Die Waldorfpädagogik: Eine Einführung in die Pädagogik Rudolf Steiners
Von Johannes Kiersch
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Über dieses E-Book
Diese kompakte Einführung in die Waldorfpädagogik hat sich seit Jahrzehnten bewährt - nicht zuletzt deshalb, weil der erfahrene Autor sie immer wieder aktualisiert hat, um gesellschaftliche Entwicklungen aufzugreifen und die neueste Fachliteratur zu berücksichtigen. So auch bei dieser gründlich überarbeiteten, ganz auf den letzten Stand gebrachten Neuauflage.
Johannes Kiersch
Johannes Kiersch, geboren 1935, studierte Anglistik, Geschichte und Pädagogik in Berlin und Tübingen. Er war Waldorflehrer in Frankfurt am Main und Bochum und langjährig verantwortlich für die Lehrer:innenbildung am Institut für Waldorfpädagogik in Witten-Annen.
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Buchvorschau
Die Waldorfpädagogik - Johannes Kiersch
JOHANNES KIERSCH
DIE WALDORFPÄDAGOGIK
Eine Einführung in die Pädagogik Rudolf Steiners
Verlag Freies Geistesleben
Inhalt
Vorwort
1. Waldorfschulen in veränderter Weltlage
1.1 Begrenzte Freiheitsrechte im Bildungswesen
1.2 Der Staat als Freund und Helfer – im Dienst schulfremder Interessen
1.3 Aufklärung heute
2. Lernen in der Waldorfschule
2.1 Klassische Themen des Waldorf-Lehrplans
2.2 Welches Bild des Menschen liegt zugrunde?
2.3 Vom Fühlen aus erziehen und lehren
2.4 Gesundheit fördern
2.5 Wie organisiert sich eine Waldorfschule?
3. Bedenken und Einwände
4. Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft
5. Wie geht es weiter?
Anmerkungen
Kommentiertes Literaturverzeichnis
Einführende Darstellungen / Anthroposophische Bewegung / Werke Rudolf Steiners / Rudolf Steiners Leben / Memoiren / Das philosophische Werk / Grundlegende anthroposophische Schriften / Esoterik / Das künstlerische Werk / Die Soziallehre / Pädagogische Anthropologie / Die Wesensgliederlehre / Die Temperamente / Die Dreigliederung des Seelenlebens / Die Sinneslehre / Medienpädagogik / Rudolf Steiners Lehrerkurse / Vorschulerziehung / Pädagogik des Schulalters / Lehrplanfragen / Zu einzelnen Unterrichtsgebieten / Heilpädagogik / Schulorganisation / Rechtsfragen / Lehrerbildung / Geschichte der Waldorfpädagogik / Wissenschaftliche Diskussion / Rassismus- und Antisemitismus-Vorwürfe
Vorwort
In den letzten Jahren hat sich die Waldorfpädagogik weiter kräftig ausgebreitet. Es gibt jetzt weltweit über tausend Schulen, fast zweitausend Kindergärten und zahlreiche heilpädagogische Institutionen, die nach den Ideen Rudolf Steiners arbeiten.¹ Zugleich hat sich die bunte Landschaft der Publikationen darüber in kurzer Zeit wie noch nie zuvor erweitert. Das bewährte kommentierte Literaturverzeichnis im Anhang dieses Buches wurde dementsprechend auf den neuesten Stand gebracht. Ich danke Edwin Hübner für hilfreiche Ratschläge.
Die hier vorgelegte aktualisierte Neufassung richtet sich an interessierte Eltern, aber auch an eine immer noch überwiegend skeptische Welt pädagogischer Experten, an neugierige Studenten und nicht zuletzt an Journalisten, denen an einer seriösen Berichterstattung über das rätselhafte Phänomen des Steinerschen Lebenswerks und seine praktischen Auswirkungen gelegen ist. Die gegenwärtige Weltlage bedroht freie pädagogische Initiativen mehr denn je. Darüber ist nachzudenken.
Bochum, im März 2022 Johannes Kiersch
1. Waldorfschulen in veränderter Weltlage
Die Pädagogik der Waldorfschulen wird gegenwärtig, auf sehr ungewöhnliche Weise, kontrovers beurteilt. Auf den ersten Blick wahrgenommen, scheint sie nicht viel mehr zu sein als eine marginale Variante der allgemein bekannten «Reformpädagogik», wie sie sich aus vielerlei Impulsen einer umfassenden Lebensreform-Bewegung zu Beginn des vorigen Jahrhunderts besonders in Deutschland entwickelt hat. Mag Rudolf Steiner auch unter die Pioniere der Koedukation, des Einheitsschul-Gedankens, des exemplarischen Lernens nach dem Prinzip des Epochen-Unterrichts zu rechnen sein, mag er das Lernen mit allen Sinnen, das Lernen durch Kunst und durch praktische Arbeit als einer der ersten gegen den Widerstand der Tradition vertreten haben – das alles findet sich ähnlich auch bei seinen pädagogischen Nachbarn, bei Hermann Lietz, Maria Montessori, Célestin Freinet, in der deutschen Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung, in den sozialistischen Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen der Weimarer Republik. Gibt es darüber hinaus signifikante Besonderheiten in der Pädagogik Steiners und seiner Nachfolger? Wer dieser Frage nachgeht, trifft auf diffuse Bilder, Klischee-Vorstellungen («Waldorfschüler lernen ihren Namen tanzen», «Waldorfschüler dürfen nicht Fußball spielen», «Waldorfschulen sind gut für die Fußkranken unseres Bildungssystems»), allerlei Vorurteile und Missverständnisse. Wer bei der Erziehungswissenschaft anfragt, bemerkt erstaunliche Informationsdefizite, Diskursblockaden, emotional aufgeheizte Debatten. Das alles gab es schon länger. Aber es erscheint jetzt durch gewisse Veränderungen der allgemeinen Weltlage in neuem Licht. Wir beginnen deshalb mit einem Blick auf die veränderten Rahmenbedingungen, unter denen die Waldorfpädagogik heute zu arbeiten hat.
1.1 Begrenzte Freiheitsrechte im Bildungswesen
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland durch eine grundlegende Verfassungsreform eine Neuordnung aller gesellschaftlichen Verhältnisse eingeleitet. Das Grundgesetz befreite das Wirtschaftsleben von staatlichen Zwängen, gab Raum frei für unternehmerische Initiativen und ermöglichte dadurch einen überraschend erfolgreichen Wiederaufbau – und es sicherte im Bereich des Rechtslebens zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands die Grundrechte. Für das Schul- und Bildungswesen hingegen gab es solche Freiheiten nicht. Die nach dem Zusammenbruch von 1945 allgemein akzeptierte Notwendigkeit, ein irregeleitetes Volk von Grund auf neu zu erziehen und mit den Idealen aufgeklärter Demokratie bekanntzumachen, schien ein freies Geistesleben für Lehrer und Kinder, jedenfalls zunächst, nicht zuzulassen. So blieb das zentralistische System staatlicher Schulverwaltung, das sich seit der Bismarck-Zeit in Deutschland etabliert und während der nationalsozialistischen ebenso wie in der bolschewistischen Diktatur der Ostblockstaaten als systemkonform erwiesen hatte, weiter bestehen.
Glücklicherweise gestand das Grundgesetz den Schulen in freier Trägerschaft eine Existenznische zu. Nach Artikel 7 Abs. 4 sind sie zu genehmigen, wenn sie «in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen». Aber zugleich wurden diese Schulen mit wirksamen Reizworten von vornherein diskriminiert. Sie waren «privat» und nur ein «Ersatz» für die «öffentlichen» Einrichtungen des Regelsystems. Die hieran gebundenen Landesgesetze und Verwaltungsvorschriften haben dieses klimabildende Vokabular bis heute beibehalten. Zwar konnten die Schulen in freier Trägerschaft ihre bescheidenen Freiräume seither in einem anhaltenden juristischen Kleinkrieg erweitern und sichern. Umfassende Freiheit für das Bildungswesen haben sie damit aber nicht erreicht. Damit ist völlig in Vergessenheit geraten, dass die gegenwärtig immer noch anhaltende Verfestigung des Staatsschulmonopols eine vorübergehende historische Erscheinung und keineswegs selbstverständlich oder gottgewollt oder gar notwendig ist.
Artikel 7 Abs. 4 GG: Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.
Noch zur Goethezeit, als das staatliche Prüfungswesen zunächst in sehr lockerer Form zum ersten Mal institutionalisiert und – damals aus guten Gründen – zentrale Schulverwaltungen eingerichtet wurden, war eine lebhafte Diskussion darüber im Gang, wo die Grenzen der staatlichen Schulaufsicht oder Schulverwaltung zu liegen hätten. Führende Denker wie Wilhelm v. Humboldt und sein Mitarbeiter J.W. Süwern, Herbart, Schleiermacher, der viel zu wenig bekannte Karl Mager, später vor allem F.W. Dörpfeld, traten für weitgehende Selbstverwaltung und lokale Autonomie im Bildungswesen ein und wollten die Zentralorgane des Staates auf vorübergehende subsidiäre Notmaßnahmen beschränkt sehen. «Freiheit des Lehrers, Lehrfreiheit, Selbstständigkeit von Schule und Lehrer, kollegiale Schulleitung, Verselbstständigung der Schule nach dem Vorbild der Rechtspflege, begrenzte Zuständigkeit des Staates in Fragen innerer Schulangelegenheit sind Gesichtspunkte, die immer wiederauftauchen.»² Unvergleichlich mehr Zutrauen in die Initiativkraft und Verantwortungsfähigkeit der einzelnen Bürger und ihrer nach örtlichen Bedingungen differenzierten Gemeinschaftseinrichtungen war damals gegeben als heute.
Und auch noch nach den beiden Weltkriegen gab es produktive Debatten. Das