Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Decke des Schweigens: Fünfte neu überarbeitete Auflage
Die Decke des Schweigens: Fünfte neu überarbeitete Auflage
Die Decke des Schweigens: Fünfte neu überarbeitete Auflage
eBook377 Seiten4 Stunden

Die Decke des Schweigens: Fünfte neu überarbeitete Auflage

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In Deutschland gibt es das Sprichwort: "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold." Für manche Menschen ist dies der Grund, weshalb sie ihr Schweigen mit positiven Eigenschaften verbinden. Jemand, der schweigen kann, gilt als charakterlich gefestigt und stark. Im Licht der Bibel sieht das anders aus. Der höchste Ausdruck der Liebe Gottes zu uns Menschen zeigt sich in der Fähigkeit der direkten Kommunikation. Wie viel Schmerz, Trauma und Unbewältigtes in der Vergangenheit kann hinter dem Schweigen eines Menschen verborgen sein? Und wie viel kann an Heilung, Wiederherstellung und Veränderung passieren, wenn ein Mensch es schafft, dieses Schweigen zu durchbrechen?
SpracheDeutsch
HerausgeberTOS Verlag
Erscheinungsdatum5. Dez. 2023
ISBN9783965890107
Die Decke des Schweigens: Fünfte neu überarbeitete Auflage

Ähnlich wie Die Decke des Schweigens

Ähnliche E-Books

Religion & Spiritualität für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die Decke des Schweigens

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Decke des Schweigens - Jobst Bittner

    KAPITEL 1

    Die Geschichte einer ehemaligen Nazi-Stadt

    Die kleine Universitätsstadt Tübingen liegt in Süddeutschland, ungefähr 30 Autominuten von Stuttgart entfernt. Sie ist eine typische deutsche Stadt mit Fachwerkhäusern und einem Fluss, der beschaulich durch sie hindurchfließt. An warmen Sommertagen sitzen Studenten an beiden Seiten des Neckars und beobachten die schmalen Kähne, die wie die Gondeln in Venedig mit langen Stäben vorangetrieben werden. Eigentlich ist Tübingen das Bild eines deutschen Idylls. Kaum ein Tourist ahnt etwas von der Geschichte des Antisemitismus dieses hübschen Städtchens, das während des Nationalsozialismus eine geistige Vorreiterrolle spielte.

    Ich möchte Ihnen das mit ein paar Fakten erhärten, damit Sie es sich besser vorstellen können. Etwa ab Mitte des 13. Jahrhunderts gab es Juden in Tübingen. Den Mittelpunkt ihrer Siedlung bildete die Judengasse, die noch heute unter diesem Namen existiert. Im Jahre 1348/49 brach in Deutschland eine Pest aus. Die Bevölkerung ganzer Städte und Landstriche wurde dadurch ausgelöscht. Ob in dieser Zeit Verfolgung und Vertreibung von Juden in Tübingen ihren Anfang nahmen, kann man nur vermuten. Auf jeden Fall richtete sich die Wut des Volkes mit aller Wucht gegen die Juden, die man verdächtigte, die Pest durch das Vergiften von Brunnen verursacht zu haben. Sehr wahrscheinlich wurden in dieser Zeit zum ersten Mal in Tübingen Juden vertrieben und getötet. In der über 1000-jährigen Geschichte Tübingens lebten bis zu ihrer Deportation 1942 nur 180 Jahre lang überhaupt Juden in der Stadt. Ihr Leidensweg ist eine einzige Geschichte von Verfolgung, Pogromen und immer wieder neuer Vertreibung. 1471 fanden sich wieder Juden in der Stadt, die im Jahr 1477 durch den Gründer der Tübinger Universität, Graf Eberhard im Bart, erneut aus der Stadt und der ganzen Region – diesmal für 400 Jahre – vertrieben wurden. Einige Jahre später brach wiederum die Pest aus, die den Vater und Großvater des Universitätsgründers und ein Drittel der Bevölkerung Tübingens töten sollte. Einziger Lichtblick dieser Zeit mag der bedeutende Philosoph und Humanist Johannes Reuchlin (1455 – 1522) gewesen sein, der als erster bedeutender „Hebraist" und als Nichtjude die hebräische Sprache und Schrift erlernte. Er studierte, lebte und lehrte in Tübingen, wurde zum Ratgeber von Graf Eberhard im Bart und setzte sich in späteren Jahren trotz aller Widerstände in der Öffentlichkeit für die Sache der Juden ein.1

    Erst Mitte des 19. Jahrhunderts kehrten Juden allmählich wieder zurück und bauten im Zentrum der Stadt eine schöne Synagoge auf, die in der Reichspogromnacht 1938 von den SA- und SS-Schergen demoliert und dann angezündet wurde.

    Die Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 wurde in Tübingen lautlos vollzogen. Das war auch nicht weiter verwunderlich, da die Rassenpolitik der Nationalsozialisten in Tübingen auf einen jahrhundertealten, latent judenfeindlichen Nährboden fiel, der zum „kulturellen Code" des Bürgertums gehörte. Das alte und schön bemalte Tübinger Rathaus wurde zum freiwilligen Vorreiter der nationalsozialistischen Rassenideologie.2 Der Tübinger Bürgermeister beteiligte sich ohne Zwang an antisemitischen Beschlüssen und kündigte Geschäftsbeziehungen zu jüdischen Firmen. Das Verbot des Besuchs des Tübinger Freibads für „Juden und Ausländer", das der Gemeinderat unter seinem Vorsitz schon 1933 beschloss, brachte Tübingen den traurigen Ruhm ein, eine der ersten Städte im ganzen Reichsgebiet gewesen zu sein, die die Ausgrenzung von Juden auf diese Weise vollzogen hatte. Keine drei Monate nach der Machtübernahme Hitlers war die Demokratie abgeschafft, die kaum vorhandene Opposition beseitigt und zum Schweigen gebracht und die Diktatur etabliert.3

    Vor dem Tübinger Rathaus befindet sich der alte Marktplatz, auf dem es am 1. April 1933 zu einer denkwürdigen Massenkundgebung kam. In Tübingen hatte sich durch die NSDAP ein „Ausschuss gegen die jüdische Gräuelpropaganda gebildet, der zu der Kundgebung aufgerufen hatte. Die Grundprinzipien antisemitischer Propaganda jener nationalsozialistischen Veranstaltung haben sich bis heute nicht verändert und werden in dem etwas moderneren Gewand westlicher Antihaltungen gegen Israel immer noch praktiziert. Deswegen möchte ich an dieser Stelle kurz darauf eingehen und Ihnen eine Passage aus der Rede von dem Sprecher der Kundgebung zumuten: „Der neuerlichen jüdischen Hetzpropaganda mussten wir begegnen. Kein Mensch hat daran gedacht, eine Boykottaktion in Bewegung zu setzen. Wir sind dazu gezwungen worden. (…) Weil es um Deutschland geht, deshalb darf niemand in dem Abwehrkampf zurückstehen. 4 Da die Partei „moralisch legitimiert" ist, so will es der Sprecher verstehen, steht es ihr zu, den Kampf gegen die Juden anzugehen und zu gewinnen. Das eigentliche Opfer – der Jude – wird zum Angreifer stilisiert und der Aggressor verwandelt sich zum Opfer, ja mehr noch: Er macht sich zum Beschützer vor der angeblichen Gefahr. Hier wird das Gewissen manipuliert und die eigene Aggression auf die Juden projiziert, um sie dann – vor der Öffentlichkeit gerechtfertigt – angreifen zu können. Dabei wird der Angreifer zur Ordnungsmacht und zum Befreier vom angeblich Bösen. Diese Umdrehung und Täuschung verlieh den Nationalsozialisten das Gefühl, rechtmäßig zu handeln, und ermöglichte die Enthemmung der aggressiven Verfolgung und der schweigenden Mittäterschaft einer antisemitisch eingestellten bürgerlichen Gesellschaftsschicht.5 Wir sollten aus der Geschichte lernen und genau hinsehen, wo in der politischen Landschaft oder auch in den Medien der moralische Zeigefinger gegen Israel erhoben wird.

    Vielleicht liegt es an dem judenfeindlichen Fundament der Tübinger Hochschule, das ihr Gründer gelegt hatte, dass diese zu einem ideologischen Wegbereiter der „Endlösung der Judenfrage wurde. Sicher aber lieferten die Anpassung wie auch die widerstandslose Akzeptanz der Tübinger Bevölkerung in der Zeit vor 1933 dafür eine geeignete Voraussetzung. Schon in den 20er Jahren blühte an der Universität ein radikaler Antisemitismus und unter den Lehrstuhlinhabern gab es nur ganz vereinzelt und seit 1929 überhaupt keine Juden mehr. Die „Judenfrage stellte sich an der Tübinger Universität erst gar nicht, denn „… jüdische Professoren hat Tübingen, ohne viel Worte zu machen, stets von sich fernzuhalten gewusst." 6 In der 1924 gegründeten „Tübinger Gesellschaft für Rassenhygiene verbreiteten Tübinger Hochschullehrer ihre Vorstellungen von einem gesunden, „rassereinen Volk.

    Nachdem die Universität als erste in Deutschland gemeldet hatte, dass sie nunmehr „judenfrei sei, schuf sie ein neues Institut zur „Erforschung der Judenfrage, das sich dem wissenschaftlichen Kampf gegen das Judentum verschrieb. Die lokale Presse bejubelte das neue Aushängeschild: Die Arbeit der Tübinger Forscher beweise, so konnte man lesen, dass „der Antisemitismus keine Sache des Radaus, sondern eine Sache ernster wissenschaftlicher Erkenntnis ist".7 Eugenik und Rassenkunde waren zur neuen Leitwissenschaft erhoben worden, um der nationalsozialistischen Ideologie ihre wissenschaftliche Legitimation zu geben. Tübingen hatte sich seit 1938 zu einem Zentrum der theoretischen wie der praktischen Rassenkunde entwickelt. Wie sehr manche Universitätsmitglieder bedenkenlos die verbrecherischen Strukturen des NS-Staates akzeptierten, zeigt beispielsweise die Geschichte der Tübinger Anatomie nach 1933. Auf dem Tübinger Stadtfriedhof gibt es eine Sektion, die das Gräberfeld X genannt wird. Hier wurden die Überreste der Leichen, die der Tübinger Anatomie zur Forschung und zukünftigen Medizinern zur Ausbildung dienen sollten, begraben. Dazu dienten die Opfer der NS-Zeit, hingerichtete Juden, Zigeuner, Polen und Russen, sowie an den Folgen unmenschlicher sogenannter medizinischer Versuche Verstorbene. Fraglos bedienten sich die Anatomen für ihre Forschung vom massenhaften Leichenzugang aus Hinrichtungsstätten, Erziehungslagern und Kriegsunterkünften. Besondere Karrieremöglichkeiten gab es an der Universität im Bereich der Biowissenschaften, die sich unmittelbar für die Verwirklichung der NS-Ideologie in den Dienst nehmen ließen.8 Einer ihrer Vertreter war der Oberarzt an der Tübinger Nervenklinik Robert Ritter (1901 – 1951), der als federführender Rassentheoretiker zum Leiter des neu gegründeten rassenhygienischen Instituts wurde. Seine Untersuchungen und Vermessungen sollten den Rassengedanken medizinisch belegen und die wissenschaftliche Begründung für die systematische Ermordung der Sinti und Roma liefern. Die Tübinger Rassenkunde versuchte, dem NS-Regime Definitionsmöglichkeiten für „Juden an die Hand zu geben, um deren Vernichtung gezielter durchführen zu können. Hans Fleischhacker, Assistent am rassebiologischen Institut, untersuchte die Fingerabdrücke von Juden in einem Ghetto, um sich dann mit dieser Arbeit zu habilitieren. Im Juni 1943 begab sich Fleischhacker in das Konzentrationslager Auschwitz, um dort eine rassekundliche Selektion vorzunehmen. Der Wissenschaftler wählte in dem Vernichtungslager Juden nach rassekundlichen Merkmalen und ließ sie beim Morgenappell aus ihrer Reihe treten. Anschließend brachte er sie in eine gesonderte Baracke, wo er Messungen an Kopf, Gesicht und anderen Körpermerkmalen vornahm. Als er die 86 Personen ausreichend vermessen hatte, schickte er sie in das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, wo sie in mehreren Gruppen in einer provisorisch errichteten Gaskammer ermordet wurden. Anschließend sollten die Leichen in Straßburg konserviert und für die wissenschaftlichen Auswertungen Fleischhackers vorbereitet werden. Dass es nicht mehr dazu kam, ist dem Vorrücken der Alliierten zu verdanken, die Straßburg befreiten, bevor die Vorbereitungen abgeschlossen werden konnten. Fleischhacker wurde nach Kriegsende angeklagt und als „Mitläufer eingestuft. Er war an der Ermordung von 86 Menschen unter dem Vorwand der Wissenschaft direkt beteiligt. Durch seine Tätigkeit wurden Tausende deportiert, zwangssterilisiert und ermordet.

    Die Universität Tübingen lieferte den ideologischen Unterbau für den Holocaust. Sie stellte zahlreiche, vielleicht sogar die meisten fanatischen Vordenker und die effizientesten Massenmörder, die an vorderster Front der SS-Einsatzgruppen und des Sicherheitsdienstes an der sogenannten Endlösung beteiligt waren. Sie werden die Tübinger Exekutoren der Endlösung genannt.9 Das Führungskorps des Judenmordes rekrutierte sich aus der Mitte oder sogar dem oberen Drittel der Gesellschaft. 80 Prozent von ihnen hatten studiert, die Hälfte promoviert. Dabei handelte es sich bei ihnen nicht um gewöhnliche Kriminelle, sondern um Überzeugungstäter, die im Auftrag der Staatsführung die Rassenideologie des Dritten Reiches in letzter Konsequenz verwirklichten. Sie mordeten für ein weltanschauliches Ziel und nicht etwa, weil sie sich persönlich bereichern wollten.

    Der antisemitische „Gencode der Stadt mit ihrer Nähe zur Universität ist ein wichtiger Grund, warum derart viele Massenmörder der Endlösung aus Tübingen kamen. Ein weiterer Grund dafür wird in einer wissenschaftlichen Untersuchung angeführt: Die Mischung aus antisemitischen Vorurteilen und einem säkularisierten Gottesbild hatte die Tübinger Exekutoren zu ihrer mörderischen Gesinnung führen können. Viele von ihnen kamen aus einem christlich geprägten Hintergrund, der angesichts eines theologisch legitimierten Judenhasses immer mehr an Bedeutung verlor. Weiter heißt es: „Ganz offensichtlich reichte es ihnen nicht mehr, den Juden das Gericht zu verkündigen. Sie hielten sich für berufen, es mit Feuer und Schwert eigenhändig an ihnen zu vollstrecken. 10 Ich möchte an dieser Stelle kurz innehalten und Sie bitten, über Folgendes nachzudenken. Wenn ein von dem Wort Gottes entfremdetes und säkularisiertes Gottesbild, verbunden mit theologisch begründeten antisemitischen Vorurteilen, zu einer derart mörderischen Gesinnung führt, die einen Holocaust hervorgebracht hat, sollte uns das nicht erschrecken lassen? Erkennen wir nicht dieselbe tödliche Mischung ebenso auch in der heutigen Zeit? Wird es dann nicht Zeit, zu dem Gott der Bibel zurückzukehren und die heute immer noch theologisch legitimierten antisemitischen Fehlhaltungen ernsthaft auszuräumen und zu korrigieren?

    Bereits kurz nach dem Machtwechsel erregten zwei renommierte Tübinger Theologen mit ihren antisemitischen Publikationen großes Aufsehen. Der katholische Dogmatiker Karl Adam (1876 – 1966) gehörte zu den anerkanntesten Theologen Deutschlands. Adam erklärte, „die Ziele des Christentums und des nationalsozialistischen Antisemitismus stimmen weitgehend überein. Der evangelische Neutestamentler Gerhard Kittel (1888 – 1948) gehörte zu den aktiven Förderern der Endlösung. In seiner Schrift „Die Judenfrage schlug er vor, die Juden aus der deutschen Gesellschaft auszuschließen und kam zu der Schlussfolgerung, dass, wenn die Rassentrennung nicht gelinge, wohl nichts anderes übrigbleibe als alle Juden umzubringen.11 Kittels Übersetzung des griechischen Neuen Testaments, das Novum Testamentum Graecae, und das von ihm herausgegebene Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) stehen bis heute im Arbeitszimmer jedes Pastors oder Theologen. Kittels Assistent Walter Grundmann (1906 – 1976) steuerte 20 Artikel zum Theologischen Wörterbuch bei. Grundmann schloss sich in Tübingen der NSDAP an und gehörte zu den radikalsten Vertretern der Bewegung „Deutsche Christen, die bezeichnenderweise auf der Wartburg, die uns durch die Bibelübersetzung Martin Luthers bekannt ist, ein Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben einrichtete. Der Sitz des Instituts sollte Martin Luthers Antisemitismus, der für das Niederbrennen von Synagogen, die Beseitigung von Gebetsbüchern und des Talmuds und die Vertreibung der Juden eintrat, bekräftigen.12 Grundmann wurde zu dessen Leiter und avancierte zu einem der bekanntesten Theologen der „Deutschen Christen. Hinter diesem harmlosen Namen versteckte sich eine neuheidnische Bewegung, die einen germanischen Glauben anstrebte, der das Christentum ablehnte und durch heidnische Zeremonien, Nazi-Ideologie und die Verherrlichung Hitlers ersetzen wollte. Das Institut entwickelte die Idee eines arischen Jesus, mit dem die Nazis sich identifizieren sollten.13 Dazu musste er aus seinem jüdischen Kontext völlig herausgelöst werden. Jesus wurde zu einem mythenhaften teutonischen Retter, dessen Auferstehung den Endsieg der Arier über die Juden demonstrieren sollte. Grundmann hatte die religiöse Legitimation zur Vernichtung der Juden geliefert. Durch sein Beispiel können wir eine erstaunliche Beobachtung machen, die wohl heute noch für jede Art von Totalitarismus gültig ist: Sie alle haben trotz großer Unterschiede den Antisemitismus als allgemeines Merkmal gemeinsam. Sobald der christliche Glaube gezielt aus dem historischen Kontext des Judentums herausgerissen wird, sollten wir aufmerksam hinschauen und genau beobachten, welche Absicht wirklich dahinter steckt.

    Wie viele aus dem Umfeld der Tübinger Universität den Weg zu den mörderischen Exekutionstruppen fanden, ist nicht mehr zu belegen: Sicher ist, dass es eine außergewöhnlich hohe Zahl war. Zum besseren Verständnis möchte ich an dieser Stelle exemplarisch einige Namen nennen, die im nationalsozialistischen Tübingen ihre finstere „Karriere" machten:

    Der Gründer der „Deutschen Glaubensbewegung" war der Tübinger Orientalist und Indologe Jakob Wilhelm Hauer (1881 – 1962). Hauer, der aus einem stark pietistisch geprägten Elternhaus stammte, wurde zunächst Missionar. In Indien kam er intensiv mit dem Hinduismus und dem Buddhismus in Kontakt, wodurch sein Leben eine andere Richtung nahm. Als Tübinger Professor lehrte er von 1927 bis 1945. Im Juni 1934 wurde Hauer von Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich, dem eigentlichen Organisator des Holocausts, persönlich in die SS aufgenommen. Zu beiden verfügte er über ausgezeichnete Verbindungen.14 Hauer wurde 1935 Leiter des von der Universität neu eröffneten Arischen Instituts. Er brachte seinen Privatsekretär Paul Zapp 15 in Kontakt mit der Waffen-SS und machte ihn zum Reichsgeschäftsführer der „Deutschen Glaubensbewegung". Paul Zapp war einer der Massenmörder, der verantwortlich war für die Massenexekutionen von hunderttausenden Juden. Zapp leitete das Sonderkommando 11a der Einsatzgruppe D, dessen Blutspur sich über das östliche Rumänien und die Südukraine bis nach Russland zog.

    Eugen Steimle stammte aus einem sehr frommen Elternhaus. Steimle gehörte zu den NS-Aktivisten der Tübinger Studentenschaft.16 Er beteiligte sich am Judenpogrom in Württemberg und leitete 1941 das Sonderkommando 7a der Einsatzgruppe B und 1942 das Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C in der Ukraine. Er war verantwortlich für den Tod von mindestens 500 Juden. Dafür wurde er am 10.04.1948 zum Tode verurteilt. 1951 wurde das Todesurteil aufgehoben, 1954 wurde er aus dem Gefängnis entlassen. Politiker und Kirchenleute hatten gegen seine Haft interveniert. 1987 starb er unbehelligt in Ravensburg. Bis ins Jahr 2003 stand sein Name auf einer Gedenktafel zur Ehrung von Kriegsheimkehrern, welche die Stadt 1951 an einer zentralen Stelle am Fuße der Stiftskirche Tübingens anbringen ließ.

    Martin Sandberger stammte aus einer bekannten württembergischen Pfarrersfamilie und war neben vielen Massakern für die Pogrome in Kaunas in Litauen verantwortlich. Nach dem Überfall auf Russland übernahm Sandberger das Sonderkommando 1a der Einsatzgruppe A. Er war neben einem weiteren Tübinger Juristen, Walter Stahlecker, der Haupttäter des Völkermords im Baltikum. Sandberger selbst wurde im April 1948 zum Tode verurteilt, wurde aber aufgrund der langen Liste derer, die sich für ihn einsetzten, zehn Jahre später entlassen.17 Nach seiner Haftentlassung konnte er im bürgerlichen Leben schnell wieder Fuß fassen und lebte jahrzehntelang unbehelligt in Deutschland. Kurz vor seinem Tod wurde er in einem Stuttgarter Seniorenstift im Alter von 98 Jahren aufgespürt. Er war einer der letzten maßgeblichen Kriegsverbrecher der Mordmaschinerie der SS. Der Reporter eines der größten Magazine Deutschlands berichtet von dieser letzten Begegnung18: „Wo war Sandberger während des letzten halben Jahrhunderts? Sieht er noch Bilder vor sich aus Kriegstagen: den Vormarsch nach Osten im Rücken der Heeresgruppe Nord, die Jahre zwischen Baltikum und Russland – er im Sturmboot auf dem Peipussee, die Juden kniend vor frisch ausgehobenen Gruben? Sandberger schließt die Augen. Er droht, augenblicklich einzuschlafen. ‚Grad ging’s ihm noch blendend‘, sagt die Dame, die ihm an diesem Nachmittag Gesellschaft leistet. Ein vorübergehender Schwächeanfall vermutlich: ‚Fragen S‘ ruhig weiter.‘ Sandberger öffnet nun wieder die Augen. Und erklärt, mit Fistelstimme und in breitem Schwäbisch: ‚Woran ich mich erinnere, das ist gänzlich unbedeutend.‘ Historiker beschreiben (…) Sandberger als Speerspitze des Genozids: ‚Sie waren nicht die Rädchen einer anonymen Vernichtungsmaschinerie, sondern sie haben die Konzepte entworfen, die Apparate konstruiert und selbst bedient, die den millionenfachen Mord möglich machten.‘ Unter den Führern der Sonderkommandos aus Himmlers Mordapparat war Sandberger der letzte Lebende. Er trat einst, ob in Tallinn oder Verona, als Halbgott auf, im feldgrauen Tuch der SS. Allein während des ersten Jahres der Nazi-Herrschaft gab es unter seinem Kommando insgesamt 5643 Exekutionen auf estnischem Boden. Im Zenit seiner vom ‚Führer‘ geborgten Macht genügten Sandberger hinter der Ostfront ein paar Federstriche, um ein ‚für die Volksgemeinschaft absolut wertloses Subjekt‘, so seine Worte damals, hinrichten zu lassen. (…) Im christlichen Stuttgarter Seniorenstift aber rechnet der Pensionär Sandberger dann für sich selbst auf Barmherzigkeit. (…) ‚Sehr wenige Erinnerungen‘ hat Sandberger leider, bei seinem ersten und lebenslang einzigen Interview, an jene Jahre. Belastbarer ist sein Gedächtnis, sobald es um die Zeit vor oder nach dem Krieg geht." So weit der Auszug aus seinem letzten Interview. Drei Monate später war Sandberger tot. Er hatte für seine Untaten niemals um Vergebung gebeten oder die Decke seines Schweigens gelüftet.

    Walter Stahlecker (1900 – 1942) hatte in Tübingen promoviert und danach eine Laufbahn bei der württembergischen Polizei eingeschlagen. Sein Vater war evangelischer Pfarrer. Stahlecker führte die Einsatzgruppe A an, die für die Massenerschießungen beim Polen- und Russlandfeldzug verantwortlich war. Er muss als einer der größten Verbrecher des Dritten Reiches überhaupt angesehen werden. Sein kaltblütiger Mordwille lässt ihn unter den anderen Gewaltverbrechern weit hervorstechen. Der letzte von ihm überlieferte Tätigkeitsbericht addiert die unter seiner Regie Ermordeten auf die unvorstellbare Zahl von 240.410 Menschen. 1942 gelang es Partisanen, ihn zu töten.

    Der Tübinger Oberbürgermeister Ernst Weinmann trug den Beinamen „Henker von Belgrad". Er amtierte von 1939 bis 1945 in Tübingen. Er verbrachte während des Krieges den größten Teil seiner Amtszeit als SS-Sturmbannführer in Jugoslawien, wo er an maßgeblichen Stellen an der Verschleppung von Slowenen und Judendeportationen beteiligt war. Nach Kriegsende wurde er deswegen in Jugoslawien zum Tode verurteilt und erhängt.

    Sein Bruder Erwin Weinmann (1909 – ?) wurde in der Nähe von Tübingen geboren, arbeitete schon als Schüler für die NSDAP, promovierte zum Dr. med. und arbeitete als Assistenzarzt an der Tübinger Poliklinik. Er suchte den Weg in die Politik und wurde vom Sicherheitsdienst angeworben. Im Sommer 1942 wurde er Chef des Sonderkommandos 4a und war verantwortlich für Massenexekutionen in der Ukraine. Als Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Prag soll er angeblich bei Kämpfen um Prag gefallen sein. Obwohl er für tot erklärt wurde, wollten die Vermutungen nicht verstummen, dass er über die sogenannten „Rattenlinien", d. h. über Italien, Spanien und von dort nach Ägypten entkommen konnte. Dort soll er nach den Recherchen des Bundes Jüdischer Verfolgter jahrelang als Berater für die Polizei tätig gewesen sein.19

    Ein weiterer Massenmörder, der in Tübingen studiert hatte, war Albert Rapp (1908 – 1975). Im politischen Klima Tübingens wurde er immer radikaler und stieg zum SS-Sturmbannführer auf. Rapp war als Führer des Sonderkommandos 7a der Einsatzgruppe B mit einem speziellen hundertköpfigen Kommando für Massenexekutionen an Ukrainern und Russen verantwortlich. Nach 1945 tauchte er unter und wurde 1965 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.

    Ein Studienkollege Rapps war Rudolf Bilfinger (1903 – 1998). Er arbeitete nach der Promotion in Tübingen als Rechtsanwalt, bevor er über die Stuttgarter Polizei zum Reichssicherheitshauptamt gelangte. Dort übte er hohe Verwaltungsfunktionen aus und wurde unmittelbar in die „Endlösung der Judenfrage" eingebunden. Im Nachgang zur Wannseekonferenz im Januar 1942 nahm Bilfinger an mehreren Besprechungen teil, in denen der Holocaust organisiert wurde. Bilfinger wurde von einem französischen Militärgericht zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, doch dann schnell nach Deutschland abgeschoben und entlassen. Anschließend wurde er wieder in den Staatsdienst übernommen. Er starb in Hechingen, einer Kleinstadt 25 km entfernt von Tübingen.20

    Theodor Dannecker (1913 – 1945) gehörte zu den Organisatoren des Holocaust und war einer der engsten Mitarbeiter Eichmanns. Er wuchs im Herzen Tübingens auf. Als erfolgloser Kaufmann entwickelte er sich zum „Judenreferenten", der dann die Deportation der Juden aus Frankreich, Bulgarien, Ungarn und Italien in die Vernichtungslager organisierte.21

    Nach vorsichtigen Schätzungen sind mindestens 600.000 Juden durch den Rassenwahn der Tübinger Exekutoren ums Leben gekommen.

    Während ich diese Zeilen schreibe, erfüllt mich ein tiefer Schmerz. Ich kann Ihnen aber nur von unserer Stadt berichten, wenn Sie verstehen, warum ich von einer Wolke der Finsternis spreche, die über uns lag. Gleichzeitig können Sie nur so das Wunder der Veränderung nachvollziehen, das wir in den letzten Jahren in unserer Stadt gesehen haben.

    Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.

    (Jes 60,2)

    Als meine Frau und ich 1982 nach Tübingen zogen, war Tübingen für uns ganz einfach eine beschauliche Universitätsstadt, in der wir nur studieren wollten. Gleichzeitig wussten wir sicher, dass der Herr uns in diese Stadt gebracht hatte. Unsere baptistischen Ältesten hatten uns unter Handauflegung ausgesandt, was keine Selbstverständlichkeit war. Wir fingen mit einigen Ehepaaren an, für unsere Stadt zu beten, und waren erstaunt darüber, auf welche Widerstände wir dabei stießen.

    Sicher hatte das auch mit der mühsamen Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der Stadt zu tun, die Anfang der 80er Jahre erst begonnen hatte. Bei der Beschreibung einzelner Täter habe ich immer wieder erwähnt, wie schnell und leicht sie ihrer Strafverfolgung und gerechten Strafe entkommen konnten. Das Nachkriegsdeutschland ließ sich allzu gerne in Täter und Mitläufer einstufen, wobei selbst verurteilte Kriegsverbrecher von allerobersten politischen Stellen so viel Hilfe bekamen, dass sie sehr oft vorzeitig aus dem Gefängnis wieder entlassen, resozialisiert und in das gesellschaftliche Leben integriert wurden. Klare Schuldgeständnisse gab es kaum. Wer als Mitläufer eingestuft werden konnte, wurde rehabilitiert. Über die Schuld der Vergangenheit legte sich ein schwerer, dunkler

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1