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Simón Bolívar: Die Lebensgeschichte des Mannes, der Lateinamerika befreite
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eBook304 Seiten3 Stunden

Simón Bolívar: Die Lebensgeschichte des Mannes, der Lateinamerika befreite

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Über dieses E-Book

Außer Che Guevara ist kein anderer lateinamerikanischer Freiheitskämpfer so oft abgebildet, verklärt und umgedeutet worden wie Simón Bolívar. Norbert Rehrmanns Standardwerk über die Ikone der Rebellion, den brutalen Kriegsherrn – und vor allem den langlebigen politischen Mythos.

Als Hugo Chávez sein Land im Jahr 2000 in »Bolivarische Republik Venezuela« umtaufte, berief er sich explizit auf das Erbe des »Libertador«, des Amerika-Befreiers Simón Bolívar (1783–1830). Doch worin bestand das Projekt Bolívars – und ist es kompatibel mit der Politik des 21. Jahrhunderts?

Norbert Rehrmann unterzieht die ideologischen Grundlagen Bolívars einer kritischen Würdigung, schildert, wie er zum Präsidenten von vier Staaten werden konnte, und untersucht die Bolívar-Darstellungen in der lateinamerikanischen Kunst und Literatur. Doch bleiben auch die Schattenseiten dieses »Helden« der lateinamerikanischen Emanzipation nicht unerwähnt – ein unerlässliches Buch für alle, die die Geschichte und Gegenwart Lateinamerikas besser verstehen wollen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum23. März 2023
ISBN9783803143761
Simón Bolívar: Die Lebensgeschichte des Mannes, der Lateinamerika befreite

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    Buchvorschau

    Simón Bolívar - Norbert Rehrmann

    Außer Che Guevara ist kein anderer lateinamerikanischer Freiheitskämpfer so oft abgebildet, verklärt und umgedeutet worden wie Simón Bolívar.

    Doch worin bestand das Projekt des »Libertador« – und ist es kompatibel mit der Politik des 21. Jahrhunderts?

    Norbert Rehrmanns kritisches Standardwerk über eine Ikone der Rebellion, einen brutalen Kriegsherrn und langlebigen politischen Mythos – ein unerlässliches Buch für alle, die Geschichte und Gegenwart Lateinamerikas besser verstehen wollen.

    Norbert Rehrmann

    Simón Bolívar

    Die Lebensgeschichte des Mannes,

    der Lateinamerika befreite

    Verlag Klaus Wagenbach Berlin

    Inhalt

    Von Helden, Antihelden und ihren Verehrern:

    Prolog

    Das koloniale Rien ne va plus:

    Gärstoffe der lateinamerikanischen Unabhängigkeit

    Der Émile aus Caracas:

    Bolívars Kindheit und Jugend

    Napoleon als Leitstern:

    Europäische Lehr- und Wanderjahre

    »Lang lebe Ferdinand VII.!«:

    Der spanische König als Patron der Unabhängigkeit

    Krieg gegen Spanien und die Natur:

    Der Unabhängigkeit erster Akt

    »Guerra a muerte!«:

    Der Unabhängigkeit zweiter Akt

    Die ›Rassenstrategie‹:

    Der Unabhängigkeit dritter Akt

    Von Boyacá nach Carabobo:

    Stationen des Sieges

    Zwischen Befreiung und Eroberung:

    Der Feldzug nach Ecuador und Peru

    Von Lima nach La Paz:

    Bolivien entsteht

    Im Zenit der Macht:

    Präsident von drei Ländern

    »Der General in seinem Labyrinth«:

    Machtverlust und Tod

    ›Heroischer Monotheismus‹:

    Der Bolívar-Kult in Venezuela

    »Der Bürgerkrieg der Toten«:

    Bolívar in Lateinamerika

    Vom liberalen Freiheitskämpfer zum ›Führer‹-Idol:

    Bolívar in Deutschland

    Geisterbeschwörung:

    Epilog

    Anmerkungen

    Bibliographie

    Bildnachweis

    Von Helden, Antihelden und ihren Verehrern: Prolog

    »Und dann beachten Sie, was die Zeit in solchen Fällen tut; wie ein Mann, der zu Lebzeiten groß war, zehnmal größer wird, wenn er tot ist. Was für eine enorme camera obscura mit Vergrößerungswirkung ist doch die Tradition!«

    THOMAS CARLYLE, On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History¹

    »… das Maximum an Ruhm, der jemals einem Amerikaner, lebendig oder tot, zuteil wurde …«

    GABRIEL GARCÍA MÁRQUEZ, Der General in seinem Labyrinth²

    »Im modernen Lateinamerika«, schreiben Ben Fallaw und Samuel Brunk, »wimmelt es von Helden«.³ Wie viele es auch geben mag: Im kontinentalen Ranking politischer Megagestalten nimmt Simón Bolívar, ›El Libertador‹, seit knapp zweihundert Jahren den Spitzenplatz ein – völlig zu Recht, wie es scheint. Schließlich vollbrachte der militärische Befreier und politische Baumeister halb Südamerikas im jahrelangen Kampf gegen die Spanier ein Titanenwerk, das die Welt veränderte. Obendrein besaß der ›lateinamerikanische Napoleon‹, wie ihn viele nannten, ein intellektuelles Format, dem seine Mitstreiter nicht gewachsen waren. Bestens vertraut mit den antiken und zeitgenössischen Philosophen der Alten Welt, schrieb er politische Traktate, kühne Staatsverfassungen und kluge Essays, begeisterte mit rhetorischen Talenten und glänzte mit einem Stil, der sein riesiges Œuvre auch heute noch zu einem Lesevergnügen macht. Selbst das Liebesleben des siegreichen Generals und Präsidenten mehrerer Länder bot Nahrung für den Heldennimbus. Vom Schlachtfeld in die Betten: Das Heer von Frauen – Gelegenheitsgeliebten, verheirateten Damen der besseren Gesellschaft, Prostituierten und einigen etwas längeren Beziehungen –, mit dem sich Bolívar amüsierte, dürfte selbst auf dem Heimatkontinent der Machos rekordverdächtig sein. Eine historische Ausnahmefigur, deren ungebrochener Nachruhm ihren tatsächlichen Meriten gerecht wird?

    Verfügte auch Bolívar, wie die Helden des magischen Realismus in der lateinamerikanischen Literatur, über die Fähigkeit, sein Grab zu verlassen, dann würde ihn die Prominenz, die er in Lateinamerika noch immer genießt, aber wohl trotzdem in Erstaunen versetzen. Wundern würde er sich zunächst darüber, dass sich dieses Grab, mit allen Insignien eines Helden, ja eines Heiligen, mitten in Caracas, seiner Geburtsstadt befindet. Hatten ihn seine Landsleute nicht als vogelfreien Verräter ins Exil getrieben – nach Kolumbien –, wo er wenige Jahre später, arm und verbittert, gestorben war? Dennoch befindet er sich in einer prächtigen Gruft im geliebten Heimatboden und wird seit Generationen, noch dazu von allen politischen Lagern, als Padre de la Patria (›Vater des Heimatlandes‹) gefeiert. Seit in Miraflores, dem Präsidentenpalast in Caracas, Hugo Chávez regiert, avancierte der berühmteste Sohn des Landes sogar zum Namensgeber der ›Bolivarischen Republik Venezuela‹ – nach Bolivien nun der zweite Staat, der nach ihm benannt wurde. Doch damit nicht genug: Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten von Liberalen und Konservativen, Diktatoren und Demokraten gleichermaßen zur nationalen Ikone verklärt, wimmelt es im heutigen Venezuela geradezu von ›bolivarischen Zirkeln‹, ›bolivarischen Gewerkschaften‹, ›bolivarischen Schulen‹, ›bolivarischen Universitäten‹ … Für viele besonders überraschend, dass sich der reiche Aristokrat und Liebhaber autoritär-elitärer Regierungsformen obendrein zum Bannerträger eines ›Sozialismus des 21. Jahrhunderts‹ mauserte. Könnte er heutzutage den venezolanischen Präsidentenpalast besuchen – er verstünde wohl die Welt nicht mehr.

    Irritieren würde Bolívar nicht allein sein rot lackiertes Konterfei, das urbi et orbi das Land seiner Väter ziert. Wundern dürfte ihn auch, dass er selbst jenseits der Landesgrenzen als Befreier verehrt wird. In Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien, allesamt Länder, die er den verhassten Spaniern in verlustreichen Kämpfen entrissen hatte, steht sein Name noch immer hoch im Kurs. Dabei hatte man ihn zu Lebzeiten in den südlichen Andenländern als ungeliebten Diktator und Ausländer mit Argusaugen beobachtet. Nach seinem frühen Tode galt er aber auch dort als Unterpfand historischer Grandezza. Nur im Cono Sur, in Chile und den Río de la Plata-Staaten, die der Argentinier José de San Martín befreit hatte, wurde sein Ruf, ähnlich wie in Mexiko, von regionalen Heroen überschattet. Die Diadochenkämpfe der Unabhängigkeitskriege, vor allem die Rivalitäten zwischen Bolívar und San Martín, mündeten dort in ein Heldengedenken, das den Libertador klar auf die Plätze verwies, gelegentlich sogar ›verunglimpfte‹: Als der chilenische Maler Juan Dávila 1994 ein Porträt ausstellte, das Bolívar, hoch zu Rosse, als Transvestiten karikierte – das Bild war auf der documenta XII zu sehen–, hagelte es Proteste aus den ›Bolívar-Ländern‹, begleitet von ernsten diplomatischen Verstimmungen. Das visuelle Sakrileg des Chilenen hätte der große Tote, wäre ihm ein Graburlaub vergönnt, aber wohl mit Gelassenheit aufgenommen, schließlich war er an derlei Querelen zwischen den Lateinamerikanern längst gewöhnt. Verblüfft hätte ihn allerdings ein Blick nach Norden, über die natürliche Grenze des Río Grande hinaus. Denn selbst in den Vereinigten Staaten – in Washington –, von denen er zu Lebzeiten das Schlimmste erwartet hatte, stieße er auf eine Bolívar-Statue, die, nur unweit vom Weißen Haus, seinen ewigen Ruhm verkündet. Wer wollte die Kaprizen des Weltenlaufs verstehen?

    War Kolumbus, der Entdecker Amerikas, von seiner letzten Reise in die Neue Welt in Ketten zurückgekehrt und erst post mortem zum Helden verklärt worden, so wurde auch der Befreier des Halbkontinents, erst nachdem er das Zeitliche gesegnet hatte, zu einer historischen Lichtgestalt, nicht selten mit überirdischen Fähigkeiten. Vor allem im 19. Jahrhundert sahen die ›Heldenforscher‹ in solchen Megafiguren der Universalhistorie – Cäsar, Washington, Napoleon, mit denen Bolívar oft verglichen wurde – eine »Heroarchy«, die sie, so Thomas Carlyle, als eigentlichen Kraftquell historischen Fortschritts besangen: »Die Weltgeschichte«, so Carlyles Hymne auf die militärischen und geistigen Giganten der Vergangenheit, »war die Biographie Großer Männer.«⁴ Keine Einzelmeinung in einem Jahrhundert, dem es auch an Helden des Geistes bekanntlich nicht mangelte. In Nietzsches »Genialen-Republik« verständigen sich die »Riesen«, ungestört »durch mutwilliges lärmendes Gezwerge«,⁵ in einem exklusiven Zirkel untereinander. Dabei erschienen die heroischen oder genialen Attribute, die solchen Männern – natürlich handelte es sich ausschließlich um eine maskuline Spezies – nachgesagt wurden, als gleichsam göttliches Manna, mit den Worten Carlyles um einen »natürlichen Glanz durch das Geschenk des Himmels«.⁶ Alles an diesen Ausnahmeerscheinungen passte zusammen, »valour« entsprach »value«⁷ und »right« korrespondierte mit »might«.⁸ Als genauso selbstverständlich empfand der Autor die Verehrung des Helden, seine »Bewunderung« und, natürlich, die »Unterwerfung« unter seinen Willen.⁹ Gehörte Bolívar zu dieser Spezies? Oder war er nicht eher, wie der Mexikaner Leopoldo Zea zu sehen vermeinte, ein »Antiheld«, dem es, im Unterschied zu Alexander, Cäsar oder Napoleon, nicht um Eroberung, sondern um »Freiheit« ging?¹⁰

    Juan Dávila: ›Der Befreier Simón Bolívar‹ (1994), Öl auf Leinwand auf Metall

    Paradoxerweise kam es selbst Zea, völlig zu Recht als großer Mann der lateinamerikanischen Kulturphilosophie geschätzt, nicht in den Sinn, seinen ›Antihelden‹ vom Sockel zu stoßen, geschweige denn, dessen allseits bewunderte Meriten plausibel zu erklären. Was also ist eigentlich ein ›Held‹, worin bestehen seine außerordentlichen Fähigkeiten, die die Fußgänger der Geschichte, Nietzsches »Gezwerge«, angeblich nicht besitzen? An Versuchen, dieser exklusiven Spezies wissenschaftlich auf die Spur zu kommen, hat es natürlich nie gefehlt. Selbst Carlyle, der seine Helden als quasi göttliche Sendboten verklärte, attestierte ihnen die eher irdische Fähigkeit, ihre Gefolgschaft mühelos auf »Herrschaft und Gehorsam« einzuschwören.¹¹ Ähnlich sah es Wilhelm Ostwald, Autor eines voluminösen Buches über Grosse Männer, der »die unmittelbare und persönliche Beeinflussung anderer Menschen« als Hauptcharakteristikum solcher Männer empfand.¹² Im Unterschied zu den gleichsam himmlischen Eigenschaften von Carlyles Helden versuchte Ostwald, Nobelpreisträger für physikalische Chemie, die Fauna der Heroen mit den ›Gesetzen der Energetik‹ zu erklären: »Ein großer Mann ist ein Apparat«, verriet er seinen Lesern, »der große Leistungen verrichten kann.«¹³ Vielleicht waren es unfreiwillig humoristische Einlagen der zitierten Art, die, etwa zur gleichen Zeit, Max Weber bewogen, die ›charismatische Herrschaft‹ mit der soziologischen Lupe zu betrachten. Charisma, Synonym einer »außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe«, bedeute, dass die mit solchen Gaben ausgestattete Person »als der innerlich ›berufene‹ Leiter der Menschen gilt und dass sie sich ihm nicht kraft Sitte oder Satzung fügen, sondern weil sie an ihn glauben.«¹⁴ Warum aber glauben sie an ihn?

    Auch in Webers suggestiver Formel, allemal besser geeignet, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, bleibt freilich noch die Frage offen, worin genau diese Eigenschaften bestehen. Schließlich ist Charisma eigentlich nur das, was einen Helden heldenhaft erscheinen lässt – Ausstrahlung, vielleicht auch nur geschickte Inszenierung. Sind es also außergewöhnliche Talente, vor allem auf militärischem Terrain, gepaart mit intellektuellen und rhetorischen Gaben, nebst ›auratischen‹ Accessoires – Physiognomie, Gestik, Stimme –, die den Mann zu einem großen machen? Oder besteht die Wirkung des Charismas gerade darin, wie Samuel Brunk und Ben Fallaw schreiben, dass sich die Eigenschaften dieser eher raren Selektokratie nur schwer bestimmen lassen?¹⁵ Sicher scheint zumindest, dass deren außerordentliche Fähigkeiten, wenn sie denn existieren, stets eines Gegenpols bedürfen, der ihre Wirkung erst wirksam macht. Mit den Worten Brunks und Fallaws: »Um einen Helden zu verstehen, müssen wir die Bedingungen erforschen, die Charisma in jener Gemeinschaft hervorbringt, in der der Held operiert«. Die ›Heldensoziologie‹, folgern die beiden Autoren, habe es deshalb mit nationalen Mythen zu tun, mit ›Imagined Communities‹, wie sie Benedict Anderson und andere Nationalismusforscher untersucht haben. So diene die Erforschung des Helden vor allem als »Fenster«,¹⁶ das gute Einblicke in die Gesellschaft biete, die ihn als Helden verehrt. Ein durchaus fruchtbarer Ansatz, wie John Chasteen im selben Buch just am Beispiel Bolívars illustriert. Ihm zufolge waren es weniger die militärischen Leistungen des Autodidakten-Generals, die sein Charisma begründeten, sondern dessen »hartnäckige und dauerhafte« Visionen eines befreiten Amerikas, plus den Talenten eines »versierten Kommunikators, der der Kultivierung seines eigenen Images extrem große Aufmerksamkeit schenkte«.¹⁷ Obwohl der General Bolívar dabei etwas zu kurz kommt, eine plausible Erklärung.

    So gesehen ließen sich Heldenbiographien, die vorliegende inklusive, gleichsam als Extrembiographien verstehen. Lange Zeit als antiquierte Gattung verpönt, kann ihre Stärke deshalb darin liegen, das komplexe Wechselspiel zwischen Großen Männern und den Verhältnissen, in denen sie agier(t)en, verständlicher zu machen. Vorausgesetzt, dem Autor gelingt es, die »Tatsache[n] um den Kern der Individualität herum [zu] organisieren«, wie ein deutscher Bolívar-Biograph seine Arbeitsweise charakterisierte.¹⁸ Psychologisch sensible Einblicke in die Persönlichkeitsstruktur des Protagonisten, in sein familiäres und soziales Umfeld, gehören ebenso dazu wie seine politischen Überzeugungen und die kritische Bilanz seines historischen Leistungskontos. Gelingt diese Synthese, dann ersetzen Biographien zwar immer noch keine breit angelegten Sozial- oder Kulturgeschichten. Sie haben aber, wie in den besten Beispielen historischer Romane, den unbestreitbaren Vorteil, die »archäologische Genauigkeit« (Georg Lukács) der eher fakten- und ereignisorientierten Historiographie mit einem human touch zu bereichern, der die Erkenntnis allemal fördert. Schließlich haben selbst marxistische Autoren, die den ›subjektiven Faktor‹ eher stiefmütterlich behandelten, die irritierende persönliche Dominanz des Amerika-Befreiers registriert: »Die Persönlichkeit Bolívars und die Revolution von 1811/12«, schrieb gar ein DDR-Autor, »sind untrennbar.«¹⁹ Natürlich besteht dabei die Gefahr, den Heldenmythen, wie sie oben angedeutet wurden, bereits durch das biographische Genre als solches auf den Leim zu gehen. Die ›biographische Illusion‹ (Pierre Bourdieu) kann den Autor etwa leicht dazu verführen, die nötige Distanz zu seinem ›Helden‹ aufzugeben – eine ›Biographenkrankheit‹, von der augenscheinlich auch einige der besseren Bolívar-Biographen befallen wurden: In John Lynchs Simón Bolívar (2006), nicht nur die neueste, sicher auch die am besten dokumentierte Biographie, steht der Held, trotz vieler Blessuren und Teildemontagen, am Ende doch wieder auf seinem Sockel, wenn auch ein paar Zentimeter niedriger als anderswo.

    Ein wirksames Gegenmittel, das auch in der vorliegenden Biographie zur Anwendung kommt, besteht in der kritischen Analyse der Rezeptionsgeschichte des Helden. Gerade im Falle Bolívars, dessen quasireligiöse Verehrung, zumindest in seinem Geburtsland, Dimensionen angenommen hat, die im internationalen Vergleich vermutlich ohne Beispiel sind, ist der Blick auf die wechselvolle Geschichte der Heldenverehrung nachgerade ein Muss. Ermutigend wirkt dabei, dass venezolanische Autoren, allen voran der große Historiker Germán Carrera Damas, zu den kulturwissenschaftlichen Pionieren gehörten. Seine bahnbrechende und mutige Studie über den Culto a Bolívar, im vorliegenden Buch oft zitiert, fand inzwischen zahlreiche Nachahmer, auch unter namhaften Schriftstellern: Der General in seinem Labyrinth, ein ziemlich nüchternes Porträt aus der Feder des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez, löste nicht umsonst heftige Kontroversen aus, selbst im Heimatland des Schriftstellers, das Bolívar einst mit Venezuela vereinte. Kontroversen, die demnächst, wenn sich der Beginn der Unabhängigkeitskriege im nördlichen Südamerika zum zweihundertsten Mal jährt, sicher eine Neuauflage erleben werden. Hierzulande könnte der centenario, dessen überwiegend festliche Vorbereitungen bereits auf vollen Touren laufen, vielleicht dazu beitragen, den eher Unbekannten aus der historischen Versenkung zu holen – wo er sich, wie ein kleines Kapitel über seine deutsche Rezeption illustriert, übrigens nicht immer befand.

    Bei soviel Fakten und Fiktionen stellt sich besonders dringlich die Frage, wem der kritische Biograph eigentlich noch trauen darf. Besteht nicht die Gefahr, wie kürzlich Christopher B. Conway in einer lesenswerten Studie schrieb, dass jede neue Biographie »eine weitere Fiktion über das Heldenleben« produziert?²⁰ Im Falle Bolívars dürfte diese Gefahr vielleicht deshalb etwas geringer sein, weil der Protagonist des Buches ein riesiges Œuvre schriftlicher Dokumente hinterlassen hat; er war ein »versierter Kommunikator«. Der unermüdliche Verfasser von Briefen, Reden, Manifesten und Verfassungstexten hat damit, als besorgter Imagepfleger sicher nicht zufällig, seine Biographen mit wertvollem Material versorgt, das, vor allem mit Blick auf seine politischen Grundüberzeugungen, bereits viele Fragen beantwortet. Ein Teil der offenen Fragen lässt sich mithilfe von Zeitzeugen beantworten, deren Glaubwürdigkeit natürlich einer kritischen Abwägung bedarf. Beide Quellen, die von Bolívar und die seiner schreibenden Zeitgenossen, wurden mit einer Reihe älterer und neuerer Biographien verglichen. Dabei diente der biographische Zugang nicht nur als ›Fenster‹, um Einblicke in die damalige Gesellschaft zu erhalten; selbstredend genauso wichtig war der ›Rückblick‹ von der Gesellschaft auf den Helden. Allerdings bleibt die vielleicht entscheidende Frage, ob das historische Geschehen anders verlaufen wäre, wenn sein – vermeintlicher? – Protagonist andere politische Ideen gehabt hätte, doch unbeantwortet, trotz aller Kritik, deren Zielscheibe er im vorliegenden Buch wird. Eine definitive Antwort auf diese Frage, wiewohl verführerisch, hätte den Beigeschmack leichtfertiger Besserwisserei des unbeteiligten Nachgeborenen, ganz zu schweigen von den Fallstricken der ›biographischen Illusion‹.

    Bleibt zum Schluss ein Hinweis auf Stil und Form. Geschichte lebendig zu machen – dazu gehört natürlich eine lebendige Präsentation, wie sie zum Beispiel Golo Mann, selber Autor eines gelungenen Bolívar-Essays, in seinem Plädoyer für eine historische Erzählung forderte. Aus dem üppigen Arsenal alter und neuer Bolívar-Biographien, die auch der vorliegenden gute Dienste geleistet haben, ragen zwei hervor, die, zumindest erzähltechnisch gesehen, Maßstäbe setzten: die von Gerhard Masur und von Salvador de Madariaga. Obwohl beide Biographen, wie ich finde, ein Gutteil an ihrem Protagonisten ›vorbeigeschrieben‹ haben – jeder auf seine Weise –, überzeugen sie doch durch virtuosen Stil und geschickte Präsentation der riesigen Stoffmenge. Der »versierte Kommunikator« Bolívar, selber ein brillanter Stilist, hätte den beiden dickleibigen Büchern wohl allein deshalb seinen Respekt gezollt. Die eisige Zugluft, die die steilen, öden Prosaberge so mancher Zunfthistoriker umweht, wäre dem Bezwinger des Chimborazo jedenfalls ein Gräuel gewesen. Abschreckend auch die bunte Fauna der Begriffsdrachen, die die Erkenntniswege nicht selten zu einer stilistischen Tour de force machen. Zwar weit entfernt von den ästhetischen Meriten der zitierten Autoren, habe ich mich immerhin bemüht, solche Barrieren niedrig zu halten. Dazu gehört auch, dass die bewusst kleine Biographie, die schon wegen ihres geringen Umfangs nicht mit den oben genannten konkurrieren kann, auf ein undurchdringliches Gestrüpp von Fußnoten und Verweisen verzichtet – belegt sind vor allem Zitate Bolívars. Eine knappe Bibliographie seiner Schriften, alter und neuer Biographien nebst einschlägiger Sekundärliteratur mag zum Weiterlesen ermuntern. Alle Übersetzungen fremdsprachiger Texte stammen von mir.

    Lateinamerika und seine neuen Grenzen nach der Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert

    Das koloniale Rien ne va plus:

    Gärstoffe der lateinamerikanischen Unabhängigkeit

    »Amerika wurde nicht nur seiner Freiheit beraubt, sondern auch einer aktiven […] Tyrannei.«

    SIMÓN BOLÍVAR, Carta de Jamaica²¹

    »Jahrhundertelang haben wir auf diesen glücklichen Augenblick gewartet«, schrieb Bolívar 1814 – seine siegreichen Truppen hatten den Spaniern gerade zum zweiten Mal die venezolanische Hauptstadt entrissen –, gewartet »auf jene hoffnungsvolle Morgenröte, die jetzt über Hispanoamerika heraufzieht.«²² Natürlich dienten die pathetischen Worte der Erbauung in der Stunde des Triumphs und legitimierten, noch in der Frühphase des Krieges gegen das koloniale Mutterland, einen Willen zur Unabhängigkeit, der freilich erst neueren Datums war. Doch solche Erwägungen, wiewohl dem soeben zum ›Libertador‹ seines Heimatlandes proklamierten General durchaus geläufig, passten nicht zu der ausgelassenen Feierlaune, die auf den Straßen der befreiten Kapitale herrschte. Das Joch war endlich abgeschüttelt, mochten sich doch die Historiker späterer Generationen den Kopf darüber zerbrechen, wie das politische Gebilde – die einen nannten es »Kolonie«, die anderen »Verlängerung des Mutterlandes« – so lange überdauern konnte. Auf jeden Fall eine riesige Zeitspanne, die seit den frühen Tagen des Kolumbus inzwischen vergangen war. Damit hatten die Herrscher auf der fernen Iberischen Halbinsel, zuerst die Habsburger, dann die Bourbonen, tatsächlich einen historischen Rekord erzielt: »Drei Jahrhunderte lang litt Amerika unter dieser Tyrannei«, hatte Bolívar ein Jahr zuvor geschrieben, »der härtesten, von der die Menschheit je gepeinigt wurde«.²³ Niemand unter seinen jubelnden Anhängern, die den mit Girlanden geschmückten Triumphzug säumten, hätte ihm damals widersprochen. Waren die Spanier etwa keine »Barbaren«, ja regelrechte »Monster«, die, so Bolívar in seinem Aufruf zur guerra a muerte (›Krieg auf Leben und Tod‹), alle nur erdenklichen »Verbrechen« begangen und das »heilige Gesetz der Nationen« mehr als einmal vergewaltigt hatten?²⁴ Und hatten sie etwa nicht, von Gier nach Gold und von »Blutdurst« geleitet,²⁵ einen ganzen Kontinent geplündert, Frauen vergewaltigt und ein riesiges Völkergefängnis errichtet? Schließlich hatte bereits sein Vater, zwei Jahre vor seiner Geburt, einen kreolischen Aufruf unterzeichnet, in dem es hieß: »Wir befinden uns in einem schmachvollen Gefängnis und werden schlechter behandelt als Negersklaven, denen ihre Herren mehr Vertrauen entgegenbringen.«²⁶ Nein, der ›Krieg auf Leben und Tod‹, im zweiten Anlauf siegreich beendet, war ein gerechter Krieg.

    Es war indessen nicht nur die Blutgier der spanischen »Henker« und »Tiger«,²⁷ die Bolívar als schlagenden Beweis für den barbarischen Zustand der zeitgenössischen Konquistadorennation empfand. Die Spanier, ihre dreihundertjährige Präsenz auf amerikanischem Boden, hielt er auch dort für ein kontinentales Unglück, wo sie nicht, wie

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