhergehend mit Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen. Morphologisch erkennbare Läsionen seien bei der Commotio nicht zu finden. Im 20. Jahrhundert führte Hugo Spatz (1937) dieses Phänomen der vorübergehenden Störungen ohne morphologische Läsionen auf reversible molekulare Reaktionen zurück (Denny-Brown und Russel 1941), die im Gehirn keine Spuren hinterlassen, »spurlose Vorgänge« (Unterharnscheidt 1963). Rowbotham (1942) benutzte den englischen Terminus »concussion« bedeutungsgleich mit dem Begriff Commotio, um eine unterschiedliche und vollständig rückläufige klinisch erfassbare Funktionsstörung nach Schädelhirntrauma zu beschreiben, begleitet von vollständigem oder teilweisem Bewusstseinsverlust, ohne dass auf der Ebene der Lichtmikroskopie Spuren intrazerebral gefunden werden könnten. Im Gegensatz hierzu wurde bei der Contusio immer eine morphologisch fassbare Läsion von Hirngewebe unterstellt, mit in der Regel länger anhaltenden neurologischen Störungen. Der Begriff »Compressio cerebri« wurde verwendet für Blutungen und andere raumfordernde Läsionen, wie zum Beispiel das posttraumatische Hirnödem.
1942 bemühte sich Cairns darum, anhand von klinischen Zeichen nach Schädelhirntrauma auf den Schweregrad der Verletzung zu schließen. Er war der Auffassung, dass die Dauer der posttraumatischen Amnesie der beste Maßstab wäre. Er fand eine Korrelation zwischen der Dauer der posttraumatischen Amnesie und der Dauer der Arbeitsunfähigkeit nach Schädelhirntrauma.
Nachdem mit weiteren klinischen Beobachtungen die Korrelation zwischen histopathologischen und klinischen Befunden weniger eng war, als nach dem frühen Konzept der Commotio und Contusio vermutet (Ommaya 1982), werden diese Begriffe seltener verwendet. Die immer besser werdende Bildgebung des Gehirns ermöglicht eine präzise Beschreibung der intrazerebralen Verletzungen nach Schädelhirntrauma. So können Verletzungen, die unter dem Zeichen der Commotio, also der Gehirnerschütterung auftreten, eine vollständige klinische Erholung innerhalb weniger Stunden aufweisen und trotzdem bildmorphologisch mit Kontusionen des Hirngewebes einhergehen. Die klinischen Zeichen der Hirnverletzung erwiesen sich von größter prognostischer Bedeutung. Tönnis und Loew empfahlen 1953 eine Einteilung des Schweregrades des Schädelhirntraumas anhand klinischer Beobachtungen in Grad I, II und III. Ein Schädelhirntrauma Grad I bedeutet nach dieser Einteilung, dass sich alle Störungen innerhalb von vier Tagen zurückbilden. Es zeigte sich bei Nachuntersuchungen, dass 99 % der Patienten, die eine Grad I-Verletzung hatten, wieder arbeitsfähig wurden. Die Grad I-Verletzung nach Tönnis und Loew entspricht der klinischen Bedeutung der Hirnerschütterung. Klinische Störungen, die sich nach dem vierten Tag vor Ablauf von drei Wochen zurückbildeten, wurden einer Grad II-Hirnverletzung zugeordnet. Störungen, die sich nicht innerhalb von drei Wochen nach Schädelhirntrauma zurückbildeten, wurden einer Grad III-Schädelhirnverletzung zugeordnet. Die Besonderheit dieser Einteilung nach Tönnis und Loew ist, dass der Schweregrad einer Hirnverletzung erst im Nachhinein festzustellen ist. Um jedoch im Verlauf Verschlechterungen feststellen zu können, bedurfte es einer detaillierteren Einteilung der neurologischen Ausfallserscheinungen nach einem Schädelhirntrauma. 1974 schlugen Jennett und Teasdale eine Komagradeinteilung vor, die einen neurologischen Befund in Punktzahlen ausdrückt.
Diese praktische Einteilung (»a practical scale«) erlaubte eine jederzeitige Klassifizierung eines neurologischen Befundes. Nach dieser ersten Komaklassifikation wurden weitere Komaskalen empfohlen. Ein internationaler Konsensus hierzu wurde von der WFNS (World Federation of Neurosurgical Societies) 1978 (Brihaye et al. 1978) publiziert. Die stürmische Entwicklung der Bildgebung, mit der auch kleinste Gewebsveränderungen dargestellt werden können, erlaubte weitere Einteilungen. So wurde die Schwere der Verletzung zunächst nach dem CT-Befund klassifiziert. Eine neuere Möglichkeit der Einteilung der Schädelhirnverletzungen ergibt sich aus den kernspintomographischen Befunden.
2 Epidemiologie der Schädelhirnverletzung
Epidemiologische Daten zu Schädelhirnverletzungen sind spärlich. Wie bei anderen epidemiologischen Daten ist ihre Qualität entscheidend davon abhängig, welche Definitionen verwendet werden. Uneinheitliche Verwendung von Diagnosen führt dazu, dass verschiedene Studien schwer vergleichbar sind. Insbesondere trifft dies zu auf zeitliche Trends während der letzten Jahrzehnte und auf den internationalen Vergleich mit der Rate von Verletzungen in anderen Ländern. Mortalitätsstatistiken sind dabei noch die verlässlichsten Quellen. Statistiken über Behandlungen sind wegen der Mehrfachzählungen nur sehr eingeschränkt verwertbar. Da viele Schädelhirnverletzungen nicht zum Tode führen, ist die Datenlage bzgl. der wahren Inzidenz von Schädelhirnverletzungen schlecht.
In Deutschland weist das Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes 2004 insgesamt etwa 818.000 Verstorbene aus, davon etwa 33.000, also 4 %, durch Unfälle. Dabei ist Unfall keineswegs gleich Verkehrsunfall: Nur 6.000 der o. g. 33.000 Unfälle sind Verkehrsunfälle. Häufiger noch als tödliche Verkehrsunfälle sind häusliche Unfälle mit Todesfolge. Die Verteilung nach den für die Ursache von Verletzungen relevanten ICD-Ziffern zeigt Tabelle 2.1.
Tab. 2.1: Tödliche Unfälle in Deutschland 2004 (Quelle: Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes)
Eine detailliertere Aufstellung nach Schädelhirnverletzungen ist nur aus der Statistik der vollstationär Behandelten zu ersehen (Tab. 2.2). Bei der Bewertung der Zahlen ist zu bedenken, dass einige Patienten mehrfach genannt werden können, andere, die nur ambulant behandelt wurden, gar nicht.
Tab. 2.2: Vollstationäre Behandlungen mit Kopfverletzungen in Deutschland 2003 (Quelle: Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes)
Trends in der Mortalität des Schädelhirntraumas: Die Rate an Schädelhirnverletzungen ist in den vergangenen Jahren stetig zurückgegangen. Während sie 1972 bei 27,2 pro 100.000 Einwohnern lag, so lag sie 2000 bei 9 pro 100.000. Der stetig abnehmende Trend war nur kurzzeitig zwischen 1989 und 1991 unterbrochen durch die deutsche Wiedervereinigung (Steudel et al. 2005). Dieser Trend hat sich seit der Publikation von Steudel (Auswertung bis 2000) in den folgenden 4 Jahren noch fortgesetzt: 7.567 Tote durch Schädelhirntrauma im Jahr 2000 und 7.008 Tote im Jahr 2004).
Zahlen zur Inzidenz von Schädelhirnverletzungen (also nicht nur derjenigen mit Todesfolge) sind, wie oben ausgeführt, mit größerer Unsicherheit behaftet. In Deutschland wird für 1998 eine Zahl von 337/100.000 angegeben. In einem Literaturüberblick über das internationale Schrifttum schwanken die Zahlen zwischen 430 für England und Wales über 200 für Norwegen bis zu 98 in den USA (Steudel et al.). Es versteht sich von selbst, dass die letztgenannte Zahl aus den USA, die die Krankenhausfälle zählt, die wahre Zahl unterschätzt, nachdem in den letzten Jahren die Indikation zu einer stationären Aufnahme in den USA stetig strenger gestellt wurde. Der größte Teil der Schädelhirnverletzungen sind leichtere Verletzungen. Etwa 75 % dürften eine Commotio erlitten haben.
Die Bereitschaft, solche Patienten stationär aufzunehmen, ist international sehr unterschiedlich. Allerdings darf die Bedeutung der Patienten mit leichterem SHT nicht unterschätzt werden. Die vegetativen, kognitiven und emotionalen Folgen dieser Verletzungen sind sowohl für das Wohlbefinden des Betroffenen, aber auch bezüglich der volkswirtschaftlich entstehenden Kosten erheblich.
In den USA kamen im Jahre 2002 mehr als 160.000 Menschen in Folge eines Unfalls zu Tode. Unfallverletzungen waren damit die fünfthäufigste Todesursache. Unfälle stellten 6,6 % aller Todesursachen dar, während dieser Anteil in Deutschland 2004 4 % betrug. Inwieweit dies bedeutet, dass Unfälle in den USA um mehr als die Hälfte häufiger sind als bei uns, oder ob die Unterschiede zumindest teilweise durch unterschiedliche Methodik bedingt ist, muss offen bleiben. Altersbezogen hatten in den USA die über 75-Jährigen die größte unfallbedingte Mortalität. 30 % der zum Tode führenden Verletzungen betrafen die Kopf- und Nackenregion.
Tabelle 2.3 und 2.4 zeigen die Todesursachen. Auffällig ist vor allem, dass Morde durch Schusswaffen in den USA recht häufig sind. Betrachtet man die Verteilung der Verletzung nach Körperregionen (Tab. 2.5), so wird die große Bedeutung der Schädelhirnverletzungen deutlich, die hier den ersten Platz einnehmen.
Tab. 2.3: Unfalltod in den USA im Jahr 2002 (nach Minino et al. 2006)
Tab. 2.4: Die fünf häufigsten zum Tode führenden Unfallursachen (USA)
Tab. 2.5: Verletzte Körperregion bei tödlichen Unfällen in den USA 2002 (insgesamt 247.000 verletzte Regionen)
Inzidenz, Prävalenz und Sterblichkeitsraten im internationalen Vergleich sind in der Tabelle 2.6 aufgeführt.
Tab. 2.6: Vergleich von sieben epidemiologischen Parametern zur Häufigkeit des Schädelhirntraumas in verschiedenen Ländern. Die Inzidenzraten sind krankenhausbasiert und damit abhängig von der Indikation zur Krankenhausbehandlung. In den USA werden relativ weniger Menschen nach SHT im Krankenhaus behandelt. Da die Mortalität an SHT in den USA aber eher höher als in Europa ist, kann man schließen, dass die dort gefundenen niedrigen Inzidenzraten die wahre Inzidenz unterschätzen (nach Tagliaferri 2006)
Bei den meisten Schädelhirnverletzungen handelt es sich um leichte Verletzungen. In verschiedenen Serien schwankt der Anteil der leichten Verletzungen (»mild traumatic head injury«) zwischen 60 und 90