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Selfies - Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur
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eBook317 Seiten3 Stunden

Selfies - Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

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Über dieses E-Book

Selfies zählen längst zum alltäglichen Medienhandeln. Sie sind nicht nur Verstärker von Aufmerksamkeiten digitaler Ego-Netzwerke, sondern beherrschen die Bildkulturen unserer Gegenwart. Von Kriegs-Selfies, über die Rich Kids of Instagram und Foodporn hin zur neoliberalen Selbstoptimierung mittels Fitness-Tracker: Ramón Reichert liefert eine messerscharfe Analyse der Selbstthematisierung im digitalen Zeitalter und verbindet so Plattformkritik mit einer Kritik an digitaler Subjektivität.
Er rückt Selfies jedoch auch als Ermöglichung einer kritischen Reflexion des Selbst und seiner Praktiken des Erzählens, Zeigens und Mitteilens in den Fokus. Distanziert vom Selfie-Kult legt er widerständige Bildpraktiken beispielsweise in der feministischen Protestbewegung im Iran offen und zeigt, wie neue digitale Kontexte einer selbstreflexiven Thematisierung entstehen können.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Aug. 2023
ISBN9783732836659
Selfies - Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur
Autor

Ramón Reichert

Ramón Reichert (Dr. phil.) works as a European project researcher at the University of Lancaster within the Erasmus+ program. He is the program director of the M.Sc. Data Studies at Danube University Krems, Austria. He is a lecturer at the Department of Communication and Media Research at the University of Fribourg, Switzerland, and a lecturer in Contextual Studies at the School of Humanities and Social Sciences at the University of St. Gallen, Switzerland.

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    Buchvorschau

    Selfies - Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur - Ramón Reichert

    I. Einführung


    Das Schlagwort »Selfie« charakterisiert ein zentrales Kulturmuster spätmoderner Gesellschaften im postdigitalen Zeitalter. Die sogenannte »Selfie-Generation« (Eler 2017) ist längst nicht nur Verstärker von Aufmerksamkeit innerhalb digitaler Ego-Netzwerke, sie übt einen maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung sozialer Rollenmodelle, Identitätsskripte und politischer Denkweisen aus. In Verknüpfung mit Hashtags, Hyperlinks und Retweets überformen Selfies die digitale Bildkultur und verändern die Bedeutung konventioneller Inhalte, sie kommodifizieren als warenförmige Bildinhalte die Online-Kommunikation der Selbstthematisierung und sie formen ein kollektives Bildgedächtnis für künftige Generationen. (Salomon/Brown 2019: 539-560; Bollmer 2021: 20-39)

    Aufgrund ihrer niedrigschwelligen Verwobenheit mit der Alltagskultur globalen Ausmaßes sind Selfies seit mehr als einer Dekade Gegenstand einer interdisziplinären Forschung geworden. Selfies wurden in Bezug auf neue Ausprägungen sozialer Gegenwartsphänomene analysiert (exemplarisch: Matich et al. zu queer-feministischer Selbstrepräsentation, 2022: 388-400), ihre Entwicklungen wurden kritisch beurteilt (Stichwort: »Smiling in Auschwitz«, Adriaansen 2022: 105-120) und politisch verortet (exemplarisch: Green-Riley et al. über »Selfie-Protests«, 2022: 203-215), aber häufig wurden den untersuchten Bildpraktiken und ihrer Akteure nicht zugestanden, dass sie das Medien- und Bildformat »Selfie« selbst kritisch-reflektierend dekonstruieren. Diese Beobachtung nimmt dieses Buch zum Anlass, nicht nur über Selfies als eine alternative Bildpraxis der Selbstdarstellung nachzudenken, sondern das Medium »Selfie« als Ermöglichung von einer kritischen Reflexion des Selbst und seiner Praktiken des Erzählens, Zeigens und Mitteilens in den Fokus zu rücken. Dabei wird es nicht nur um eine Verschiebung des Analyserahmens gehen, sondern in einigen Kapiteln dieses Buches wird versucht, die innovative Dynamik einer kritisch-reflexiven Distanzierung vom Selfie-Kult auf der Grundlage der Praktiken der Mediennutzung selbst sicht- und sagbar zu machen.

    Selfies können als ein Indikator für den medialen, gesellschaftlichen und technischen Umbruch der Bildkommunikation verstanden werden. (Murray 2021) Diese tektonische Verschiebung innerhalb der zeitgenössischen Kommunikationskultur hat in den Kultur-, Medien- und Sozialwissenschaften zur weitverbreiteten Einsicht geführt, dass Bildern in spätmodernen Gesellschaften ein wesentlicher Beitrag zur Formierung von Gesellschaft und Subjektivität eingeräumt werden muss. (Sezgin 2018; Reckwitz 2019; Jurgenson 2019; Leaver et al. 2020)

    Während die Selbstdarstellung im Goffman’schen Sinn der face-to-face-Interaktion (Goffman 1959) zu den menschlichen Universalien gehört, kann die reflexive Wendung der Selbstdarstellung, nämlich die Selbstthematisierung, als ein kulturelles Spezifikum der digitalen Kommunikationsgesellschaft gedeutet werden. In diesem Zusammenhang wirft das vorliegende Buch die Frage auf, ob und auf welche Weise sich die Praktiken der Identitätskonstruktion im Rahmen der Ausweitung der neuen digitalen und interaktiven Medien verändern.

    Mit der fortschreitenden Technisierung und Mediatisierung der visuellen Kultur (Darley 2000; van Dijck 2008: 57-76) mittels Telekommunikation- und Vernetzungsmedien sind fließende Formen der Bildproduktion von persönlicher Information entstanden, die sich durch einen fließenden Übergang zwischen Medien, technischen Verfahren, sozialen Beziehungen, Diskursen und visuellen Stilen auszeichnen. (Doy 2004; Snickars/Vonderau 2012) Mit der technischen Mobilisierung der Bilder und der fortschreitenden Verallgemeinerung der Bildkompetenz haben sich neue Formen sozialer Netze und interaktive Medienöffentlichkeiten gebildet, die zur Entstehung einer breiten Autodidaktisierung der digitalen Bildkultur geführt haben. (Hjorth 2007: 227-238; Hjorth/Burgess/Richardson 2012)

    Vor diesem Hintergrund kann die bildliche Selbstthematisierung entlang der wechselseitigen Beziehungen zwischen den infrastrukturellen Möglichkeiten der digitalen Medien, den digitalen Methoden der Bildforschung und den ästhetischen Praktiken der Selbstthematisierung untersucht werden. (Lasén/Gómez-Cruz 2009: 205-215)

    I.1.Bildkommunikation, Bildrepertoires und Bildgedächtnis

    Es kann daher von der grundlegenden These ausgegangen werden, Bildpraktiken als kommunikative und medientechnologisch vernetzte Praktiken zu verstehen. Im Zentrum dieses Ansatzes steht eine visuelle Kommunikationsanalyse, die folgende Schwerpunkte aufweist:

    (1) Analyse der Bildkommunikation in technisch-medialen Enviroments. Die heutige Forschung zur historischen und kulturellen Bedeutung von Bildern geht von einem erweiterten Bildverständnis aus und integriert die Praktiken der Sichtbarmachung und des Sehens in ihre Analyse. (Lobinger 2015: 37-58) Das Forschungsprojekt ist in dieser Hinsicht praxeologisch ausgerichtet und untersucht die komplexe Überlagerung ikonischer, textbasierter und informatischer Bedeutungsgeflechte, die bei der Aufnahme, der Bearbeitung, der Veröffentlichung und der Verbreitung von Selfies auf Online-Plattformen, sozialen Netzwerkseiten und Sharing-Apps entstehen. (Tiidenberg 2018) Das Projekt erkundet die Wechselbeziehungen zwischen visuellen Datenobjekten, bildlichen und diskursiven Prozessen der Bedeutungskonstruktion und Metadaten, welche die »Klassifikation und Archivierung erleichtern und die Herkunft (Urheberschaft, Eigentumsrecht und Nutzungsbedingungen) anzeigen«. (Vgl. Rubinstein/Sluis 2013: 151, Übersetzung durch den Autor.)

    Als Schauplatz divergierender Blickweisen und Sehkulturen werden nicht nur Bildpraktiken im engeren Sinne untersucht, sondern auch die mit ihnen eng verknüpften Kategorisierungs-, Kodierungs- und Kommentierungsverfahren (Hashtags, Emojis, Threads, GIFs, Hyperlinks) und crossmedialen/multimodalen Verbreitungs- und Analysestrategien (Social Insight, SocialRank, Hootsuite, Iconosquare, Social Media Radar), welche die Nutzer von Online-Plattformen und Messenger-Diensten durch ihr soziales Sichtbarsein und Gesehen-werden herstellen. Als bildbasiertes Handeln (Morelock/Narita 2021) sind Selfies in die Situierung von Subjekten der Technisierung in ein performatives Geschehen (Silvestri 2021: 275-287) eingebettet. Die performativen Aspekte des Handelns mit Bildern siedeln wir auf einer multimodalen Ebene an, welche die gesamte Bandbreite der Selfie-Kommunikation und des Selfie-Storytellings in mobilen und multimedialen Kommunikationsnetzwerken (schriftbasierte Texte, Hashtags, Emojis, GIFs, Hyperlinks, Threads) abdecken soll. (Mendoza 2022: 1-12)

    (2) Bildrepertoires und Bildgedächtnis. Bildpraktiken sind immer auch visuelle Praktiken und Selfies beziehen sich immer auf visuelle Rollenmodelle und sind im Sinne einer endlosen Folge von Referenzbilder in Bedeutungsnetze eingebunden. Entlang dieser Perspektivierung ist im Projekt eine Interpretationsanalyse angesiedelt, die digitale Selbstbilder im Produktions- als auch im Rezeptionskontext als kommunikatives Bildhandeln »deterritorialer Gemeinschaften« (Hepp 2008) untersucht und Selfies als temporalisierte und wählbare Handlungs-, Kommunikations- und Identifikationsmuster ansieht, die im breiten Spektrum objektivierender Selbstvermessung und individualisierter Selbstinspektion neue Formen medialer Subjektivität ermöglichen. Da sich Online-Plattformen, Messenger-Dienste und Soziale Netzwerkseiten in geschlossene Kommunikationsräume ausdifferenziert haben, erforschen wir visuelle Kommunikationsskripte zum Aufbau digitaler Identität (Senft 2013, die spezifische Bildrepertoires (Silverman 1997) und Gedächtniskulturen (Budge 2020: 3-16) in unterschiedlichen Online-Kommunikationsräumen hervorgebracht haben – z.B. theatrale Selbstinszenierungen auf Instagram und Facebook und reziproke Kommunikationsformen auf WhatsApp, Twitter und Snapchat. (Ebbrecht-Hartmann/Henig 2021: 213-235)

    (3) Stilkommunikationsanalyse. Im Mittelpunkt der Stilkommunikationsanalyse steht die vergleichende Analyse des bildlichen Ausdrucks im Kontext bildkompositorischer Gestaltungsweisen. (Bollmer 2020) Bei der Bildanalyse wird darauf Wert gelegt, dass die unterschiedlichen Bildformen und -stile nicht von einem »kategorial festgelegten Bildbegriff« abgeleitet werden, sondern heterogenen Bildpraktiken zugeordnet werden. Mit methodenoffenen Ansätzen der qualitativ orientierten Bildforschung können die formalästhetischen Stile der Hervorhebung, der Betonung, des Verbergens und Auslassens in der Kadrierung, der Bildgenres, der Handlungsepisoden, der Interaktionskonstellationen und die Ebene der Bild-Text- und Bild-Bild-Relationen auf geschlechts-, alters- und schichtspezifische Distinktionen bezogen werden, die spezifischen Stilräumen zugeordnet werden können. (Morse 2018) Die Studie exploriert fluide und translokale Beziehungsnetzwerke, um Veränderungen im Bildbestand und damit zusammenhängende Nutzungs-, Aneignungs- und Interaktionsmuster dokumentieren zu können. Dieser Ansatz ermöglicht die Kategorienbildung und eine mögliche Sondierung visueller Verwandtschaften, die sowohl synchron (im Vergleich mit anderen digitalen Selbstporträts auf Online-Plattformen) als auch diachron (im Vergleich mit kulturellen Bildrepertoires und historischen Referenzbildern) erschlossen werden können. So gesehen kann die Bildevidenz der Selfies nach ihren kulturellen und historischen Bedingtheiten befragt werden.

    Das Kernstück der vorliegenden Forschungsarbeit ist die systematische Verknüpfung der unterschiedlichen Theorie- und Methodenansätze: Wie kann der Einfluss von technisch-medialen Enviroments der Social-Media-Apps auf die Interaktions- und Verhandlungsorte subjektzentrierter Bildkommunikation methodisch nachgewiesen werden? (Helmond 2015: 1-11) Auf welche Weise schaffen plattformbasierte Bedingungen wie das Abonnenten-Prinzip oder die Hashtagging-Funktion globalisierte Kommunikationsräume (Bossio/McCosker 2021: 634-647) einer Bedeutungszunahme des kommunikativen Handelns mit Bildern, neue ikonische Inszenierungsstile (»Gesprächsbilder«, Halter 2015: 3) oder konventionelle Bildrepertoires und Geschlechterstereotypen? (Williams/Moody 2019: 366-384; Grindstaff/Valencia 2021: 733-750) Kann das Selfie-Phänomen als ein Paradigmenwechsel in der Entwicklung einer globalen Öffentlichkeit verstanden werden, wenn heute Selfies wie Emoticons zu einer ›Weltsprache‹ geworden sind und sich »erstmals in der Geschichte der Menschheit eine universal gültige Form der Kommunikation etabliert«? (Ullrich 2019 40) Das Ziel des Forschungsprojektes ist es, eine theoretisch begründete und empirisch gesicherte Studie durchzuführen, die aufzeigen kann, dass ein erweiterter Methodenrahmen aus Bild-, Medien- und Kommunikationswissenschaft zur systematischen Erforschung von Bildkulturen in den Sozialen Medien beitragen kann.

    In diesem Sinne distanziert sich das Konzept der bildlichen Selbstthematisierung von der Annahme einer hypostasierten Selbstbezüglichkeit, darin Medien lediglich als Werkzeuge zur Darstellung eines lebensweltlich bereits gegebenen Subjekts betrachtet werden. In Anlehnung an die Forschungsansätze zur »automedialen Biografie« (Dünne/Moser 2008) gestehen wir dem Medium eine konstituierende Bedeutung im Prozess der Subjektkonstitution zu und können daher nach einer sich medial im Aufnehmen, Speichern und Verbreiten konstituierenden Selbstbezüglichkeit fragen. Eine Identitäts- und Subjektforschung, die den Einfluss des Mediums auf den Vorgang der Subjektivierung als eigenständige Forschungsfrage und als wissenschaftliches Arbeitsfeld ansieht, lenkt den Blick auf das, was in den medialen Analysen der Subjektivität mit den Analysebegriffen »Dispositiv« (Engell 2000: 282) und »mediale Reflexivität« (Mersch 2008: 133) beschrieben wird. Sie lenkt den Blick auf die Medialität des Mediums und untersucht die Ermöglichung von historischen Erinnerungsorten und sozialen Bildkulturen mittels medialer Anordnungen, Verfahren und Formate. (Nora 1989; Galloway 2004) Die ästhetischen Praktiken der Identitätskonstruktion in Online-Medien medialisieren nicht nur individuelle Subjektentwürfe, sondern resemantisieren auch kollektive Erinnerungsorte (Wight/Stanley 2022: 1-15), die vermittels der Selfies als ›privatisierbar‹ in Aussicht gestellt werden. Die Studie von Samantha Hinckley und Christin Zühlke stellt Reaktionen der Öffentlichkeit auf Selfies an Holocaust-Gedenkorten nach der Veröffentlichung in den sozialen Medien gegenüber und zielt darauf ab »Selfies als Mikro- als auch Makrogeschichten [zu betrachten], die Realität und virtuelle Realität und eine Verschiebung traditioneller Arten der Gedächtnisbildung beinhalten.« (Hinckley/Zühlke 2022: 4; Übersetzung durch den Autor) Die produktive Verknüpfung dieser beiden Ansätze bildet den methodischen und forschungsleitenden Kern der vorliegenden Selfie-Analyse.

    I.2.Digitale Ästhetik

    Vor diesem Hintergrund können z.B. die ästhetischen Formen der Selbstinszenierung (self-staging), die das Selbst in den Mittelpunkt rücken und die mit Hilfe dieser Selbstdokumentation provozierte mediale Nähe (closeness) zum Aufnahmemedium (arm-length away) der Smartphone-Fotografie thematisiert werden. Die digitalen Medien der Selbstdokumentation vermittels der Smartphone-Technologien der permanenten Konnektivität und ihrer räumlichen Annotationen (Snapchat u.a.) eröffnen auch neuartige Handlungsräume für Selbstmodellierungen, insofern die Selbstbilder immer auch in digitale Gebrauchskontexte – Tracking (Robards et al. 2021: 2616-2633), Gamification (Bossetta 2022: 304-308) und Surveillance (Murray 2021: 1-19) – verwoben sind.

    Die kommerziell motivierte Adressierung der User als Produzenten ihres eigenen Selbstbildes (Do-it-yourself-Ästhetik) darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Selfies immer auch in digitalen Medienkulturen verortet werden und innerhalb der Ökonomien der digitalen Vernetzung vermittels der Clicks, Likes, Tags und Comments mit den Kulturtechniken des Benennens, Sammelns, Auswertens und Zählens verknüpft sind (vgl. den Aspekt der Medialisierung als Ritual und die damit einhergehende Standardisierung der Selbstdarstellung, z.B. #tbt, #after sex, #museumselfie).

    Auch die vereinfachten Möglichkeiten zur multimedialen Selbstveröffentlichung im Internet ermöglichen neue Formen infrastruktureller Aneignung und kollektiver Vernetzung. Kennzeichnend für die niedrigschwellige und zeitsparende Produktion von Selbstbildern ist die Kultur des Selbermachens. Diese Kultur des Selbermachens eröffnet nicht ein neues Wechselverhältnis von Praktiken des Selbstbezugs und medialen Technologien, sondern beeinflusst auch als ästhetisches Mittel die Repräsentationen des Selbst. Diese können als zusätzlicher Gegenstand der Untersuchung als bildkulturelle Elemente, Formen und Formate hinsichtlich ihrer historischen, kulturellen und medialen Subjektkonstruktion aufgefasst werden: »As an emblematic part of the social media’s increased »visual turn,« selfies provide opportunities for scholars to develop best practices for interpreting images online in rigorous ways.« (Senft 2013

    Vor diesem Hintergrund können die Selfies hinsichtlich ihrer genrespezifischen Kultivierungsaspekte und ihrer Bezüge zu medienspezifischen Formaten untersucht werden. In diesem Sinne wurden Portfolios genre- und format- und medienspezifischer Bildkulturen erstellt, um daran anknüpfend die Frage aufzuwerfen, welchen netzwerkspezifischen Stellenwert Selfies in der Zirkulationssphäre von Social-Media-Plattformen aufweisen können. Das vorliegende Buch versteht sich daher sowohl als eine medien- und subjekttheoretische, bildkulturelle als auch eine kommunikationssoziologische Erweiterung der Arbeiten von Turkle (1995, 2012) und versteht Selfies als Ermöglichungen visueller Kommunikation, mit denen spezifische Handlungsorientierungen, bildästhetische Subjektmodelle und die soziale Integration für medialisierte Selbstthematisierungen bereitgestellt werden.

    Davon ausgehend wird hier das Verhältnis zu den medialen Handlungs- und Ausdrucksmitteln, mit denen Individuen im Kontext gesellschaftlicher Anforderungen ihre eigene Subjektivität modellieren, untersucht werden. Die Diskussion um den erkenntnistheoretischen und sozialtheoretischen Status des Bildes, die unter verschiedenen Namen wie dem »Pictorial Turn«, dem »Iconic Turn«, dem »Visual Turn« oder den »Visual Methods« seit Anfang der 1990er Jahre intensiv geführt wird, soll im vorliegenden Buch in die Fragestellung münden, inwiefern Bilder und Bildmedien dazu beitragen, Personen bzw. Subjekte darzustellen, zu prägen und dadurch umzuformen.

    Dementsprechend können Selfies als Formate des Kommunizierens thematisiert werden und damit kann ein Zugang zu den institutionellen Verfestigungen kommunikativer Handlungen erschlossen werden. Mit dieser Prämisse lassen sich die rekurrenten Merkmale der Selfies auf der Ebene von bildästhetischen Konventionen, semantischen Kodierungen, medialen Dispositiven und stereotypen Interaktionsstrukturen eingehend beobachten. Was das Format der Selfies analytisch besonders reizvoll macht, ist der Umstand, dass die Analyse der kommunikativen Formen von Selfies 1) die durch Medientechniken veränderte Medialisierung des Selbst aufzeigen kann und 2) die individuellen Verflüssigungen technologischer Dispositive und sozialer Rahmungen zu problematisieren vermag. In diesem Sinne ist die Geschichte der menschlichen Subjektivität eng mit den unterschiedlichen medialen Vermittlungsformen verknüpft und kann in mündliche, schriftliche, massenmediale und individualmediale Formen der Selbstthematisierung unterschieden werden. Mündliche Selbstthematisierungsformen zeichnen sich durch Kopräsenz und eine Interaktion des Face-to-Face aus, schriftliche Formen wie die Autobiographie und das Tagebuch sehen das Schreiben als substitutive Praxis für eine praktische Orientierung, oder machen das Handeln zum Schauplatz biografischer Rechtfertigung (Ricoeur 2002, 2004).

    Im Zuge der Pluralisierung der Massenmedien insbesondere durch ihre Privatisierung deutet sich eine neue Form der Selbstthematisierung an. Zunehmend wird das Private zu einer (Aufmerksamkeits)Ressource, so dass die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen gesprengt werden. Die Intimsphäre, das persönliche Bekenntnis, die inszenatorische Selbstdarstellung u.a.m. werden zu Themen mehr oder weniger neuer massenmedialer Formate, die sich auf die interaktiven Online-Medien ausdehnen. In dieser Sichtweise können die digitalen Netzwerke immer auch als mediale Anordnungen verstanden werden, die auf die beteiligten Akteure institutionellen und normativen Druck ausüben, sich am Prozess der Selbstthematisierung zu beteiligen. Vor diesem Hintergrund wird die als mach- und planbar wahrgenommene Lebensgeschichte zum Gegenstand medialer Erzählstrategien, mit denen versucht wird, das eigene Leben vermittels narrativer Identitätsskripte, »multimedialer Medienformate« (Doy 2004; Reichert 2008: 47) und Formen genderbasierter Inszenierungen zu verorten. Alois Hahn bezeichnet die kommunikativen Institutionen der Selbstthematisierung als »Biografiegeneratoren« (Hahn 1987: 12) und verweist auf ihre Bedeutung für die praktischen Selbstverhältnisse der Individuen. Sowohl die individualisierten Arten der reflexiven Selbstdarstellung als auch jene Selbstthematisierungen, die durch institutionelle Vorgaben strukturiert sind, dienen einerseits der lebensweltlichen Orientierung in der alltäglichen Lebensführung, fungieren aber auch als gesellschaftlicher Mechanismus zur Normalisierung, Integration und sozialen Kontrolle.

    In diesem Sinne gehören automediale Dokumentationsverfahren wie die Selfies auch zu den kollektiv geteilten Leitbildern der Gegenwartsgesellschaft und können im Bezugsrahmen einer historisch langfristigen Etablierung kommunikativer Institutionen und Normen der Selbstthematisierung verortet werden. In dieser Hinsicht sind es nicht nur die Einzelnen, die sich selbst zum Thema von Kommunikation und damit zum Gegenstand des Wissens machen, sondern sozial habitualisierte Formen der Kommunikation, die das Individuum in ein bestimmtes Verhältnis zu anderen und dadurch zu sich selbst setzen. Das Subjekt kann also erst dann zu einem Vorbild des Handelns und zu einem Gegenstand des Wissens werden, wenn in einer Gesellschaft entsprechende institutionelle Rahmenbedingungen vorhanden sind, die das Subjekt im Allgemeinen als ursächliches Agens der Selbstthematisierung adressieren. Die stilistischen Merkmale der visuellen Selbstdarstellung verweisen demnach weniger auf eine Individualität von Subjekten, sondern auf historische und sozial bedingte Subjektivierungsweisen, die unter anderem an der Verwendung der Selfies ablesbar werden.

    Im Anschluss an diese Forschungen beabsichtigt das Buchprojekt zur Untersuchung bildbezogener Selbstthematisierung in den Sozialen Medien des Web 2.0, einen disziplinenübergreifenden Beitrag zur digitalen Nutzungsforschung zu leisten. Dieser Beitrag besteht (1) aus der datenkritischen Reflexion der gängigen Technologien, Ressourcen und Analyse-Tools der nativ-digitalen Webanalyse und der Social-Media-Analyse (van Dijck 2013), (2) aus der Entwicklung von methodologischen Grundlagen zur Analyse von Bildobjekten im Internet, mit denen quellenkritische Standards für visuelle Selbstthematisierungen entwickelt werden sollen und leitet sich (3) aus dem zeitdiagnostischen Anspruch ab, den Stellenwert der digitalen Bild- und Kommunikationsmedien bei der Herausbildung medial vermittelter Subjektivität zu elaborieren. Dabei handelt es sich um den Versuch der Erklärung für das Phänomen, dass durch Bild-Text-Verschränkungen besonders wirkungsvolle Evidenzeffekte erzeugt werden. In diesem Zusammenhang werden die technisch-medialen Infrastrukturen, die zunehmende Durchdringung von Bild, Text und Materialität durch Informations- und Verbreitungstechnologien und ihre multimodalen Kommunikationsformen ebenso in Betracht gezogen wie die nutzerbedingten Gebrauchskulturen. (Morse 2018; Corfman 2022: 101-186)

    Mediatisierte Kommunikation motiviert Individuen zur Selbstthematisierung und aktiviert personalisiertes Medienhandeln (Schultermandl 2022: 9-21). Diese These wird auch von Olu Jenzen (2022) gestützt, die sich mit der visuellen Selbstdarstellung in LGBTQ+-Jugendkulturen befasst hat und darauf verweist, dass LGBTQ+-Jugendliche ihre Identitätsarbeit plattformübergreifend kuratieren.

    Vor diesem Hintergrund können Selfies als visuelle Praxis von Jugendidentitätsarbeit, affektiver/phatischer Kommunikation, Gemeinschaftsbildung und Öffentlichkeitsvernetzung untersucht werden.

    Weitere Studien zeigen im Fall der Internetkommunikation auf, dass sich im Kontext der gegenwärtigen gesellschaftlichen, medien- und technikbasierten Umbrüche Subjektbefragungen herausbilden, welche die Sozialen Netzwerkseiten als mediatisierte Interaktionsorte jugendkultureller Thematisierungen von fluiden Subjektentwürfen in bildkommunizierenden Experimentalkulturen nutzen. (Mazzarella 2022: 311-318; Sherry 2022: 97-110) So bedeutend diese partizipatorischen Kommunikationsstrukturen auch sein mögen, sollte man ihre ökonomischen und politischen Interdependenzen nicht vernachlässigen, sondern als formatbedingende Praxis der Selbstthematisierung betrachten, die möglicherweise wieder zur Herausbildung von gemeinsam geteilten Kodierungen und diskursiven Rahmungen von sozialen Dynamiken führen können. Mit einer deutlich erkennbaren Sensibilität für diesen technologischen wie sozialen Umbruch, der auch neue ästhetische Einsätze verlangt, können bildästhetische und mediendispositive Forschungsperspektiven zusammengeführt werden, um herauszufinden, inwiefern Selfies als performative Medien verstanden werden können.

    I.3. Strategien der Dissemination

    In Anknüpfung an die performative Handlungstheorie von Erika Fischer-Lichte (2002; 2004) wird im Projektzusammenhang der Begriff des Performativen verwendet, um die prozessuale Aufführungs-, Vollzugs- und Transformationspraxis von visuellen Selbstthematisierungen aufzeigen zu können. In den

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