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Menschwerden aus Passion: Das Religiöse in der Malerei von Rudolf Hausner (1914-1995)
Menschwerden aus Passion: Das Religiöse in der Malerei von Rudolf Hausner (1914-1995)
Menschwerden aus Passion: Das Religiöse in der Malerei von Rudolf Hausner (1914-1995)
eBook909 Seiten9 Stunden

Menschwerden aus Passion: Das Religiöse in der Malerei von Rudolf Hausner (1914-1995)

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Über dieses E-Book

Der Diskurs über Bilder, ihre Präsenz und ihre Wirkungen ist bislang weitgehend an der Praktischen Theologie vorbeigegangen. Die vorliegende Untersuchung wagt erste Schritte in dieses fremde Terrain. Sie hebt wichtige rezeptionsästhetische Fragen ans Licht, diskutiert sie im Rahmen dreier zentraler praktisch-theologischer Arbeitsfelder (Predigt, Liturgie, Seelsorge) und reflektiert sie dort, wo die Bildthematik ihren kulturellen Ausgangspunkt hat: im Resonanzraum der bildenden Kunst.
Insofern kommt dieser interdisziplinären Arbeit Pionierfunktion zu. Sie beschreitet dabei einen induktiven Weg. In der Auseinandersetzung mit den Adam- und Abendmahlsbildern des Wiener Malers Rudolf Hausner wird exemplarisch rekonstruiert, wie sich die visualisierte Reflexion des Künstlers und die rezeptionsästhetische Reflexion des Betrachters über die Arbeit des Bildes gegenseitig erschließen. Zur Erhellung der religiösen Dimension und der bildtheoretischen Impulse werden Erkenntnisse aus Psychoanalyse, Pneumatologie und dem interdisziplinären Bilddiskurs einbezogen.
Mit dieser detail- und kenntnisreichen Interpretation tritt der Verfasser als einer der wohl besten Kenner des Lebenswerks von Rudolf Hausner in Erscheinung.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. März 2013
ISBN9783170271821
Menschwerden aus Passion: Das Religiöse in der Malerei von Rudolf Hausner (1914-1995)

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    Buchvorschau

    Menschwerden aus Passion - Matthias Marks

    Einleitung

    Malen ist ein Auftrag.

    Malen ist der Eintritt in einen Orden.

    Malen heißt sozusagen, den eigenen Vorteil

    hintenansetzen.

    Das Bild allein ist der Auftrag.

    Rudolf Hausner¹

    A

    Das Anliegen dieser Arbeit

    Thema, Motivation, Hinführung

    Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis langjähriger Studien über das Werk des Wiener Malers Rudolf Hausner (1914-1995). Sie hat das Ziel, die Betrachtungen des Religiösen in diesem Werk für die Forschungen in Praktischer Theologie und ihren benachbarten Geisteswissenschaften, für die Religionspsychologie und insbesondere den modernen interdisziplinären Bilddiskurs fruchtbar werden zu lassen.

    Der Beitrag besteht in der hermeneutischen Reflexion empirisch gewonnener Einsichten in das dynamisch Wirksame dieses Kunstwerks. Die Bilder von Rudolf Hausner laden in besonderer Weise zur persönlichen Auseinandersetzung mit ihnen ein. Sie geben dem Betrachter die seltene Gelegenheit, am Beispiel eines Kunstwerks den lebenslangen und lebensnotwendigen Auseinandersetzungsprozess mit Abhängigkeiten auf dem Weg zur Freiheit und die damit verbundene Schuldproblematik im Leben eines Menschen zu verstehen. Durch die eigentümliche, künstlerisch-hermeneutische Optik des Malers erhält der Betrachter die Möglichkeit, an diesem spannenden Prozess selbst teilzuhaben. Damit antwortet das Werk zugleich auf die alte und heute wieder aktuelle Frage: „Was ist ein Bild?"²

    In der Reflexion der Entdeckungen und Erfahrungen mit Rudolf Hausners Bilderwelt bewegt sich die vorliegende Arbeit im Kontext einer Praktischen Theologie, die nach der Wiederentdeckung der lebensgeschichtlichen Verwurzelung der Religion den Prozess von Subjektwerdung ins Blickfeld rückt. Ziel ist es, den Prozess der Wirklichkeit Gottes in der menschlichen Lebenswirklichkeit so aufzuzeigen, dass sich daraus Bausteine für eine kulturhermeneutisch verfasste Pneumatologie ergeben. Damit wird die Arbeit zugleich den aktuellen interdisziplinären Wissenschaftsdiskurs über die Bedeutung des Bildes als Schauplatz entstehenden Sinns weiterführen.

    Die Einleitung gliedert sich in drei Kapitel (A-C).

    In Kapitel A wird das Anliegen dieser Arbeit erläutert: (1) Um die Malerei von Rudolf Hausner zu verstehen, können Mensch und Werk nicht voneinander getrennt besprochen werden. Das gilt sowohl für die Beziehung zwischen Künstler und Kunstwerk als auch für die zwischen Künstler, Kunstwerk und Betrachter. (2) Die daraus resultierende werk-, künstler- und rezeptionsorientierte Interpretation gestaltet sich nach vier grundlegenden Kriterien (a-d), die im Einzelnen zu erläutern sind. (3) Auf empirische Weise werden hier über Hausners Bilderwelt die Möglichkeiten von Rezeptionsästhetik ausgelotet und reflektiert, die in der Praktischen Theologie zum Teil theoretisch schon benannt, aber trotz der Paradigmenwechsel von der Kommunikationswissenschaft über die Rezeptionsästhetik zur Bildwissenschaft praktisch bisher kaum eingelöst worden sind. Zwar kann das Potential auch hier nicht völlig ausgeschöpft werden. Aber es sollen Türen aufgestoßen werden, die bisher verschlossen waren. (4) Sodann gilt es, die Auswahl der gemalten Hausner-Bilder, die für die vorliegende Interpretation maßgeblich sind, zu begründen und nähere Hinweise zum Aufbau der Arbeit zu geben.

    In Kapitel B der Einleitung geht es darum, das Verstehen des Religiösen, wie es durch die Auseinandersetzung mit Hausners Werk induktiv gewonnen wird, auf einen anschlussfähigen Begriff zu bringen. Diese Begriffsbestimmung an den Anfang zu setzen, ist eine methodische Entscheidung, die die Lesbarkeit dieser Arbeit erleichtern soll. Sachlich steht zu Beginn dieser Untersuchung nicht fest, was das Religiöse im vorliegenden Zusammenhang ist oder sein könnte. Mitnichten wird ein bestimmtes Religionsverständnis von außen an das Hausner-Werk herangetragen. (1) Ziel ist es vielmehr zu zeigen, wie sich das Religiöse hier im Ereignis der Interpretation über die Adam-Bilder erschließt und verstehen lässt. Es erscheint mehrschichtig. Neben Motiven, Gegenständen und Zitaten, in denen religiöse Ikonographie offen gemalt, vom Betrachter auf den ersten Blick abzulesen ist, wird außerdem eine verborgen liegende Dimension des Religiösen erkennbar, die sich nur rezeptionsästhetisch erschließt, indem man versucht, die ‚Sprache’ dieser Malerei – so weit das möglich ist – als Ganze zu verstehen. Die Wertigkeiten und Bedeutungsebenen gilt es zu unterscheiden, um die Ambivalenz des Religiösen im Subjektwerdungsprozess und den Grund der sinnstiftenden Kraft der Religion sehen zu lernen. (2) Sodann wird im Gespräch mit modernen religionshermeneutischen Entwürfen die Anschlussfähigkeit des hier entwickelten Religionsverstehens an den wissenschaftlichen Diskurs dokumentiert.

    In Kapitel C der Einleitung soll schließlich der Problemhorizont abgesteckt und die Fragestellung konkretisiert werden, auf die der vorliegende Beitrag antwortet. (1) In einer Skizze werden Gründe für die bisherige Zurückhaltung der Praktischen Theologie als wissenschaftlicher Gesprächspartnerin im interdisziplinären Bilddiskurs dargestellt, um (2) als Antwort auf die Fragen und Probleme Möglichkeiten einer kulturhermeneutisch verfassten Pneumatologie, wie sie mit dem Hausner-Werk zu gewinnen ist, vorzustellen.

    1 Rudolf Hausner – Mensch und Werk

    Am Ende seines Lebens fasst Rudolf Hausner das künstlerisch-hermeneutische Anliegen seiner Malerei in den Worten zusammen: „Das Bild allein ist der Auftrag."³ Gemeint ist der „innere Auftrag⁴, der dem Selbstverständnis des professionellen Malers entspricht. Um zu sehen, auf welche Weise Rudolf Hausner diesen Auftrag in seinen Bildern erfüllt, braucht der Betrachter zunächst keine besondere fachliche Qualifikation. Das einzige Thema, das Hausner ihm vorlegt, ist „Adam. Diese Figur, dessen Blick den Betrachter aus den allermeisten Bildern heraus trifft, hat den Wiener Maler international bekannt gemacht und ihm Preise, Ehrungen und wissenschaftliche Verdienstzeichen eingebracht.⁵ Weitere Bildfiguren, die bei Hausner begegnen, werden nur aus der Beziehung zu dieser Zentralfigur heraus verständlich. Darüber sind sich alle Hausner-Interpreten gemeinsam mit dem Maler einig: Adam spielt in dieser Malerei die Hauptrolle. Wer ist Adam?

    Um diese Frage ringt Rudolf Hausner in jedem seiner Bilder über 60 Jahre lang: Was ist der Mensch? Das lebendige Bild eines „ganzen Menschen"⁶ ist der Auftrag, den der Maler seit dem Neubeginn seines künstlerischen Schaffens nach dem Zweiten Weltkrieg durch sein Gesamtwerk hindurch verfolgt, und der auf den Rezipienten, der den Blick Adams erwidert, übergehen kann. Im Spätwerk findet dieses Ringen des Künstlers in seiner Auseinandersetzung mit Leonardo da Vincis Abendmahlsbild und der darin zentralen Jesus-Figur einen Titel, der das Thema seiner eigenen Abendmahlsbilder beschreibt und zugleich die Antwort auf die Grundfrage seines gesamten Lebenswerks bündelt: „Adam, der ungeliebte Sohn."

    Adam selbst(WN 29)

    Hommage à Leonardo (WN 107)

    Das Frühwerk Adam selbst (1960) und das Spätwerk Hommage à Leonardo (1977-81) sind die Hauptbelege für die These dieser Arbeit über das Religiöse im Werk von Rudolf Hausner.

    Beide Bilder zeigen auf den ersten Blick, dass die nackte weiblich-erotische Figur mit der zerstörerischen Gebärde, über die in dieser Arbeit viel zu sagen sein wird⁷, im Früh- und Spätwerk von zentraler Bedeutung ist. Ohne sie ist Adam, das lebendige Bild eines ganzen Menschen in dieser Malerei, und also auch die religiöse Thematik, nicht zu verstehen. Für den Leser und die Leserin, die Hausners Werk bisher nicht kennen, ist diese Figur, deren Gestalt als Teil von Adam dargestellt und die vom Künstler selbst als „Anima" bezeichnet wird⁸, vielleicht die größte Provokation. Doch gerade sie verweist – wie zu zeigen sein wird – auf eine in der interdisziplinären Bildforschung bisher weitgehend fehlende Auseinandersetzung. Kompetente Hausner-Kenner aus der Kunstwissenschaft⁹ und der Psychologie¹⁰ haben bisher nicht den Versuch unternommen, die ambivalent erscheinende Anima-Figur mit dem Motiv des Abendmahls zusammenzusehen.¹¹ Überhaupt wird der christlich-religiöse Kontext in der Kunstwissenschaft und in der Psychologie bisher weitgehend beschwiegen oder nur so besprochen, als hätten Früh- und Spätwerk nichts miteinander zu tun.¹² Doch ebenso sind Kunstinterpreten aus dem Bereich von Theologie, Kirche und Religionswissenschaft hier gefordert, Abschied zu nehmen von der Vorstellung, Religiöses in der gegenständlichen Kunst präsentiere sich im Gemälde sogleich auf den ersten Blick oder immer nur im Zusammenhang theologisch vertrauter oder kirchlich tradierter Symbolwelten.¹³

    „Adam und Anima"¹⁴ – das ist in der Bildersprache Rudolf Hausners das entscheidende Paar, dessen leidenschaftliche Beziehung hier als Grund und Abgrund des Lebendigen und Menschlichen einsehbar wird. Über die frühen Bilder (1946-56) kann der Betrachter nachvollziehen, wie der Künstler zu den Gestalten und zur Einsicht in ihre Beziehung kommt. Doch dieser Erkenntnisprozess ist zeitintensiv. Denn die Namen sind Programm. Adam und Anima sind von existenzieller Bedeutung, nicht nur für den Maler. Sinn und Gestalt ihres bildhaften Auftretens erschließen sich auch dem Betrachter, aber erst dann, wenn er für sich selbst etwas damit anzufangen weiß. Darin liegt die größte Schwierigkeit, Zugang zu diesem befremdlich anmutenden Kunstwerk zu finden, aber auch eine besondere Chance, mit Hilfe desselben auf eigene Weise zu entdecken, was über das gemalte Bild weiterwirkt.

    Detail: Adams Alternative (WN 61)

    „Adam" (hebräisch) bedeutet Mensch und Menschheit zugleich. In diesem Sinne erscheint die von Rudolf Hausner selbst so genannte Bildfigur auch in seiner Malerei. Zum einen trägt sie unübersehbar seine eigenen Gesichtszüge. Sie bildet für ihn ein Gegenüber, an dem sich alles abspielen kann, was beim Malen geschieht. Das ist mehr, als dem Maler an seiner Staffelei zunächst bewusst ist. Denn im schöpferischen Prozess treten auch unbewusste, gleichwohl aber zum eigenen Selbst dazugehörende Persönlichkeitsanteile empor, sehr persönliche und intime, überraschende, aber auch erschreckende Dinge, die nicht immer leicht zu ertragen sind. Adam ist das Spiegelbild, das alles aufnimmt und es Stück für Stück dem Künstler vor dem entstehenden Selbstbild zur Reflektion bereithält. In der Psychologie spricht man von „alter ego". Zugleich zeigt sich dabei, insofern die schöpferische Reflektionsarbeit reiflich genug geschieht und die notwendigen Tiefendimensionen erreicht werden, dass das intimste Eigene, also der innerste Kern dessen, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht, sehr viel größer ist als die Person, wie sie sich selbst und anderen erscheint. Es drängt sich die Frage auf: Was ist Bild? Und was ist Wirklichkeit? In der Arbeit an Adam verschwimmen die Grenzen. Allerdings erhält der Betrachter somit erst die Möglichkeit, durch solche Entfremdung hindurch im selben Zuge immer mehr zu einer reifenden Wahrnehmung seiner selbst und des anderen zu gelangen.

    Diesen schöpferischen Vorgang, in dem aus Verlorengehendem etwas Neues entstehen kann, das den Horizont eigener Wirklichkeitswahrnehmung erweitert, hat Rudolf Hausner beim Malen seiner Adam-Bilder entdeckt und kultiviert. Das heißt, er hat den kreativen Prozess künstlerisch so tiefgründig analysiert, durchdacht und gestaltet, dass nicht allein er selbst, sondern auch andere daran teilhaben können.¹⁵ Darum stehen die Gesichtszüge des Malers in diesen Bildern im Hinblick auf den potenziellen Rezipienten zugleich auch stellvertretend: als Platzhalter für die individuelle, immer wieder andere und neue Auseinandersetzung im Ringen um das wahre Bild von Wirklichkeit des Lebendigen und Menschlichen.¹⁶ Das ist das Grundprogramm, das sich mit „Adam" in Hausners Werk verbindet. Seine Bilder erweisen sich in dem Sinne als „offen", dass eben nicht das fertige Gemälde im Mittelpunkt steht, sondern das von den Bildern ausgelöste, dynamische und dynamisierende Geschehen vor dem Bild, also zwischen Kunstwerk und Künstler, bzw. Kunstwerk, Künstler und Rezipienten, als Hauptgegenstand und -anliegen aller daran Beteiligten einsehbar wird. Dies geschieht frei, jedoch nicht beliebig.¹⁷ Damit ist bereits Wesentliches über Mensch und Werk von Rudolf Hausner vorausgeschickt, was die vorliegende Interpretation motiviert. Nun werden der Leser und die Leserin sich fragen, wie denn der Künstler selbst zu „Adam", seinem Lebenswerk, gekommen ist.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg befindet sich Rudolf Hausner persönlich in einer Situation, die die Existenz und sein bisheriges Bild vom Leben radikal in Frage stellt. Die Notwendigkeit der Bewältigung der erfahrenen Kontingenz, verbunden mit einem einschneidenden Kriegserlebnis, führt zum stilistischen Neubeginn seiner Malerei. Allerdings ist Rudolf Hausner nie ein Kriegsmaler geworden wie einige seiner künstlerischen Leidensgenossen, mit denen er jene Malergruppe begründete, deren gemeinsame surrealistische Stilrichtung als neu erkannt und von dem Kunstkritiker Johann Muschik (1956) als „Wiener Schule des Phantastischen Realismus" bezeichnet wurde.¹⁸ Vielmehr geht Rudolf Hausner von Anfang an seinen eigenen Weg, fasziniert von seinem „Tatrablick¹⁹, der Entdeckung der „einwärts gewendeten Optik.

    Gemeint ist eine persönliche Erfahrung, die im Volksmund als ‚Damaskus-Erlebnis’ bezeichnet werden könnte. In Anlehnung an detaillierte und veröffentlichte Selbstauskünfte des Malers ist das Erlebnis von dem Theologen und Psychoanalytiker Wulf-Volker Lindner (1994) folgendermaßen rezipiert worden:

    „Die Entdeckung der Tatsache, in Worten und Begriffen Sigmund Freuds ausgedrückt, dass das Unbewusste in uns angesichts der Wirklichkeit Bilder entlassen kann, die für die Wahrnehmung dieser Wirklichkeit ebenso wichtig sind wie die bloß optischen Eindrücke, wenn es solche so pur überhaupt gibt, diese Entdeckung kann Rudolf Hausner genau datieren: Nach Vorerfahrungen mit Alp- und Wunschträumen in Kindheit und Jugend, wie sie alle Menschen kennen, kommt es 1943 zum entscheidenden Erlebnis. Er war damals 29 Jahre alt, und es war in der Hohen Tatra (Slowakei), wo er zusammen mit drei anderen Soldaten der Deutschen Wehrmacht vier Tage lang in einem Blockhaus derart von Schneemassen eingeschlossen worden war, dass sie sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnten, sondern in Panik verfielen. Dort entdeckte er die Kraft und Mächtigkeit von Bildern, die aus dem Unbewussten aufsteigen können, eine Entdeckung übrigens, die Sigmund Freud keineswegs als erster für sich in Anspruch nehmen kann, haben doch vor ihm viele, insbesondere Künstler, von der Existenz des Unbewussten gewusst. Sein Verdienst ist es allerdings, das Unbewusste systematisch erforscht und Konzepte über dessen Wirkungen in Individuum und Gesellschaft entwickelt zu haben.

    Was macht diese Entdeckung nun mit Rudolf Hausner? Sie setzt in ihm zunächst einen wahren Springquell innerer Bilder frei, macht ihn auf diese Weise visuell ungeheuer kreativ und verändert seine Wirklichkeitswahrnehmung total. Seitdem sind die antwortenden Phantasievorstellungen für ihn für die Wahrnehmung von Wirklichkeit, nicht nur seiner persönlichen inneren, sondern später auch in gleicher Weise der ihn umgebenden äußeren Wirklichkeit genauso wichtig, wie seine Fähigkeit, mit den Augen Farben, Formen und Perspektiven sehen zu können. Dadurch wird seine Wahrnehmung von Wirklichkeit erweitert: Zum nach außen gewendeten optischen Sinn tritt in neuer Weise die ‚einwärtsgewendete Optik’ hinzu, das visuelle Sehen wird um das Sehen mit den antwortenden Phantasievorstellungen erweitert. Theodor Reik, ein Wiener Schüler Sigmund Freuds, hat die neue psychoanalytische Wahrnehmungseinstellung, die sich in der Psychoanalyse zumindest Freudscher Provenienz vorwiegend aufs Hören bezieht, einmal als ‚Hören mit dem dritten Ohr’ beschrieben (Reik 1976). In Anlehnung daran könnte man von der Entdeckung Rudolf Hausners in der Tatra auch sagen, er lernte mit dem dritten Auge zu sehen."²⁰

    Der „Tatrablick" kann als Öffnung des Sehens auf eine vorher verschlossene, unbekannte Dimension von Wirklichkeit des eigenen Lebens wie des Lebens überhaupt verstanden werden. Rudolf Hausner sah es hinfort als unumgehbar notwendig an, die dunklen Wirkmächte seines Unbewussten, innere Bilder, Träume und Phantasien, als gleichrangig zum Bewussten und Rationalen in seine Wirklichkeitswahrnehmung mit einzubeziehen.

    Dank an Cézanne (WN 6)

    Der Donaukanal (WN 8)

    Das neue Sehen „mit dem dritten Auge"²¹ zeigt sich nach dem Krieg deutlich auch in seiner Malerei. Wer die ersten Bilder kannte, die der junge Künstler in den 1930er Jahren, auch unter dem Einfluss seiner Lehrer an der Wiener Akademie der Bildenden Künste, in impressionistischer und expressionistischer Tradition der französischen Malerei des späten 19. Jahrhunderts hervorgebracht hatte (vgl. oben) war verwundert über den veränderten Stil. Ablesbar ist dieser zuerst in Aporisches Ballett (1946), Anima (1947), Ich bin Es (1948) und Forum der einwärtsgewendeten Optik (1948).

    Aporisches Ballett (WN 12)

    Anima (WN 13)

    Ich bin Es (WN 15)

    Forum der einwärtsgewendeten Optik (WN 16)

    Nach eigenen Angaben des Malers befassen sich diese ersten Bilder des neuen Stils mit der „Bestandsaufnahme seiner „inneren Verhältnisse²²: „Diese Tafeln stellten eine Art Inventur der Lagerbestände und Ablagerungen in meinem Inneren dar und gaben mir Antwort auf meine Frage, aus welchen Grundfiguren ich zusammengesetzt bin."²³ Diese Grundfiguren galt es, in einer engagierten Malerei jahrzehntelang zu erproben, zu variieren und zu korrigieren, bevor sie sich im Spätwerk Labyrinth (1987-91) als Zentrum des Bildgeschehens, um das es hier geht, konzentriert herausstellen ließen.

    Labyrinth (WN 142)

    Adam

    Anima

    Narrenhut

    Matrosenjunge.

    Das sind die vier Grundgestalten zum Verstehen des ganzen Hausner-Werks.²⁴ Bei näherem Hinsehen erkennt man, dass sie bereits in den frühen Tafeln angelegt sind.²⁵ „Lange Perioden der Arbeit, bekennt Rudolf Hausner rückblickend, „erinnern mich an die Gewissenserforschung, die ich als Schulkind (Österreich ist ein katholisches Land) im Rahmen der Beichte früh zu üben angehalten wurde.²⁶ Der Weg zum Bild eines ganzen Menschen bedeutet hier zunächst intensive Selbsterkundung.

    Auf ähnliche Weise kann der Rezipient, auch ohne Beichterfahrung, in der persönlichen Auseinandersetzung mit Adam in Tiefen seines Menschseins vordringen, die ihm sonst vielleicht verborgen geblieben wären. Allerdings ist der Weg des Verstehens, zu dem der Matrosenjunge aus dem Bild herausblickend einlädt, für den Betrachter nicht weniger labyrinthisch als für den Maler. Inwiefern?

    Die Hermeneutik des Hausner-Werks setzt auf die Rezeptionsästhetik.²⁷ Es geht um das aktive, praktische Beteiligtsein des Betrachters, wodurch das betrachtete Bild in der persönlichen Auseinandersetzung mit ihm quasi wieder verflüssigt, d.h. in einen sehkreativen Werdegang überführt wird, um vom Rezipienten geteilt und nur darüber verstanden zu werden. Das Kunstwerk wird dadurch auch neu erschaffen. Eben dies zeichnet ja überhaupt moderne Kunstwerke aus, dass sie keinen ‚eindeutigen Sinn’ (mehr) transportieren, der vom Betrachter lediglich aufzunehmen wäre, sondern in jeder Interpretation eine je eigene Bedeutung gewinnen. Die Rezeption ist daher als Interpretation zugleich eine Realisation, weil in ihr das Kunstwerk in einer originellen Perspektive neu auflebt.

    Deshalb ist es ein Wagnis, der Einladung des Matrosenjungen zu folgen, aber auch eine Chance, durch die Wahrnehmung dieses „Auftrags, im Gang durch das Labyrinth des „Bildes einer modernen Hermeneutik des Selbst auf die Spur zu kommen. Dabei geht es also mitnichten um Nachvollzug einer Psychoanalyse des Künstlers oder um eine Einladung zur Psychoanalyse der eigenen Person, was durchaus möglich wäre. Das „Persönliche" ist hier viel weiter zu fassen. In der Auseinandersetzung mit dem Hausner-Werk eröffnen sich grundlegende Einsichten in den allgemeinen Prozess von Subjektwerdung. Diese scheinen geeignet, um ganz neu über das Menschenbild in der Theologie und ihren Nachbardisziplinen nachzudenken.²⁸

    Die Geschichte Adams in Rudolf Hausners Malerei ist von Anfang an eine Geschichte, in der persönliche Biografie und allgemeinmenschliche Themen, Fragen und Konflikte das Bildgeschehen bestimmen. Eine achtjährige Zerstörungs- und Bewahrungsgeschichte (1948-56) ist der Entdeckung der Adam-Figur vorausgegangen. In der Arche des Odysseus (1948-51, 1953-56), dem monumentalen Frühwerk, das keine Hausner-Interpretation übergehen kann, erscheint die Geschichte bereits detailliert gemalt.²⁹

    Die Arche des Odysseus (WN 20)

    Hier zeigt sich Adam zunächst in einer Vorgestalt. Nach Angaben des Malers birgt die Figur eine beim Malen entdeckte „Personalunion von „Odysseus und „Noah"³⁰. Sie verweist, wie die Interpretation zeigen wird, auf das Verbindende und das Trennende von griechisch-mythischer und biblisch-mythischer Kulturdeutung. Der tiefe Einschnitt in der Mitte des Bildes lässt sich im Rahmen des Gesamtwerks auch deuten als Graben zwischen Morgenland und Abendland, der von einer hellen Sonne am Bildhimmel ausgeleuchtet wird. Damit ist die Malerei selbst gemeint, die sich – zuerst dem Künstler, dann aber ähnlich auch dem Rezipienten – als eine Disziplin zu erkennen gibt, die zwischen den Gegensätzen Platz nimmt, also ‚Zwischenräume’ auftut, wo zuvor nur Grenzlinien zu erkennen waren. Mit ihr ist Neuland zu betreten, das zuvor als unbetretbar oder gar nicht existent galt. Sie macht Licht und eröffnet Einsichten, wo bisher Finsternis und Unkenntnis herrschte. Um dies gemeinsam mit dem Maler zu entdecken, muss der Rezipient Zeit mitbringen, vor allem mit sich selbst.

    Ein persönlicher Konflikt Rudolf Hausners stand am Anfang dieser Malerei. In der Arche des Odysseus ist er rechts vorn im Bild festgehalten: „ich zwischen Irene und Hermine, mit beiden Frauen scheinbar unauflöslich verbunden, verzweifelnd einen Ausweg aus dem Dilemma suchend."³¹ Die innere Zerrissenheit führte in eine auf künstlerischem Weg vollzogene Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen und der Frage des Umgangs mit Schuld überhaupt. Denn im Leben Rudolf Hausners kam es zur Ehescheidung. Die damit verbundene (Selbst-)Exkommunikation aus der katholischen Kirche wurde für ihn, den nach strengen Maßstäben des Wiener Katholizismus Sozialisierten, zum Mitauslöser für die Auseinandersetzung mit der Autorität und Tradition. Trennung von der Ehefrau, Ausschluss aus der Kirche, Abschied von der Kindheit als dem Ort der Unschuld und Beginn des existenziellen Ringens um die Wahrheit der Person zwischen Selbstannahme und Selbstablehnung, dieser Themenkomplex steht im Hintergrund der Entstehungsgeschichte der Arche.³²

    Die Malerei erweist sich als Möglichkeit der Bewältigung, während gleichzeitig grundlegende Anfragen an den Wahrheits- und Machtanspruch kirchlichen Wirklichkeitsverstehens bildhaft werden. Die Motive der Wiener Karlskirche und des Kelchs, in anderen Bildern weitere christlich-religiöse Zitate als Hinweis auf Fragen und Probleme der Autorität und des Abendmahls, stehen als Sinnbilder für die Distanzierung des Künstlers von der Kirche seiner Kindheit. Doch zugleich, scheinbar unabhängig davon, entwickelt sich eine faszinierende Malerei, wo das Religiöse – im Frühwerk noch verborgen, aber zum Spätwerk hin immer deutlicher hervortretend – auf ganz andere Weise neu zum Vorschein kommt.³³

    Die Autoritätsproblematik, die das Werk von Rudolf Hausner wie ein roter Faden durchzieht, hat mit der ambivalenten Anima-Figur zu tun, die oben bereits abgebildet und angesprochen wurde. Um die Lage zu schildern, wie die Paradoxie von gleichzeitiger Anerkennung/Bewunderung und Ablehnung/Hass gegenüber der Autorität in einem Menschenleben erstmals begegnen kann, hat Rudolf Hausner immer wieder seine Geschichte mit „Justus von Liebig" erzählt. Er bezeichnet sie als „das entscheidende Ereignis"³⁴ seiner Jugend. Notiert hat er sie im Jahre 1970, veröffentlicht wird sie 1985 in diesem Wortlaut:

    „Mit zehn Jahren wechselte ich von der Volksschule in die Realschule über. Als ich die Vorhalle der neuen Schule zum ersten Mal betrat, fiel mir gleich die sehr imponierende Gipsbüste eines Herrn mit mächtigem Vollbart auf – am Sockel stand in goldenen Buchstaben zu lesen: Justus von Liebig. Nachdem ich einige Tage an diesem Denkmal vorbei zum Klassenzimmer eilte, kam mir eines morgens der Einfall, meine Matrosenmütze auf das ehrwürdige Haupt zu setzen – der Effekt war fabelhaft und die Begeisterung allgemein, und ich, als Erfinder dieses Amüsements, kam zu gewissen Ehren und einiger Berühmtheit unter meinen Mitschülern. Es wurde das Matrosenkappenaufsetzen von meiner Umgebung täglich gefordert und bedeutete für mich eine Art Ritual, das ich getreulich erfüllte. Und dann kam jener verhängnisvolle Morgen, an dem ich, leider etwas spät dran, beim Eintritt schon die Schulglocke läuten hörte. An Liebig konnte ich nicht ohne weiteres vorbei, Pflicht ist Pflicht, ich setzte ihm die Kappe rasch auf und nahm sie leider zu hastig wieder ab – Justus von Liebig kam mit der Kappe von seinem Sockel herunter und zerfiel vor meinen Füßen zu Gipsbrocken, Gipsbrösel und Gipsmehl. Es war mir sofort klar, dass dieses Ereignis Folgen haben würde (…)"³⁵

    Die Bestrafung durch das „Professorenkollegium, nach dessen Urteil die Zerstörung eigentlich ihnen, „der Obrigkeit, ja jeder Autorität schlechthin galt, fiel streng aus (neun Stunden Karzer, Vorladung des Vaters, ungerechte Notengebung, Verbannung aus der Klassengemeinschaft, notwendiger Schulwechsel).³⁶ 46 Jahre später resümiert der Künstler:

    „Und in mir blieb etwas zurück: Ein grenzenloser Hass gegen Autorität, von deren Existenz ich vor meiner Untat gar nichts wusste. Ich hasste von nun an jede Bevormundung und musste sie noch oft ertragen: in der Schule, beim Militär, ja sogar in der sogenannten freien Kunst, immer dann, wenn ich ‚bedeutenden’ Männern mit ihrem selbstverständlichen Autoritätsanspruch gegenüber stand – ich habe einen richtigen, autonomen Komplex entwickelt, der mich angesichts der Macht sofort zu opponieren zwingt, entweder ich weiche ins Infantil-Debile oder ins Cholerisch-Aggressive aus (…)."³⁷

    Die persönliche Auseinandersetzung mit dem Wahrheits- und Machtanspruch von Autorität erscheint bereits im Frühwerk des Malers als wichtiges Thema. Denn die Problematik, die er als Zehnjähriger erstmals gegenüber seinen Schullehrern erfahren musste, begegnet ihm täglich so ähnlich als Maler im schöpferischen Akt gegenüber Adam, dem entstehenden Selbstbild. Denn wer hat das Sagen über die Wahrheit der eigenen Person? Ist er nur das, was er selber von sich weiß? Oder ist er das, was Adam, sein Bild über ihn sagt, wo auch unbewusste Anteile seiner Persönlichkeit aufgehoben sein können, die er ohne das offen empfangende, aber auch rücksichtslos ehrliche Gegenüber des Bildes (Adam – alter ego) nicht einsehen, sich nicht bewusst werden lassen könnte?³⁸

    Detail: Labyrinth (WN 41)

    Mit dem Frühwerk Labyrinth (1963) erscheint der Konflikt mit der Autorität erstmals ausdrücklich im Bild gemalt.³⁹ Nicht zufällig wird das Thema am Beispiel eines bedrohlich anmutenden christlich-kirchlichen Motivs verhandelt. In Form eines zugleich als Abendmahlskelch, Taufbecken und Predigtkanzel erkennbaren Gegenstandes, der außerdem ein Schutzengel-Amulett trägt, wird hier im Kontext von Persönlichkeitsentwicklung die Frage nach dem Grund des kirchlichen Wahrheits- und Machtanspruchs in der Verkündigung bzw. Spendung der Sakramente aufgeworfen. Auch dieses Bild kann niemand übergehen, der Rudolf Hausners Malerei und das Religiöse darin sehen lernen möchte. Nicht nur Theologen und kirchlichen Amtsträgern kann das Bild bei näherem Hinsehen zur echten Provokation werden. Es fordert jeden Betrachter dazu heraus, erkennen und sagen zu wollen, was das düstere Geschehen auf der linken Bildhälfte mit dem kleinen Matrosenjungen zu tun haben könnte, der rechts unten, sein rotes Fähnchen schwingend, wie von hinten ins Bild hereingelaufen kommt.

    Denn ähnlich neugierig und spielerisch nähert sich ja der Betrachter dem Bild, nur von vorn. Dabei ist die Szene ist so gemalt, dass man bereits sieht, der Junge aber noch nicht erkennen kann, was ihn im Labyrinth erwartet. Aber das ist eine Illusion. Denn auch der Betrachter betritt das sich öffnende Bild, ohne vorher zu wissen, was ihm bevorsteht. Sehen und Erkennen sind eben nicht dasselbe.⁴⁰

    Detail 2: Labyrinth (WN 41)

    Jedes Adam-Bild von Rudolf Hausner ist mit diesem „Auftrag"⁴¹ verbunden: Sehen zu lernen. Dabei geht es nicht etwa darum, das Rätsel zu lösen, was der Maler mit seinem Bild gemeint haben könnte. Sinn und Ziel jedes noch so unterschiedlichen Zugangs zu dieser Malerei ist die Möglichkeit, als Betrachter in freier Einsicht an einem Geschehen teilhaben zu können, das sich im Zwischenraum des Kunstwerks ereignet. Denn in der individuellen Auseinandersetzung öffnet sich zwischen Kunstwerk und Rezipient ein Phantasie-, Frei- und Gestaltungsraum, in dem Subjekt und Objekt verschwimmen, weil der Rezipient zum Mitproduzenten am Bild werden kann und soll.⁴²

    Das ist bereits im allerersten Adam-Bild von Rudolf Hausner mit dem sinnträchtigen Titel Adam nach dem Sündenfall (1956) so vorgesehen⁴³, wie der Künstler selbst betont:

    Adam nach dem Sündenfall I (WN 21)

    „Alle Adam-Bilder sind Spiegelbilder. Sie wurden mit Hilfe eines Spiegels gemalt und wollen wie ein Spiegel benützt werden. (…) Beim Anschauen meiner Spiegelbilder empfehle ich dem Betrachter, Geduld mit sich selbst zu haben, damit die von den Bildern auszulösende Projektions- und Introjektionsmechanik in ihm zu arbeiten beginnen kann."⁴⁴

    Die Berücksichtigung dieser Empfehlung hat hier dazu beigetragen, dass die Sehschule des Adam-Werks mit der Entwicklung der vorliegenden Arbeit in Bezug auf das Bild, auf diesen Text sowie das Leben überhaupt langsam ‚durch-schaut’ werden konnte. Adam ist ein Bildgeschehen, das ‚ent-deckt’ werden will.

    Aus dem Gesagten geht hervor, warum Mensch und Werk bei der Betrachtung dieser Malerei nicht getrennt besprochen werden können. Jeder Versuch, das gemalte Bild zunächst nur für sich zu nehmen, es bloß werk- und künstlerorientiert zu analysieren und danach erst, etwa im Stil eines rezeptionsästhetischen Anhangs zu erwägen, was das Bild vielleicht auch mit mir, dem Betrachter, zu tun haben könnte, würde die Pointe dieser Malerei verschenken. Mit diesem herkömmlichen und wissenschaftlich anerkannten Ansatz einer theologischen Bildinterpretation kommt man hier nicht weit. Vielmehr muss man sagen: Wer eingesehen hat, worum es im Gemälde inhaltlich geht, hat darüber zugleich seine eigene interpretatorische Identität gefunden. Die vorliegende Werkanalyse ist daher von Anfang an zugleich werk-, künstler- und rezeptionsorientiert.⁴⁵ Dieser Ansatz setzt eine intersubjektive Hermeneutik voraus, die einleitend skizziert sei.⁴⁶

    2 Das Geschehen im Zwischenraum des Kunstwerks – hermeneutische Kriterien

    a) Kreation und Interpretation

    Mit dem Anschauen der surrealistisch anmutenden Adam-Bilder und beim Lesen mancher Bildtitel ist die Frage aufgeworfen, ob bzw. inwiefern ein Rezipient einen Zugang zum Werk des Wiener Malers bekommen kann, ohne sich zuvor Kenntnisse im Bereich der Psychoanalyse angeeignet zu haben.

    Wer so fragt, wünscht sich einen Interpretationsrahmen, mit dem er sich auf seinem Verstehensweg zu einem Bild sicher bewegen kann. Dahinter kann sich die Absicht verbergen, dem Bild nicht zu nahe kommen zu wollen, sondern – in Gewähr einer gesicherten objektiven Distanz – so etwas wie einen archimedischen Punkt als Standort für die eigene Betrachtung einnehmen zu können, der Schutz verspricht. Von einem solchen äußerlich festen Standort zeugen Argumente vieler Kunstinterpreten, die Rudolf Hausner als einen „psychoanalytischen Maler"⁴⁷ bezeichnet und ihn damit in die Nähe und Nachfolge Sigmund Freuds, des anderen großen Wieners aus dem 9. Bezirk, gerückt haben. Die Bezeichnung ist problematisch, „weil sie die Selbstbezeichnung einer bestimmten Weise, Wirklichkeit zu interpretieren, auf kreative und künstlerische Gestaltung anwendet und damit das Missverständnis schürt, Kreation und Interpretation seien ein und dasselbe. Zwar legt der Künstler in seinen Werken mit der präsentativen Symbolsprache der Kunst Wirklichkeit auch aus, (…) doch (er) tut dies eben nicht, um zu deuten. Kunst entzieht sich jeder Verzweckung, sie braucht die Freiheit gestalteter Phantasie, und deswegen müssen Kunstwerke auch jede Zielsetzung, selbst die des Verstehens und Interpretierens wie Fesseln sprengen."⁴⁸

    Wulf-Volker Lindner (1994) formuliert damit ein grundlegendes hermeneutisches Kriterium, das zum einen die Offenheit und Mehrdeutigkeit der Hausner-Bilder sowie jeder Kunst ernst nimmt. Es besagt, dass im schöpferischen Prozess mehr geschieht und sichtbar wird, als dem Künstler selbst bewusst ist, was zugleich bedeutet, dass ein Bild sowohl für den Künstler in seiner Kreation als auch für den Rezipienten in seiner Interpretation immer wieder noch ein ‚Mehr’ an Sinn trägt, als der Künstler oder der Rezipient zu realisieren vermag. Das Kriterium erhält hier, wo das Religiöse in dieser Malerei zur Debatte steht, sein besonderes Gewicht. Denn das Argument der Offenheit und Mehrdeutigkeit erscheint gerade in der Begriffsgeschichte des Religiösen ambivalent. Deshalb ist für die Klärung des Religionsbegriffs ein gesondertes Kapitel vorgesehen.⁴⁹ Grundsätzlich jedoch besagt dieses Kriterium im Zusammenhang der Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Kreation und Interpretation, dass die Art des Verstehens bzw. Deutens, wie es im schöpferischen Akt zum Vorschein kommt, von der des gewohnten wissenschaftlichen Arbeitens zu unterscheiden ist. Man kann sagen, erstere entspringt vorrangig der Intuition, dem „Spiel der Einbildungskraft", während zweitere mehr die Intention erkennen lässt.⁵⁰ Der Maler hat dies einmal so ausgedrückt:

    „Das abstrakte Denken liegt mir nicht. Ich muss mir etwas vorstellen können, denn nur über die Vorstellungskraft komme ich zu einem primitiven Denken in Bildern, das schließlich, im Falle eines glücklichen Ausgangs des Malens, auch noch bis zur Vernunft vordringt. (…) Malend finde ich die Antworten auf meine Fragen. Malen ist das aus meinen Möglichkeiten entwickelte und einzig für mich passende Denken. (…) Meine Bilder sind nicht das Produkt meines Willens. Sie kommen auf mich zu, und ich kann nicht umhin, ihren Auftritten gebannt zu folgen. (…) Es scheint so, als würde meine Hand eher vom Willen des Bildes als von mir geführt werden, ganz so, als wüsste dieses ohnehin alles besser als ich. Manchmal muss ich an eine belichtete fotografische Platte denken, in deren Schicht, für mich vorläufig noch unsichtbar, das Bild bereits enthalten ist – beim Entwickeln, beim Malen nimmt es langsam die vorbestimmte Form an."⁵¹

    Die hermeneutische Differenz, auf die hier hingewiesen wird, ist wichtig, um Sinn und Wertigkeit des Psychoanalytischen im Werk des Wiener Malers zu ermessen (b) sowie den Theoriestatus der Selbstaussagen Rudolf Hausners über seine Bilder zu bestimmen (c):

    b) Die Bedeutung der Psychoanalyse zum Verstehen des Hausner-Werks

    Die Psychoanalyse ist in dieser Malerei mehr als nur eine Deutungskategorie im Sinne einer Aktivität oder Konstruktion. Sie wird von dem Künstler nicht als ein externes Wahrnehmungsraster benutzt, das er auf das Verstehen seiner Bilder anwendet. Die Vorstellungswelt der Psychoanalyse kommt nicht noch zusätzlich zu dieser Malerei hinzu, sondern sie ist, auch wenn manche Bildtitel wie z.B. Ich bin Es, Anima oder Adam introspektiv anderes suggerieren⁵², als hermeneutische Dimension von Anfang an werkimmanenter Bestandteil. Damit soll zunächst allen Tendenzen entgegengetreten werden, die Rudolf Hausner als Nachfolger oder Illustrator Sigmund Freuds oder seiner Schüler missverstehen könnten. Denn einmal abgesehen davon, dass zum Beispiel Hausners erstes Anima-Bild längst gemalt ist (1947), bevor der Animabegriff in den Schriften Carl Gustav Jungs genauer untersucht wird (ab 1954)⁵³, gelingt es dem Künstler mit seinen Adam-Bildern oft sogar, „Menschen viel unmittelbarer und direkter anzusprechen, als es ein Psychoanalytiker je mit Worten kann"⁵⁴.

    Hält man sich „an Erfahrungen und Bilder von Rudolf Hausner selbst (…), die dazu geführt haben, ihn, der in der räumlichen Nachbarschaft von Sigmund Freud aufwuchs, auch in der geistigen Nachbarschaft zu ihm zu sehen, wird man als Rezipient allenfalls fragen können: „Welche ähnlichen Entdeckungen und Erfahrungen könnten den Künstler aus der Rögergasse mit dem Interpreten aus der Berggasse verbinden, die der Maler beim Deuter und seinen Schülern wie Carl Gustav Jung in Worte und Begriffe gefasst wieder fand, aber auf seine unverwechselbar eigene Weise forschend – kreativ gestaltete – und gestalten musste?⁵⁵

    Die erste und grundlegende Entdeckung, die unter dem Stichwort „Tatrablick" bereits erwähnt wurde, meint Hausners persönliche Erfahrung mit der verborgenen Tiefendimension des Menschlichen und Lebendigen, die er durch seine Malerei mehr und mehr kultiviert. Unter Aufnahme des Grundbegriffs der Psychoanalyse spricht er selbst vom Unbewussten, „eine Entdeckung übrigens, die Sigmund Freud keineswegs als erster für sich in Anspruch nehmen kann, haben doch vor ihm viele, insbesondere Künstler, von der Existenz des Unbewussten gewusst."⁵⁶ Auch was den Umgang damit anbetrifft, ist sich der Maler mit dem Deuter einig: „Wo Es war, soll Ich werden"⁵⁷, d.h. was unbewusst ist, soll so weit wie möglich bewusst werden, damit es im Denken und Handeln erkannt und kontrolliert werden kann.⁵⁸

    Adam gut getroffen I (WN 25)

    Deshalb betont Hausner immer wieder – in ausdrücklicher Abgrenzung zur Theorie des klassischen Surrealismus André Bretons⁵⁹ – die Bedeutung der Gleichwertigkeit von Bewusstem und Unbewusstem in seiner Malerei:

    „Die Fiktion des isolierten Unbewussten leugnet nicht nur den kleinen Grenzverkehr und die großen Grenzüberschreitungen in beiden Richtungen, sie verzichtet damit auch auf das viel wichtigere Bild des ganzen Menschen, dessen ganze Wahrheit im Sowohl-als-Auch von Bewusst und Unbewusst liegt."⁶⁰

    In seiner künstlerisch-analytischen Arbeit am Bild eines ganzen Menschen kann Rudolf Hausner seine Erfahrungen mit dem Unbewussten 1959/1960 zum ersten Mal auf ein zentrales inneres Bild hin zuspitzen:

    „Ich malte Adam, in dessen Brust seine Anima eine überdimensionale Nadel in ihre und zugleich in Adams Brust stößt."⁶¹

    Anima (lateinisch: Seele) bedeutet im Kontext des Hausner-Werks zunächst einmal die innere Persönlichkeit des Menschen im Unterschied zu seiner äußeren. Anima erscheint in dieser Malerei zuerst als Torso, eine kopf- und identitätslose weibliche Gestalt als innerer Teil des Adam. Hausner selbst spricht von der „weiblichen Seele des Mannes"⁶². Sie agiert in seinen frühen Adam-Bildern und ins Monumentale vergrößert in dem ersten und dem letzten Abendmahlsbild seines Spätwerks höchst ambivalent: erotisch aufreizend und mit ihrem Dolch zerstörerisch vernichtend zugleich. Der Künstler bemerkt selbst dazu: „Dieses Werkzeug ist, wohl ins Ungeheure vergrößert, eine Stecknadel aus der Werkstatt meiner Mutter."⁶³

    Diese nachträgliche Deutung des Bildes durch den Maler selbst erinnert an die Anima-Theorie aus der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs.⁶⁴ Auch wenn sich Rudolf Hausner an keiner Stelle ausdrücklich auf Jung bezieht, ist doch anzunehmen, dass er seine künstlerischen Erfahrungen mit dem Unbewussten zumindest teilweise in dieser Theorie wiedergefunden und deshalb einige Formulierungen aufgegriffen hat.⁶⁵ Nach Jung ist Anima eine innere Einstellung im Unbewussten des Mannes, ein weiblicher Teil, der im psychischen Apparat als Vermittler zwischen dem Unbewussten und dem Ich auftreten kann. In seiner Archetypenlehre erfasst Jung den Begriff der Anima genauer. In den verschiedenen Entwicklungsstufen beim Mann, insbesondere aber im Jungenalter, wird die Anima vom Mutterarchetyp überlagert. Die Projektion der unbewussten Anima nach außen kann sich hinderlich oder zerstörerisch auf alle Beziehungen, insbesondere partnerschaftliche auswirken. Denn die Wahrnehmung des Anderen (der Partnerin) ist dann von dem ambivalenten inneren Bild des Mütterlichen beeinflusst. Deswegen ist die Bewusstwerdung der Anima ein zentraler Entwicklungsschritt.

    Zum Verständnis der Wertigkeit des Psychoanalytischen bei Hausner ist nun wichtig zu betonen, dass sich solche Einsichten beim Malen entwickelt haben. D.h. längst bevor der Künstler sein Bild mit Worten erklären kann, hat eine befreiende Erfahrung stattgefunden, indem sie sich unmittelbar auf das Adam-Werk niederschlägt, erstmals deutlich erkennbar im Frühwerk Adam selbst (1960). Dadurch wird er fähig, mit sich selbst und seinen Bildern, die er zuvor aus unbewussten Gründen immer wieder selbst zerstören musste, versöhnlicher umzugehen: „Seitdem es dieses Bild gibt, habe ich keines mehr zerstört – außer kleineren lokalen Exzessen blieben meine Malerei und ich im großen und ganzen erhalten."⁶⁶ Hermeneutisch gesprochen: Das ‚Woher’ der Deutung, d.h. des Sich-Verstehens auf diese ambivalente Dynamik des Unbewussten, liegt in der „Arbeit des Bildes"⁶⁷ begründet und nicht in der Vergewisserung durch terminologische Anbindung an psychoanalytische Theorien. Denn das Bild hatte die destruktiven Angriffe bereits ‚überlebt’, bevor die im Inneren Adams auftauchende Gestalt im fertigen Gemälde als Anima namhaft gemacht werden konnte.

    Ähnliches gilt für die Rezeptionsästhetik. Auch sie steht unter der Wirkmacht der „Arbeit des Bildes", die das ‚Woher’ der Deutung aus dem genannten Phantasie-, Frei- und Gestaltungsraum als einem Dritten zwischen Subjekt und Objekt schöpft. Insofern sind psychoanalytische Kenntnisse zum Verstehen des Hausner-Werks für den Rezipienten hilfreich, aber nicht zwingend notwendig. Erst durch sein aktives praktisches Beteiligtsein an dem Adam-Werk können psychoanalytische Erkenntnisse und Begriffe im Zusammenhang der Gemälde einleuchten, indem sie dem Sprachfindungsprozess dienen.⁶⁸ Der umgekehrte Weg ist zwar auch möglich, aber unnötig schwieriger. Anhand der Hausner-Bilder kann und darf der Rezipient um der gesuchten Wahrheit willen auch neue Sprachen erfinden, und diese könnten sogar angemessener sein, als die bisheriger psychoanalytischer Modelle.

    c) Zum Theoriestatus der Selbstauskünfte des Malers

    Aus diesem Grunde erhalten Rudolf Hausners Selbstauskünfte zu seinen Bildern ihren relativen Theoriestatus in dieser Arbeit. Wie für den Künstler in seiner Kreation, geht es auch für den Rezipienten in seiner Interpretation um den Eintritt in eine Suchbewegung hin zu jenem Ort, wo er unvertretbar für sich selbst steht: „Adam, wo bist du?" (vgl. Gen 3, 9), eine Suche, die ihm der Künstler nicht ersparen kann und auch nicht will. Gleichwohl sind beide in ihrem Ringen um jene gemeinsame Wahrheitsdimension schon miteinander verbunden, bevor das unbekannte Ziel – das lebendige Bild eines ganzen Menschen – auf je eigene, unterschiedliche Weise erreicht ist.

    Deshalb werden besonders diejenigen verbalen Auskünfte des Malers zu seinen Bildern als begründungsrelevant aufgenommen, die die Suchbewegung ausdrücken, das ‚Bild’ als Übergangsraum und das ‚Selbst’ im allgemeinmenschlichen Sinne artikulieren. Wesentlich sind dabei Aussagen über die Wahrnehmungseinstellung, die sich aus der Erfahrung des Unbewussten nahelegt und Möglichkeiten des Umgangs damit erkundet und kultiviert. Ohne dass der Maler dies selbst so benannt hat, erinnert der ‚Zwischenraum des Kunstwerks’, der in dieser rezeptionsästhetischen Untersuchung betreten und erkundet wird, in vielem an den ‚Raum’, der auch in der Psychoanalyse vorausgesetzt wird.⁶⁹ Dazu gehört die Anerkennung und Unterscheidung einer äußeren und inneren Realität des Menschen, der noch mehr und anderes ist und tut, als er selbst von sich weiß (vgl. Freuds „1. topisches Modell: Bewusstes, Vorbewusstes, Unbewusstes), aber auch die Tatsache, dass er jenem verborgenen Anderen seines Selbst (zum Teil) auf die Spur kommen kann, indem er im Schutzraum der Beziehung zu einem Gegenüber und mit dessen Hilfe (vgl. Freuds Konzept der „Übertragung/Gegenübertragung) erkennt, wie sich seine unbekannten Selbstanteile in der Beziehung ungewollt ‚in Szene setzen’ („Projektion), sich unkontrolliert am fremden Anderen, als sei dieser ein Vertrauter, ausagieren (vgl. Freuds Konzept der „Identifizierung), um darüber bewältigt zu werden (vgl. Freuds Theorie vom „Wiederholungszwang"). Dass sich die Auseinandersetzung mit diesen Inszenierungen meistens ambivalent als Such- und Fluchtbewegung, d.h. als leidenschaftlicher Wunsch und als destruktive Abwehrreaktion gestaltet (vgl. Freuds Theorie vom „Lebens- und Todestrieb), liegt zuletzt in frühesten Kindheitserfahrungen, den ersten Begegnungen des Individuums mit der conditio humana begründet, als der Mensch gezwungen war, die symbiotische Einheit aufzugeben, um für sich selbst und andere eine eigenständige Person zu werden (vgl. Freuds Theorie des Subjekts, der Ichbildung, und sein „2. topisches Modell: Es, Ich, Über-Ich). Was auf diese Weise, meistens unerkannt, in gewöhnlichen Alltagsbeziehungen stattfindet, ereignet sich im therapeutischen, im kreativen wie im rezeptiven Prozess ebenfalls, gleichwohl mit der Möglichkeit, darin reflektiert und überwunden zu werden (vgl. Freuds Konzept vom „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten").⁷⁰

    Rudolf Hausner praktiziert diese Aspekte in seiner Malerei, beschreibt sie – wenn er sie beschreibt – meistens in Anlehnung an die manifesten Bildinhalte mit seinen eigenen Worten⁷¹, und arbeitet somit, wie die Psychoanalyse seit Freud, unter einer hermeneutischen Grundannahme, die hier auch der Hausner-Interpret einsehen muss: Dass Subjektwerdung ein lebenslanger und unabschließbarer Prozess ist⁷², der sich einem intersubjektiven Geschehen in einer fördernden Umwelt verdankt. Deshalb ist der ‚Zwischenraum’ des Kunstwerks ähnlich wie der ‚Raum’ der Psychoanalyse „zuallererst einmal ein Erlebnis- und Phantasieraum⁷³, in dem das Unbewusste ungestört Platz einnehmen kann (vgl. Freuds Empfehlung der „freien Assoziation auf Seiten des Analysanden), um in der Reflexion als Entschlüsselung des intersubjektiven Geschehens (vgl. Freuds Empfehlung der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit" auf Seiten des Analytikers) dem Subjektwerdungsprozess zugeführt zu werden.

    Damit ist bereits Grundlegendes zu der „Sehschule" gesagt, die in der Malerei Rudolf Hausners lebendig aufgehoben erscheint, die in der vorliegenden Rezeptionsästhetik praktisch wahrgenommen wird und deshalb einleitend kurz vorskizziert sei:

    d) Die Sehschule des Hausner-Werks

    Durch die Auseinandersetzung mit Rudolf Hausners Gemälden kann im Zwischenraum des Kunstwerks eingesehen werden, wie mit Hilfe eines Bildes Sinn entsteht, d.h. Entwicklungsprozesse möglich werden, die Leben verändern, erneuern und fördern, und wie in diesem Akt von Sinnerfahrung Spuren des Religiösen zum Vorschein kommen. Man kann die damit verbundene Sehschule, die der Künstler im Hinblick auf den kreativen und den rezeptiven Prozess als „Projektions- und Introjektionsmechanik"⁷⁴ beschreibt, technisch und bildwissenschaftlich verständlich machen:

    Technisch ist mit Wulf-Volker Lindner (1994) zu sagen, dieser Verstehensvorgang, den Hausner in seinen Bildern praktiziert, verläuft als ein „Pendeln zwischen innen und außen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und unterschiedlichen Perspektiven, das sich in vielen Bildern auf einmal, in manchen nur zum Teil finden lässt, insgesamt aber (sc.: seit dem „Tatrablick-Erlebnis) die dynamische Optik des Malers bestimmt.⁷⁵

    „In diesem Pendeln gibt Rudolf Hausner nicht nur so etwas wie einen festen archimedischen Punkt als Standort für die eigene Betrachtung auf und gewinnt dadurch eine ungeheuerlich dynamische und dynamisierende Sicht, er scheint mit dieser pendelnden Betrachtungsweise auch seine eigene mehrdimensionale künstlerischhermeneutische Optik gefunden zu haben, die die Faszination seines OEuvres ausmacht. Dem entspricht in der künstlerischen Technik sein variationsreicher Umgang mit der Farbe: ‚Ich liebe intensive Farben, das leuchtende Spektrum, die komplementär gesprenkelte Haut des Lebendigen, die fleckenlose Transparenz des weiten Himmels – und ein gutes Handwerk.’ (R. Hausner 1987, 89). Und: ‚Ich malte von nun an in vielen dünnen Schichten übereinander.’ (a.a.O., 90). Der oszillierende Blick hat in der Technik seine Entsprechung."⁷⁶

    Spektralanalyse und Selbstanalyse gehen Hand in Hand und erschließen auf diese Weise Wirklichkeiten, die anders nicht erdacht und erfasst werden könnten. „Adam" ist hier nicht bloß die gemalte Figur im Bild, sondern bedeutet die Arbeit des Bildes, woran Künstler wie Interpret beteiligt werden. In der interdisziplinären Bildwissenschaft wird dieses Phänomen gegenwärtig unter der Chiffre des „blickenden Bildes neu diskutiert. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, dass es „Ereignisse der erfüllten Anschauung initiieren, den Blick des Betrachters „vor aller Wahl und Überlegung (…) in Anspruch nehmen" kann.⁷⁷ In diesem Sinne lässt sich der Verstehensvorgang, der hier von den Adam-Bildern ausgelöst wird, auch bildwissenschaftlich verdeutlichen:

    Beim „Denken in Bildern"⁷⁸ sind stets äußere Bilder (Ikone) und innere Bilder (Imago) gemeinsam im Spiel.⁷⁹ Denn Wahrnehmung entspricht dem grundlegenden Bedürfnis, erfahrene äußere, sehnsüchtig erhoffte und ängstlich vermiedene Wirklichkeit in sich abzubilden (Introjektion) und mehr oder weniger geformt aus sich herauszusetzen (Projektion). Werden Anmutungen und Eindrücke der äußeren Lebenswirklichkeit wahrgenommen, aufgenommen und festgehalten, geschieht dies nicht losgelöst von inneren Bildern, und ebenso umgekehrt: Innere Bilder werden zu einer inneren Welt, durch die man mit der äußeren in Beziehung tritt und sich mit ihr auseinandersetzt, zunächst auf primitive Weise, z.B. phantasierend, schließlich über den Reichtum der Bilder in der gesprochenen oder einer anderen Sprache, wie z.B. der Malerei, je nach Begabung und Förderung unterschiedlich. Die elementarsten Dinge im Leben, wie Gefühle, Sehnsüchte, Hoffnungen, Sorgen, Ängste, Lebenseinstellungen, Zweifel oder Glauben lassen sich vorzugsweise bildhaft kommunizieren, weil sie mit inneren Bildern zusammenhängen, die auf Erlebnisse zurückgehen, die in präverbaler Zeit introjiziert wurden und nicht ohne weiteres davon zu trennen sind.⁸⁰ Deshalb ist es ein besonderes Merkmal des Denkens und der Kommunikation in Bildern, dass die Bedingungen von Raum und Zeit, Dynamik und Form darin überwunden sein können.

    Wenn hier also die These aufgestellt wird, die Hermeneutik des Hausner-Werks setze auf die Rezeptionsästhetik, bedeutet das für die Sehschule konkret: Bevor der Betrachter eines Adam-Bildes realisiert hat, was mit ihm geschieht, kann irgendein inneres Bild, das in früherer Zeit introjiziert wurde und ins Unbewusste abgewandert ist, ausgelöst und wiederbelebt, d.h. ungewollt erinnert, unkontrolliert wiederholt (projektiv in Szene gesetzt und ausagiert), aber eben dadurch auch durchgearbeitet und bewältigt (in das Selbstbild bewusst integriert) werden. Dies bedeutet im besten Falle, dass sich das aufgetauchte innere Bild mit dem äußeren Adam-Bild zu einem neuen inneren Bild verbindet. Deshalb ist das Hausner-Werk ohne das aktive, praktische Beteiligtsein des Betrachters nicht zu verstehen. Ziel dessen, was hier als Rezeptionsästhetik begründet wird, ist also nicht, dass der Betrachter durch die Maßgaben des äußeren Adam-Bildes bestimmt wird (Introjektion), und auch nicht, dass er das wiederbelebte und ausagierte innere Bild als das Maßgebliche bestimmt (Projektion), sondern dass er sich in der Erwartungsgewissheit eines unverfügbaren Dritten dazwischen von der Arbeit des Bildes bestimmen lässt. Das meint der Maler, wenn er sagt: „Das Bild allein ist der Auftrag."⁸¹

    Eben darin besteht die Sehschule, „mit dem dritten Auge"⁸² sehen zu lernen. Was dabei herauskommt, ob über das Pendeln zwischen Hineinlesen und Herauslesen überhaupt etwas geschieht, ist nicht vorauszuwissen und nicht zu garantieren. Nur eines ist sicher, weil die Erfahrungen es immer wieder bestätigen: Das Bild trägt mehr, als es auf den ersten Blick zu erkennen gibt. Und: die eigene Person geht nicht auf in dem, was man selbst von ihr weiß. Deshalb ist die Sehschule, die im Zwischenraum des Kunstwerks langsam beginnt und sich immer mehr steigern kann, für den Maler wie auch für den Rezipienten stets ein Ringen um und zugleich gegen das entstehende Adam-Selbstbild. Denn es ist ein Wagnis, sich selbst als einem Fremden zu begegnen.

    Damit sind vier wesentliche hermeneutische Kriterien, die dieser Arbeit zugrunde liegen, benannt. Angeregt und herausgefordert durch Rudolf Hausners Bilderwelt wird hier das Potential von Rezeptionsästhetik neu erkundet, indem Inhaltsfragen der Kunst nicht nur im Zusammenhang von Gestaltungsfragen der Kunst bearbeitet werden, sondern auch über kulturelle Codes und aktuelle Wahrnehmungen und Aneignungen. Dies wurde in der rezeptionsästhetischen Debatte der Praktischen Theologie bisher kaum berücksichtigt.

    3 Die rezeptionsästhetische Debatte in der Praktischen Theologie – eine Skizze

    Die vorliegende Arbeit antwortet auf einen tiefgreifenden Umcodierungsprozess in der Praktischen Theologie, der seit den 1980er Jahren im Gange ist, aber mit der Hinwendung von der Kommunikationswissenschaft zur Rezeptionsästhetik bisher kaum zu bewältigen war und auch mit dem sich andeutenden Paradigmenwechsel von der Textwissenschaft zur Bildwissenschaft kaum zu bewältigen sein wird, insofern nicht auch die theologischen Implikationen stärker mit einbezogen werden.⁸³

    Die rezeptionsästhetische Debatte in der Praktischen Theologie begann mit Umberto Ecos „Opera aperta (1962, 1967). Nach der Übersetzung des Werks ins Deutsche (1973) und seiner ersten Auflage in der wissenschaftlichen Bibliothek (1977) fand Ecos Programm von der Ästhetik oder Poetik des „offenen Kunstwerks breite Beachtung. „Offenheit" wurde als zentrale ästhetische Kategorie der modernen Kunst anerkannt. Moderne Kunstwerke zeichnen sich dadurch aus, dass sie keinen ‚eindeutigen Sinn’ transportieren, der vom Betrachter lediglich aufzunehmen wäre, sondern in jeder Interpretation eine je eigene Bedeutung gewinnen: „Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt."⁸⁴

    Der praktisch-theologische Diskurs, der durch Gerhard M. Martin (1983)⁸⁵ angestoßen wurde, bewegte sich zunächst im Bereich der Homiletik (1984)⁸⁶ und wurde dann auf die Liturgik (1986)⁸⁷ ausgeweitet. Das Potential in dem neuen Programm von Eco wurde für die Predigt und den Gottesdienst als offenem Kunstwerk von Anfang an theoretisch zwar gesehen, praktisch aber kaum wirklich ausgeschöpft. Martins Plädoyer für die „Anwendung des Modells offenes Kunstwerk auf die Predigtarbeit⁸⁸ war nach vergeblichen Versuchen zur Lösung der Krise der Predigtkommunikation mit Hilfe kommunikationstheoretischer Maßnahmen⁸⁹ als Aufruf zum Paradigmenwechsel von der Kommunikationswissenschaft zur Ästhetik zu verstehen. Mit dem neuen Konzept sollten bisherige Vorstellungen „einer idealen Kommunikation, in der „die empfangene Nachricht beim Rezipienten genau derjenigen (entspricht), die der Kommunikator konzipiert und ausgesendet hat"⁹⁰, einer neuen Betrachtungsweise zugeführt werden. In der praktisch-theologischen Anwendung des neuen Modells ging es darum, auch die eigenwillige, selektive und kreative Aufnahme der Predigt als Aneignung durch die Hörenden mit zu berücksichtigen. Ecos Konzept von „Offenheit" als Chiffre für die Beteiligung des Rezipienten am Werden des Kunstwerks stellt einen Begründungszusammenhang bereit, der sich von Martin direkt in die Homiletik übertragen ließ: Predigt als prinzipiell deutungsoffenes, unterschiedliche Interpretationen herausforderndes Kunstwerk meint nicht mehr nur die Kanzelrede allein, sondern gleichrangig auch die ‚Texte’, die sich quasi bei den Predigthörenden entwickeln, indem sie selbsttätig ihre eigene Situation in das Geschehen einbringen und so die Predigt überhaupt erst realisieren.⁹¹ Unter dieser Perspektive sei das alte Grunddilemma, dass die sonntägliche Predigt trotz aller Bemühungen um die spezifische Situation des Hörers doch „niemals etwas anderes als das ‚Wort für alle’, das ‚Wort für viele’, also ein allgemeines, in der notwendigen Konkretion behindertes Wort sein⁹² kann, zwar „nicht gegenstandslos, wohl aber entdramatisiert.⁹³ Denn wenn in einer Predigt Raum für Assoziationen und kreative Überlegungen der Gemeindeglieder ist, sprengt die „konnotative Mehrdeutigkeit die „denotative Geschlossenheit⁹⁴ auf. „Aus der gefängnishaften Eindeutigkeit und Blindheit der Welt wird sehende Mehrdeutigkeit"⁹⁵.

    Dieses Predigtverständnis, wonach das aktive, rezeptiv-hörende Handeln der Gemeinde nicht länger als Behinderung des Verkündigungsauftrags betrachtet werden musste, versuchte Martin rechtfertigungstheologisch zu untermauern: „Das Gesetz als Gesetz zwingt in die Konsequenz, das Evangelium setzt frei, lässt leben im Bereich der Liebe, die wesensmäßig inkonsequent ist. In diesem Sinne löst das Evangelium Eindeutigkeit gerade auf."⁹⁶ Die Anerkennung der prinzipiellen Mehrdeutigkeit von Predigt bedeute so auch eine Entlastung für den Prediger, der nicht mehr streng um einen bestimmten Skopus bemüht sein muss, unter dem sich möglichst alle oder viele der Hörenden einfinden sollen. Das Evangelium setze eine Predigt frei, die „wesensmäßig offen ist für eine virtuell unendliche Reihe möglicher Lesarten⁹⁷. In diesem Zusammenhang betonte Martin mit Nachdruck, dass Mehrdeutigkeit gerade nicht Beliebigkeit heiße. In seiner Begründung griff er auf Eco zurück: In das Kunstwerk habe der Autor einen oder mehrere „Schlüssel eingeschrieben, die die Rezeption lenken. Durch diese im Text angelegten Strukturmuster sei die Semiose auf ein „Feld" verwiesen, das die interpretativen Wahlakte leitet. So werde die Offenheit gleichwohl begrenzt.⁹⁸ Unbeantwortet blieb bei Martin die Frage, was genau diese „Schlüssel" sind, die das Kunstwerk aufschließen, die Rezeption lenken und begrenzen.

    Nach Martins Einführung ist das homiletische Konzept auf der Grundlage von Ecos „Opera aperta" auch von anderen aufgegriffen worden. Daraus hatte sich eine lebendige praktisch-theologische Debatte entwickelt, die sich allerdings zunächst fast nur auf das Frühwerk Ecos stützte.⁹⁹ Die kulturtheoretische Weitung von Ecos Semiotik haben dann nur noch Wilfried Engemann (1993)¹⁰⁰, Karl-Heinrich Bieritz, Michael Meyer-Blanck und Thomas Klie (2003)¹⁰¹ integriert und der Diskussion weiterführende Impulse gegeben.

    Bei Engemann wird das, was Eco als ‚Theorie der Kultur’ entworfen hatte, in den Handlungsfeldern der Homiletik und der Liturgik verortet. Auch diese Eco-Rezeption stand zunächst in dem Gebrauch, die Konstruktion der gottesdienstlichen Zeichensysteme zu analysieren mit dem Ziel, den „Schlüssel zu finden, das „Feld zu bestimmen, auf dem sich die Freiheit eröffnende und begrenzende ‚Kommunikation des Evangeliums’ vollzieht. Dadurch gewann die Rezeptionsästhetik in der Praktischen Theologie neue Aufmerksamkeit. Denn:

    „Der Ernst der Predigt muss etwas austragen für die Zitterpartie des Lebens (…), und zwar so, dass ich in, mit und unter der Predigt in einen Raum treten kann, der mir in einem zum Schutzraum vor der Beliebigkeit andrängender Entscheidungs- und Lebensalternativen wird, mir aber zugleich

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