Die Sonntagsevangelien im Lesejahr B: Auslegungen für Predigt und Meditation
Von Anke Lechtenberg
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Buchvorschau
Die Sonntagsevangelien im Lesejahr B - Anke Lechtenberg
ADVENT
Seid also wachsam!
Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt.
(Mk 13,35)
Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit
Erster Adventssonntag: Mk 13,33–37
Achtsamkeit als Schlüssel zum Glück – unter dieser Überschrift lassen sich viele Buchtitel subsumieren, die in den letzten Jahren auf den Markt kamen und regen Absatz fanden. Offensichtlich trafen oder treffen sie eine große Sehnsucht nach entschleunigtem und bewusstem Leben. Dazu jedenfalls laden die meisten Ratgeber ein: den Augenblick wahrzunehmen, gesammelt im Jetzt zu leben und mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu spüren, was gerade „dran" ist. So wenig diese Kunst vom Himmel fällt, so sehr sie – was viele Ratgeber gerne verschweigen – geduldig geübt werden muss, sie ist gut und tut gut. Denn auch Hirnforscher konnten inzwischen nachweisen, wie sehr unaufmerksames Multitasking unsere Gehirne stresst und uns wegführt von uns selber.
Auch Jesus lädt zur Achtsamkeit, zur Wachsamkeit ein, doch es gibt einen entscheidenden Unterschied. Die Wachsamkeit, zu der er uns ruft, richtet sich nicht nur auf den jeweiligen Augenblick, sondern auf die in ihm enthaltene Tiefendimension des Lebens, auf das Kommen des Hausherrn nämlich, wie Jesus es formuliert.
Das Christentum ist eine inkarnatorische Religion: Gott hat sich in die wirkliche Wirklichkeit unserer Welt hineingegeben. Deshalb bezieht sich die Ankunft Christi, von der im Advent so vielfach die Rede gehen wird, nicht nur auf die Geburt Jesu und auf sein Wiederkommen am Ende der Zeiten. Es gibt eine dritte Ankunft, und die geschieht je jetzt: „ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen (Mk 13,35). „Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit
, formuliert es ein bekannter Buchtitel. Damit ist nicht gemeint, dass alles, was uns im Leben geschieht, eins zu eins von Gott kommt. Es heißt aber, dass wir uns in allem der Begegnung mit ihm öffnen und uns von ihm ansprechen lassen können. In der Haltung solcher Wachsamkeit kann uns die dampfende Tasse Kaffee oder Tee am Beginn des neuen Tages ebenso von Gottes Güte erzählen wie die Schönheit eines Regenbogens oder die Liebe der Menschen, die uns umgeben. Genauso kann Gott vernehmbar werden als Aufschrei gegen Unrecht und Gleichgültigkeit in einem Flüchtlingskind, das im Mittelmeer ertrinkt; als Widerstand gegen Umweltzerstörung und Gewalt oder als Erschrecken in allen, die Krieg und die „Zeitenwende" der neuen Aufrüstung mit Abscheu erleben.
Der Jesuitenpater Alfred Delp, 1944 von den Nazis hingerichtet, formulierte es während seiner Inhaftierung so: „Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er uns gleichsam entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis zu dem Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott hervorströmen. Dies gilt für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, liebende Antwort."²
Gott ist nicht fern von uns, aber er ist leise. Er drängt sich nicht auf, denn das widerspräche der Liebe. Deshalb braucht er unsere Haltung offener, aufmerksamer Wachsamkeit, die tiefer schaut und sein beständiges Auf-mich-zu-Kommen zu entdecken lernt. Der heilige Ignatius von Loyola, Meister des geistlichen Lebens, schlägt dafür vor, des Abends bewusst zurückzuschauen und den vergangenen Tag auf Gottes Spuren zu befragen. So wachsen wir in den Advent hinein, der immer ist: täglich, stündlich, minütlich, ein ganzes Leben lang. Die vor uns liegenden adventlichen Wochen des Kirchenjahres wollen uns auch dafür sensibilisieren.
²Alfred Delp, zitiert nach: Willi Lambert, Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit, 12.
Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen.
(Mk 1,8)
Anfangen mit Gottes Anfängen
Zweiter Adventssonntag: Mk 1,1–8
„Eigentlich bin ich ganz anders – ich komm nur so selten dazu!", meinte der österreichisch-ungarische Schriftsteller Ödön von Horváth in einem Buchtitel und trifft damit ein Gefühl, das viele Menschen kennen. Wenn man genau hinschaut, geschieht diese Entfremdung von uns selbst, geschehen also auch die meisten Fehler unseres Lebens nicht aus böser Absicht, sondern aus Angst und/oder aus Minderwertigkeitsgefühlen. Sie verführen zu Unwahrhaftigkeit und zu falscher Anpassungsbereitschaft. Außerdem verlocken sie dazu, auf vielfältige Weise kompensiert zu werden: durch Macht und Einfluss zum Beispiel, durch unnützen Konsum, durch die Abwertung anderer …
Der Evangelist Markus verheißt bereits mit den ersten Worten seines Evangeliums, dass in Jesus das Gegenprogramm erfahrbar wird, nämlich Freiheit und Weite. Die Schriftzitate, die Markus nutzt, erinnern nicht nur an die Befreiung des Volkes Israel aus der Katastrophe des Babylonischen Exils, sondern auch an die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten. Damit bilden die beiden größten und glücklichsten Rettungstaten Gottes in der Geschichte Israels den Kern des Anfangs von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Diesen befreienden Neuanfang setzt Johannes der Täufer nun regelrecht in Szene.³ Denn wer in der Taufe hindurchgeht durch die Fluten des Jordan, der darf wie Israel am Schilfmeer alles hinter sich lassen, was niederbeugt und klein hält, was unfrei und unmenschlich macht.
Das klingt gut, mag man einwenden, doch wie soll das Wirklichkeit werden, wenn unsere größte Not womöglich nicht unsere fehlende Moral, sondern unsere Angst ist, im Tiefsten nichts wert zu sein? Es kann ja niemand per Willensentschluss entscheiden, sich von nun an wertvoll zu fühlen.
Auch hier hilft es, die ersten Worte des Markusevangeliums sehr genau zu lesen. Denn wo immer das Wort „Anfang so dezidiert auftaucht, wie Markus es nutzt, stand kundigen Bibelleserinnen und -lesern der allererste Anfang vor Augen, und das ist die Schöpfungstat Gottes und seine tiefe Freude an allem Geschaffenen. „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe: Es war sehr gut!
(Gen 1,31)
„Bei mir bist du schön!, heißt es in einem bekannten Liedtitel. „Bei mir bist du schön!
, sagt auch Gott. Unter diesen liebenden Blick wollte Jesus alle Menschen zurückholen. Er wird mit Heiligem Geist taufen, sagt Johannes dazu, denn Heiliger Geist ist das Wirken der Liebe Gottes in unseren Herzen. Es führt zuallererst in die Selbstannahme, die der Religionsphilosoph Romano Guardini in seinem gleichnamigen Büchlein nicht als Egoismus, sondern als Tugend bezeichnete. Denn aus der Selbstannahme folgen Gelassenheit und Frieden, auch die anderen anzunehmen, wie sie sind.
Hab also den Mut und die Geduld, deine unwahren Selbstbilder wahrzunehmen, um sie mehr und mehr loszulassen. Folge dem Ruf des Geistes in deinem Herzen und kehre immer wieder zurück unter den liebevollen Blick, mit dem Gott dir sagt: „Eigentlich bist du ganz anders – eigentlich bist du schön!"
³Vgl. N. T. Wright, Markus für heute, 16.
Mitten unter euch steht einer, den ihr nicht kennt.
(Joh 1,26)
Gottes Unmittelbarkeit
Dritter Adventssonntag: Joh 1,6–8.19–28
Offensichtlich ist der Tempelbetrieb in Jerusalem auf Johannes’ Wirken am Jordan aufmerksam geworden, und so werden Priester und Leviten geschickt, um diesen merkwürdigen Täufer zu begutachten. Natürlich kennen sie sich in Sachen Messiaserwartung aus. Deshalb fragen sie nach Elija und nach dem Propheten, der im Buch Deuteronomium (Dtn 18,15) verheißen ist und mit Mose assoziiert wurde. Beide galten als Vorläufer des Messias. Ein Johannes der Täufer hingegen war in den religiösen Erwartungen des antiken Judentums gar nicht vorgesehen. Er irritiert und soll sich legitimieren: „Wer bist du? Wir müssen denen, die uns gesandt haben, Antwort geben." (Joh 1,22)
Johannes antwortet mit einem Jesaja-Zitat, das den zweiten Exodus, den Auszug aus dem Babylonischen Exil, verheißen hatte. Es liegt also tatsächlich Großes und Befreiendes in der Luft, und eigentlich müsste es die Priester und Leviten geradezu elektrisieren. Doch merkwürdig: Es interessiert sie gar nicht weiter, denn gerade jetzt, wo das Gespräch spannend werden könnte, lässt der Evangelist Johannes sie schweigend abtreten. Damit verdeutlicht er die Worte seines Prologs: „Er [Jesus] kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf." (Joh 1,11)
Der Konflikt, der sich hier von Anfang an abzeichnet, betrifft nicht das jüdische Volk als Ganzes, sondern seine religiösen Autoritäten. Im Gegensatz zu ihnen hatte Johannes auf eine Priesterkarriere in der Nachfolge seines Vaters Zacharias verzichtet und war stattdessen in die Wüste gegangen. Von dorther, aus dem Erfahrungsraum existenzieller Gottesbegegnung, bereitet er dem Logos, dem Wort Gottes, das mit Jesus in die Welt kommen will, den Weg.
Diese Perspektive ist bemerkenswert: Der Gott Israels bedient sich nicht klerikaler Gelehrsamkeit, damit Menschen zum Glauben kommen. Er setzt auch nicht auf die, die meinen, qua kultischer Legitimation besonders fromm oder wichtig zu sein. Er nimmt solche in Dienst, die sich ihm existenziell und unmittelbar zur Verfügung stellen und die sich dessen bewusst sind, wer sie nicht sind. Die erste Antwort des Johannes auf die Frage, wer er sei, ist eine Verneinung: „Ich bin nicht der Messias".
Was an Johannes dem Täufer sichtbar wird, ist die gleichermaßen befreiende wie herausfordernde Tradition des gesamten Ersten Testaments, in dem JHWH kein Gott des religiösen Status quo ist, kein Gott, der in Tempeln aus Stein angebetet, von Priestern verwaltet und mit strenger Gesetzesobservanz verehrt werden will. JHWH ist ein Gott auf dem Weg, ein Gott lebendiger Beziehung und Begegnung, wie Jesus selbst ihn abbilden wird.
„Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt, sagt Johannes deshalb den Pharisäern, die zwar nicht zum Tempel zählten, die aber in der Gefahr standen, die innere Gottesbeziehung mit dem Befolgen äußerer Vorschriften zu verwechseln. Damit hatten auch sie – ähnlich wie der Jerusalemer Tempelbetrieb – Gott selbst viel zu oft im Wege gestanden. Und das gilt bis heute: Wer Gott in Kirchen, Traditionen und religiösen Gesetzen einsperren und verwalten will, wer sich als „Mittler
zwischen ihm und seinen Menschen aufspielt, kennt ihn nicht. Denn „nur einer ist Mittler: Christus. (1 Tim 2,5) In ihm ist Gott jedem Menschen unmittelbar nahe. Der Stimme Gottes leiht Johannes am Jordan die eigene Stimme, damit die Menschen, die zu ihm kommen, die Stimme Gottes in ihrem Inneren neu zu hören lernen. „Ebnet den Weg für den Herrn!
, das kann jeder Mensch nur ganz persönlich, indem er oder sie zu leben beginnt, was für ihn oder sie von Gott her „stimmig" ist. Gemessen am ersttestamentlichen Befund ist das zwar kein grundlegend neues Religionsverständnis, aber doch ein Neubeginn, der nötig ist, wenn das Reich Gottes nahekommt, wie Jesus es verkünden wird.
Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir.
(Lk 1,28)
Der Himmel ist in dir
Vierter Adventssonntag: Lk 1,26–38
Man kann die Erzählung von der Verkündigung und die Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria als einmaliges wunderbares Geschehen lesen und es mit dem Staunen bewenden lassen, dass so etwas Großes vor 2000 Jahren möglich war. Man kann aber auch dem Rat des heiligen Ignatius von Loyola folgen und sich selbst in dieses Evangelium hineingeben. Dann wird die Erzählung von der Menschwerdung Gottes zu unserer eigenen Geschichte, und im Verständnis der christlichen Mystiker ist sie das auch. Maria – das sind wir selber, und die Geburt, um die es geht, ist Gottes Geburt in uns. Der Mystiker Angelus Silesius formulierte es so: „Und wär Gott tausendmal in Betlehem geboren und nicht in dir, du bliebest hoffnungslos verloren."
Der Evangelist Lukas erzählt, Maria lebte in einer „Stadt in Galiläa namens Nazaret. Bereits das ist wichtig, denn nicht erst in der Wüste oder auf einsamen Bergen, nicht erst in Klöstern und Klausen wird Gott vernehmbar, sondern da, wo du gerade lebst: „Halt an, wo läufst du hin! Der Himmel ist in dir. / Suchst du ihn anderswo, du fehlst ihn für und für
, so noch einmal Angelus Silesius. In der Tiefe deiner selbst wird Göttliches erfahrbar, heißt das, wo immer du nach innen zu hören und Gottes Stimme zu erlauschen beginnst.
Doch lass dich nicht verwirren, wenn du zuallererst das chaotische Stimmengewirr deiner eigenen „inneren Stadt" wahrnehmen wirst: Gefühle, Gedanken, Gesprächsfetzen, der Streit vom Vortag, Unerledigtes, Zukunftsängste … All das wird laut in der Stille und am liebsten liefe man fort. Doch so