Werkbuch Diakonisches Lernen
Von Michael Fricke und Martin Dorner
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Michael Fricke
Dr. Michael Fricke ist Professor für Evangelische Theologie / Religionspädagogik an der Universität Regensburg.
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Buchvorschau
Werkbuch Diakonisches Lernen - Michael Fricke
Teil 1: Worum es geht – Einführung in Diakonisches Lernen
1. Womit wir beginnen – erste Definition
Diakonisches Lernen folgt einer einfachen Grundidee: Schüler und Schülerinnen wollen erleben, dass sie nützlich sind und gebraucht werden. Auf diese Weise weiten sie ihren Blick. Sie entdecken ganz natürlich, im Handeln, den Wert des Sozialen und gewinnen Zugang zu biblisch-christlichen Grundlagen sowie Anliegen und Formen von Diakonie. Diakonisches Lernen ist erlebnis- und wissensorientierte soziale Bildung in christlicher Perspektive.
Es gibt zwei Orte beim Diakonischen Lernen: Der Unterricht findet zunächst im Klassenzimmer statt und wird dann am außerschulischen Lernort fortgesetzt. Dort ist nicht mehr die Lehrkraft »Vermittlerin« von Wissen, vielmehr gibt der besondere Lernort mit den Begegnungen, die dort stattfinden, zu lernen auf. Anschließend wird das Lernen wieder ins Klassenzimmer zurückverlagert bzw. findet es bei wiederkehrenden Praxiselementen parallel im Klassenzimmer statt. Damit ist Diakonisches Lernen von seiner Struktur her dreischrittig.
Abb. 1: Die zwei Orte des Diakonischen Lernens
Die Ziele im Diakonischen Lernen sind der Erwerb von Wissen und von Erfahrungen mit diakonischem Handeln. Schülerinnen und Schüler nehmen in diesem Lernarrangement Anliegen und Ausprägungen von Diakonie auf kognitiver und affektiver Ebene wahr, sammeln eigene praktische Erfahrungen mit diakonischem Handeln bzw. erlernen Fähigkeiten des diakonischen Handelns und reflektieren diese im Hinblick auf ihre Person und darüber hinausgehende gesellschaftlichen Zusammenhänge. Sie vertiefen durch diese nun reflektierten Erfahrungen ihr Wissen und den Blick auf Diakonie sowie die mit ihr verbundenen biblisch-christlichen Traditionen und können zugleich ihre Haltungen, ihre Werturteile und ihre Persönlichkeit weiterentwickeln.
Diakonisches Lernen ist damit eine zirkulierende Bewegung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Sehen, Urteilen und Handeln. Bildlich gesprochen: Diakonisches Lernen steht auf zwei Beinen. ¹ Der Schwerpunkt kann sich je nach Zielsetzung und Situation von einem Bein zum anderen verlagern.
Das hier im Werkbuch entwickelte Verständnis von Diakonischem Lernen wird in Abschnitt 4.5 eingehend und im Gespräch mit anderen Konzeptionen Diakonischen Lernens dargelegt.
Abb. 2: Die zwei Beine des Diakonischen Lernens
1 Das Bild verwendet bereits Merkel 2009, 85.
2. Der Aufbau des »Diakonischen Lernens« – Kurzübersicht
Diakonisches Lernen beinhaltet, dass die Schüler und Schülerinnen »etwas« über und von Diakonie lernen. Aus Lehrersicht ist zunächst zu fragen, wie der »Gegenstand« beschaffen ist, das heißt, welche Facetten von Diakonie es gibt. Auch in Zeiten des kompetenzorientierten Unterrichts bleibt die fachliche Erschließung und Klärung der erste Schritt der Unterrichtsvorbereitung, da nur angesichts der Kenntnis der Inhalte die zu erwerbenden Kompetenzen sachgerecht formuliert werden können. Parallel dazu machen sich die gastgebenden sozialen und diakonischen Einrichtungen und Initiativen Gedanken darüber, aus welchen Gründen und mit welchen Zielen sie Schüler und Schülerinnen »hereinholen« und beteiligen möchten.
An zeitlich nächster, aber sachlich gleichrangiger Stelle folgen die religionspädagogischen Überlegungen. Sie betreffen die Fragen, was Kinder und Jugendliche aus entwicklungspsychologischer Sicht können und was sie brauchen, wie sich soziales Lernen in der Schule ereignen kann, d. h. welche Klippen hier zu überwinden sind, auf welchen (Kompetenz-)Ebenen Schüler etwas lernen können, welcher Grundstruktur das Lernen folgt, welche Traditionen und Konzeptionen des Diakonischen Lernens es bereits gibt und wie die Rollen von Lehrkräften und Anleitern der diakonischen Lernorte aussehen.
Diakonisches Lernen lebt von gelungenen Beispielen und deren Verbreitung. Unsere Best Practice-Fälle aus Grundschule, Mittelschule und Gymnasium zeigen einerseits Lehrern und Schülern, wie man die Sache konkret angehen kann, welche Orte und Aktionen sich anbieten, welche Schritte der Organisation zu unternehmen und welche Kompetenzen zu erwerben sind. Die Beispiele ermutigen andererseits auch Einrichtungen und Initiativen der sozialdiakonischen Träger, sich für Schule und Schüler zu öffnen.
Unter diese Kategorie der anregenden Beispiele fällt auch die Beschreibung von Unterrichtswegen, die sich der affektiv-erlebnisbezogenen Annäherung an das Thema Diakonie und deren Reflexion widmen (siehe das von E. Buck verfasste Kapitel 6).
Unsere Grafik zum Diakonischen Lernen hat entsprechend diesen Überlegungen folgendes Aussehen:
Abb. 3: Übersicht zum Diakonischen Lernen
3. »Diakonie ist …« – Fachwissenschaftliche Überlegungen
3.1 Facetten von Diakonie
»Die Diakonie ist der soziale Dienst der evangelischen Kirchen«, so lautet die Selbstbeschreibung der Diakonie.² Diesem Motto entspricht in gewisser Weise auch die erste Wahrnehmung von Diakonie in der Öffentlichkeit. Diakonie wird mit sozialem Handeln und der Kirche als Arbeitsgeber in Verbindung gebracht. Zuweilen ist auch bekannt, dass Diakonie im 19. Jahrhundert entstand. Nun ist dieser erste Blick nicht falsch, aber doch recht eng. Diakonie ist zwar eine sichtbare soziale Institution der Kirche, aber sie ist gleichzeitig mehr – eine große und vielfältige Welt. Sie hat mit den elementaren Aspekten des Menschseins zu tun, mit seinen Befindlichkeiten, Bedürfnissen und Beziehungen. Zu dieser Welt hat jeder Mensch durch seine eigenen Existenzfragen und -erfahrungen Zugang.
In diesem Kapitel wollen wir die Grundlagen und Erscheinungsformen von Diakonie darstellen und zugleich den Blick auf dieses »Mehr« ermöglichen.
Definition und biblische Grundlagen
Von ihrem Selbstverständnis ist Diakonie eine Grunddimension des Christseins³ und eine zentrale »Wesens- und Lebensäußerung«⁴ der christlichen Kirche. Das deutsche Lehnwort »Diakonie« leitet sich von der griechischen Wortfamilie diakon- ab und wird meist mit »dienen« bzw. »Dienst« übersetzt. Der Dienst versteht sich als Verpflichtung gegenüber der Liebe, die Jesus Christus gezeigt und gelebt hat.⁵
Als erste Orientierung ist die Bestimmung von Diakonie als Dienst zutreffend. Allerdings kann man fragen: Steht die griechische Wortfamilie diakon- in der Bibel wirklich immer für »dienen« bzw. »Dienst«? Und: Können wir das, was wir mit diesem Dienst meinen, allein von der Wortfamilie diakon- her ableiten?
Einerseits lässt sich festhalten, dass das Dienen im Sinne eines »Liebeswerkes«⁶ am Nächsten (vgl. Mk 12,31/Lev 19,18) bzw. einer »ganzheitlichen Zuwendung«⁷ eine inhaltliche Hauptlinie des Neuen Testaments und Urchristentums darstellt. Andererseits muss man sich bewusst machen, dass die entsprechenden Texte nicht immer auf die oben genannte griechische Wortfamilie diakon- zurückgreifen, sondern andere Begriffe verwenden: Christen sollen nach Paulus etwa »allen Menschen Gutes (agatos) tun« (Gal 6,10), sich um die Heiligen in Not »kümmern« (koinoneo) und »Gastfreundschaft« (philoxenia) üben (Röm 12,13). Entsprechend möge Christus die Christen reicher werden lassen »in der Liebe (agape) zueinander und zu allen Menschen« (1 Thess 3,12, alle Zitate Zürcher Bibel).
Auch bei der Übersetzung des griechischen Verbs diakoneo gibt es Fragen. Früher verstand man das Verb als ein »Dienen bei Tisch« (Lk 10,40) und im erweiterten Sinn als »für den Lebensunterhalt sorgen« und »dienen«, daneben war auch der Aspekt des Verkündigungsdienstes im Blick.⁸ Die neuere neutestamentliche Exegese ist dagegen der Auffassung, dass diakonia/diakoneo im Griechischen nicht vorrangig etwas mit Wohltätigkeit und Niedrigkeit zu tun haben. Vielmehr bezeichnen diese Begriffe »in der Regel eine Beauftragung, die […] häufig eine Vermittlungsfunktion dahingehend nach sich zieht, dass der Beauftragte eine Sache oder Nachricht an die Adressaten überbringen muss.«⁹ Die Menschen, die im NT diakonia tun, sind also eher »Botschafter des Evangeliums«¹⁰, betraut mit »Verkündigung und Gemeindeleitung«¹¹. Die Verbindung mit dem Tischdienst (Lk 10,40) ist dagegen eine lukanische Besonderheit. Die Diskussion in der Bibelwissenschaft ist also offen. Einig sind sich die Exegeten darin, dass das Wort diakoneo sehr vielschichtig ist und seine Bedeutung vom Einzelkontext abhängt (weitere Beispiele unten).
Die Betonung der oben genannten Liebeswerke knüpft an jüdische Wurzeln an.¹² An erster Stelle ist hier an die alttestamentliche Forderung zu denken, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, die einen Abschluss bildet zu einer Reihe von Schutzbestimmungen für die Armen, Fremden, Tagelöhner und Menschen mit Behinderungen (Lev 19, 9–18).¹³ Dieses Handeln wird in Entsprechung zum Handeln Gottes verstanden. Der barmherzige Gott (Ex 34,6; Ps 103,8) verschafft den schwächsten Gliedern der Gesellschaft (Witwen und Waisen) Recht und liebt die Fremden (Dtn 10,18).¹⁴ Nicht nur die Tora, also die fünf Bücher Mose, sondern auch die prophetischen Bücher vertreten diese Linie, vgl. exemplarisch Mi 6,8 (Zürcher Bibel): »Er hat dir kundgetan, Mensch, was gut ist, und was der HERR von dir fordert: Nichts anderes, als Recht zu üben und Güte zu lieben und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen.«
Eine wichtige Voraussetzung für das Wahrnehmen von Not ist die in den Psalmen häufig anzutreffende Gebetsform der Klage. Im Klagepsalm erhebt ein Mensch seine Stimme und schreit seine Probleme, Nöte und Ängste gleichsam heraus. Hier bekommt ein Mensch Raum, verschafft sich Gehör. Dabei spricht er über sich selbst, meist in bildreichen, allgemein-menschlichen Formulierungen: Mir geht das Wasser bis an den Hals, mein Herz ist wie Wachs, ich kann meine Knochen zählen (Ps 69,2; 22,15). Er spricht über seine Gegner, das sind Menschen, die sich ihm entfremdet haben (Ps 69,9), die falsche Anschuldigungen gegen ihn vorbringen (Ps 69,5) und ihn vor Gericht zerren (Ps 7) oder es handelt sich um Ängste, die zu Menschen- oder Tiergestalt geworden sind (Ps 22,13–22). Schließlich erhebt der Beter auch seine Stimme zu Gott, in zweifacher Weise. Er fragt Gott klagend, wie lange das Elend noch dauern soll (Ps 22,2), gleichzeitig erhofft er sich Hilfe von Gott (Ps 6,3.5) – und drückt meist am Ende des Klagepsalms seinen Dank für den Beistand Gottes aus (Ps 69,31).¹⁵ Die Klage ist menschlich dreifach wichtig: Die Leidenden finden Worte für ihre Not und werden damit Handelnde, die Klage bringt durch ihren öffentlichen Charakter mit sich, dass soziale Beziehungen und Zustände geheilt werden, und in der Klage werden beim Betenden durch Lob und Dank Gegenkräfte mobilisiert, so dass er oder sie neues Zutrauen zum Leben findet.¹⁶
Im Neuen Testament ist zunächst im direkten Wirkungskreis Jesu die Umkehrung der üblichen Rangordnungen augenfällig. Jesus lebt eine radikale Alternative zur vorfindlichen Realität und auch zu den damaligen philosophischen Idealen vor:
»Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener (diakonos) sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein« (Mk 10.43 f.). Ganz anders ist beispielsweise die Überlegung bei Platon: »Denn wie könnte wohl ein Mensch glückselig sein, der irgendwem diente?« (Gorgias 491e).¹⁷
Jesus dagegen betont, dass sein heilsbringendes Kommen gerade auf dem Dienen beruht: »Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen« (Mk 10,45). Daraus entwickelte sich die Vorstellung, dass die Jüngerschaft an sich ein »Dienen« ist (Mk 9,35). Jesus und seine Jünger lebten arm, familien- und heimatlos (Lk 10,4; Mt 10,9), gleichzeitig gründeten sich sesshafte Jesusgemeinden, die die Wanderprediger aufnahmen (Mt 10,40–42). Diese Doppelbewegung setzte sich in der österlichen Urgemeinde fort. Es entwickelte sich eine besondere Hinwendung zu den »Geringen« und »Kleinen« d. h. den Wandermissionaren. Wer sie aufnimmt und ihnen Gutes tut, nimmt Jesus selbst auf (Mt 25,31–46). Die Urgemeinde selbst war gekennzeichnet von einem tief gemeinschaftlichen Leben, in dem spirituelle und materielle Verbundenheit Hand in Hand gingen:
»Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten […] Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.« (Apg 2,42–45). Auch in der paulinischen Verkündigung findet sich die Praxis der Solidarität und des Helfens wieder: »Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen« (Gal 6,2).
Fassen wir zusammen: Verschiedene Dimensionen ›diakonischen Handelns‹ lassen sich in den biblischen Traditionen ausmachen: 1. Einander Dienen (z. B. Mk 10,43–45; Joh 13,1–17), 2. solidarisches Handeln Bedürftigen gegenüber (Lk 10,25–37; Mt 25,31–46), 3. gesetzlich geforderter Schutz von Schwächeren (Ex 22,20–25; Dtn 15,1–11),¹⁸ 4. prophetische Anwaltschaft für die Schwachen (Am 5,4–17; Lk 6,20–25), 5. Leben mit den Armen und Schwachen (Apg 2,42–47; 4,32–37; 6,1–7; 1 Kor 12,12–31) und 6. Klage als heilsames Sichtbarmachen der erlebten Not (Ps 13; 69; 88)¹⁹.
Altes und Neues Testament zeigen hier also große Übereinstimmungen. Die Unterschiede im Neuen Testament liegen darin, dass diakonisches Handeln nun christologisch begründet wird und dass die sich aus dem Judentum herauslösende Kirche als neu entstehende Institution genötigt war, eigene entsprechende Strukturen der Nächstenliebe zu gründen.²⁰
Alte Kirche
Wie verlief die weitere geschichtliche Entwicklung? Die Alte Kirche zeichnete sich durch eine besondere soziale Praxis in den Gemeinden aus. Aristides von Athen, Christ und Philosoph, schreibt in seiner Apologie an Kaiser Antonius Pius um 140 n. Chr. über die Christen:
»Sie lieben einander. Die Witwen missachten sie nicht; die Waise befreien sie von dem, der sie misshandelt. Wer hat, gibt neidlos dem, der nicht hat. Wenn sie einen Fremdling erblicken, führen sie ihn unter Dach und freuen sich über ihn, wie über einen wirklichen Bruder. Denn sie nennen sich nicht Brüder dem Leibe nach, sondern [Brüder] im Geiste und in Gott. Wenn aber einer von ihren Armen aus der Welt scheidet und ihn irgendeiner von ihnen sieht, so sorgt er nach Vermögen für sein Begräbnis. Und hören sie, dass einer von ihnen wegen des Namens ihres Christus gefangen oder bedrängt ist, so sorgen alle für seinen Bedarf und befreien ihn, wo möglich. Und ist unter ihnen irgendein Armer oder Dürftiger, und sie haben keinen überflüssigen Bedarf, so fasten sie zwei bis drei Tage, damit sie den Dürftigen ihren Bedarf an Nahrung decken.«²¹
Aus antiken Quellen wie dieser lässt sich folgendes Bild rekonstruieren: Kranke erhielten Besuche, das Abendmahl und Pflege. Es gab eine Versorgung bedürftiger Gemeindeglieder, zu diesen Bedürftigen gehörten, wie überall in der Antike, die Witwen und Waisen. Sie erhielten Nahrungsmittel und Geldleistungen. Ebenso wurden Bestattungen von mittellosen Gemeindegliedern finanziert. Christen aus anderen Gemeinden, Durchreisende oder Flüchtlinge, wurden aufgenommen. Menschen, die wegen der Taufe ihren Beruf wechseln mussten, erhielten Arbeitsvermittlung. Zu Christen im Gefängnis wurden Kontakte geknüpft und versucht, Hafterleichterungen bzw. Freilassung für sie zu erreichen. In bestimmten Fällen wurden Sklaven freigekauft. Unterschiede zwischen Sklaven und Freien waren in den Gemeinden aufgehoben. Die Mittel für diese diakonischen Leistungen entstammten zunächst den gottesdienstlichen Sammlungen und anderen Spenden, später gab es Gemeindekassen, die durch das Prinzip freiwilliger Selbstbesteuerung Gelder einnahmen.²² Die Triebkraft für diese soziale Praxis ist, wie Aristides in seiner Schrift erläutert, die Liebe.
Die junge Kirche, in der Gottesdienst und diakonisches Handeln verbunden waren, erregte Aufmerksamkeit. Die Ausrichtung der Religion zum sozialen Handeln hin war ein Novum im bisherigen römischen Staatskult. Sie wurde zeitweise sogar von den römischen Herrschern zu imitieren versucht, um das Anwachsen des Christentums zu verhindern. Kaiser Julius Apostata (361–363) schrieb über das Christentum:
»Wir sollten doch einsehen, dass die Gottlosigkeit [= das Christentum] nur deshalb an Boden hat gewinnen können, weil sie sich liebevoll um Fremde gekümmert oder auch für die Bestattung Friedhöfe besorgt hat, […] die gottlosen Galiläer unterstützen nicht nur ihre eigenen Armen, sondern nicht minder unsere.« ²³
Die Liebestätigkeit war gut organisiert und auch in der Ämterstruktur der Kirche verankert, es gab Bischof, Presbyter und Diakon.²⁴ Dem Diakon fiel die Aufgabe zu, die »Gemeinschaft der nach Herkunft, Geschlecht und Stand Verschiedenen im Kontext der heidnischen Städte zu stärken und aufrecht zu erhalten«²⁵. Diakonie schlug eine Brücke »zwischen dem christlichen Glauben, der Gemeindepraxis und dem schwierigen Alltag in einem heidnischen Umfeld«²⁶.
Diakonie im Spiegel menschlicher Erfahrungen und Bedürfnisse
Diakonie hat mit den elementaren Aspekten des Menschseins zu tun und damit, wie man sie lebt oder »gut« mit ihnen umgeht. Unsere Liste von Begriffen deckt einige dieser Aspekte ab, ist aber als offen anzusehen: Verletzlichkeit, Leiblichkeit, Feier, Gemeinschaft, Wertschätzung, Gerechtigkeit, Für-andere-Sprechen, Nachbarschaft und Kooperation angesichts von Grenzen. Bei der Darstellung der Aspekte arbeiten wir auch mit den Zeugnissen junger Menschen, die sich im Rahmen Diakonischen Lernens selbst ein Bild über Diakonie gemacht haben sowie von Mitarbeitenden in der Diakonie.
Verletzlichkeit: Vom ersten Augenblick seines Daseins an ist der Mensch seelisch und körperlich verletzlich.²⁷ Das Leben selbst ist es, welches diese Verletzungen zufügt, sei es durch Mangel, Verlust, Krankheit, Sucht, Alterung, Konflikte oder Gewalt. Die Sterblichkeit des Menschen ist der elementarste Ausdruck für diese Verletzlichkeit. In unserer Gesellschaft wird die Tatsache, dass der Mensch verletzlich ist, unterschiedlich bewertet. Oft gilt Verletzlichkeit als Makel. Sie ist das Gegenteil von Leistungsfähigkeit. Ziel ist es, Widerstandsfähigkeit (Resilienz) zu entwickeln.²⁸ Der gesellschaftliche Diskurs, etwa in den Massenmedien, ist darüber hinaus geprägt von Idealvorstellungen der Unverletzlichkeit, wie sie sich in Heldenfiguren (»Superman«) niederschlagen. In anderen Bereichen und Diskursen unserer Gesellschaft, etwa in psychotherapeutischen, kirchlichen und religionspädagogischen Kontexten, wird Verletzlichkeit dagegen bewusst als Teil des Menschseins gewürdigt.²⁹
So widmet der Lehrplan für den Evangelischen Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe in Bayern diesem Thema das Kapitel »Gesund und heil? – Das Leben angesichts der Unvollkommenheit«. Darin heißt es:
»Die Schüler nehmen eigene und gesellschaftliche Vorstellungen von Gesundheit und Leistungsfähigkeit in den Blick und bringen sie mit christlichen Impulsen zum Umgang mit Krankheit und Endlichkeit ins Gespräch. […] irdisches Leben als fragmentarisches Leben in Begrenzung durch Körperlichkeit, Endlichkeit, Eingebundenheit in die Zeit usw. […].«³⁰
Verletzlichkeit bettet sich in einen größeren Kontext ein: Schwachheit, Unvollkommenheit und Fragmentarität. Fragmentarität bezieht sich dabei sowohl auf die Welt³¹ als auch auf die Biografie des Einzelnen. H. Luther formulierte dazu:
»Blickt man […] auf menschliches Leben insgesamt, […] so scheint mir einzig der Begriff des Fragments als angemessene Beschreibung legitim. […] Erst wenn wir uns als Fragmente verstehen, erkennen wir unser Angewiesensein auf Vollendung, auf Ergänzung an.«³²
Aus christlicher Sicht gilt es also, das Leben im Bewusstsein und angesichts dieser Fragmentarität zu leben. Noch einmal H. Luther:
»Das eigentümlich Christliche scheint mir nun darin zu liegen, davor zu bewahren, die prinzipielle Fragmentarität von Ich-Identität zu leugnen oder zu verdrängen. Glauben hieße dann, als Fragment zu leben und leben zu können.«³³
Diakonie ist der nicht wertende Blick auf diese Fragmentarität und Verletzlichkeit. Sie nimmt den verletzten Menschen wahr und sieht ihn deswegen wirklich