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Ur-Spiritualität und nachkirchliches Christentum
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eBook491 Seiten6 Stunden

Ur-Spiritualität und nachkirchliches Christentum

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Über dieses E-Book

Es muss so etwas wie eine "Ur-Spiritualität" geben, aus der Menschen seit Anbeginn der Menschheit geistig-seelisch lebten. "Religionen" werden im vorliegenden Buch nicht als "natürlicher" Ausdruck dieser "Ur-Spiritualität" gesehen, sondern es wird vielmehr angenommen, dass "Religionen" die "Ur-Spiritualität" erst später, freilich ihrerseits im Lauf von etlichen Jahrtausenden, stark überformt und dabei auch beträchtlich "ver"-formt haben. "Ur-Spiritualität" war infolgedessen jahrhunderte-, vielleicht jahrtausendelang kaum jemandem unmittelbar zugänglich. Die Zeit seit Beginn der "Aufklärung", insbesondere aber seit Beginn der "Moderne" um 1870 bedeutet eine hyper-langfristige kulturelle Mega-Krise, anders gesagt eine "endgültige Verwandlungskrise" aller historisch-herkömmlichen Religiosität, eine Abbruch-Krise von etwas absolut Tragendem, in der es sich geradezu für das weitere Überleben der Menschheit als essenziell erweist, ihre "Ur-Spiritualität" wiederzuentdecken und gesellschaftlich breitenwirksam zurückzuerlangen. Noch weniger als die traditionellen Religionen als solche leisten dabei jegliche Formen von "Esoterik" irgendeinen echten oder auch nur genießbaren Dienst, wie sich insbesondere seit 1968 inzwischen hinreichend klar gezeigt hat. Der Autor beschreitet angesichts dieses ernüchternden gesellschaftlichen Befundes den gründlichen und aufwändigen Weg, die "Ur-Spiritualität" zu rekonstruieren, indem er sie theologisch minutiös aus den überkommenen geistigen Angeboten des kirchlichen Christentums herausfiltert. Das Ergebnis ist gleichsam annähernd so etwas wie eine (gleichwohl unterhaltsam lesbare) universell-umfassende "systematische Theologie" über den engen "Glaubens"-Rahmen des Christentums hinaus; es ist dabei zweifellos auch - aber das gar nicht in erster Linie - eine spannende Fundamentalkritik an "der Kirche" und an deren spezifischen historischen "Ablenkungen" der "Ur-Spiritualität". Das führt zum Begriff des "nachkirchlichen Christentums". Bei allem geistigen Anspruch hält das Buch stets auch den Wunsch aufrecht, zugleich ein literarisches Vergnügen zu sein.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Juni 2023
ISBN9798223061816
Ur-Spiritualität und nachkirchliches Christentum
Autor

Joachim Elschner-Sedivy

Joachim Elschner-Sedivy, Lic. Theol., hat einen römisch-katholischen biographischen Hintergrund. Er wurde 1975 geboren. Seine Heimatstadt ist München.

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    Buchvorschau

    Ur-Spiritualität und nachkirchliches Christentum - Joachim Elschner-Sedivy

    Einleitung

    Dies ist in gewissem Sinne ein Meditationsbuch. Es ist ein dickes Buch geworden - nicht weil einem irgendwelches „Wissen" fehlen würde, solange man dieses Buch noch nicht in dessen gesamten Zusammenhang von der ersten bis zur letzten Seite bündig, aufmerksam und gründlich durchstudiert hat - nein, das gewiss nicht -, sondern um vielmehr der Leserin, dem Leser immer neue ästhetisch und atmosphärisch reizvolle anschauliche Möglichkeiten zu einer täglichen spielerischen Einübung in die veränderten innerlichen Perspektiven echt spiritueller meditativer Welt- und Daseinsbetrachtung anzubieten.

    ***

    Das „geistliche Programm, das man bei den heute noch einigermaßen populären Repräsentanten einer katholischen Spiritualität, wie etwa bei einem Papst Franziskus oder bei einem Anselm Grün findet, lautet, vereinfacht gesagt: „Ich erwarte nichts von den Menschen. Ich nehme sie so an, wie sie sind. Ich biete ihnen meine Seelsorge an, ohne zu sagen: ‚Du brauchst erst mehr spezifisch christliches und spezifisch kirchliches Wissen und mehr spezifisch christliche und spezifisch kirchliche konkrete Praxis, bevor du ein geeigneter Adressat meiner Seelsorge bist.‘ Nein, sondern mein seelsorgliches Angebot ist bedingungslos für dich da, es ist unterschiedslos für alle da. Das ist das Novum, die Innovation dieser Männer und Frauen (zu diesem „geistlichen Typus gehören nämlich insbesondere auch einige beeindruckende Ordensfrauen). Dabei bleiben diese besagten Personen „für sich selber freilich alle bisher ganz fest dem Fundament der kirchlichen doktrinären, rituell-brauchtümlichen und „pastoralen Tradition verhaftet. Das ist zwar gewiss ein sehr guter Weg zum Wohl all derjenigen, denen ein solches Angebot nützt, weil es ihnen annehmbar ist - deren Zahl nimmt aber kontinuierlich ab, weil auch der nicht mit „aktiven Anforderungen an den Rezipienten verbundene, sondern lediglich mit gewissen „passiven Voraussetzungen behaftete Teil der inhaltlichen Limitation des seelsorgerischen Angebots durch die kirchliche Tradition für viele heute nicht mehr „rezeptabel ist. Dass sie von solchen freundlichen (und zumeist tatsächlich echt-spirituell sehr reifen) Vertretern der Kirche menschlich angenommen werden, wie sie sind, finden die Angehörigen dieses letzteren Personenkreises (der sozusagen „gerne auch ein Adressatenkreis wäre) zwar sehr schön; aber die traditionellen kirchlichen Formen und Formeln der Seelsorge befremden und irritieren sie trotzdem weiterhin, und zunehmend, und zwar massiv. Und dadurch, dass es immer mehr Kirchenfernen so geht, genügt diese Art von Angebot, wie es, wie gesagt, unter anderem Papst Franziskus oder Anselm Grün mit breiter öffentlicher Wirkung artikulieren, heute eben nicht mehr. Es muss also nun noch einen Schritt „in quasi derselben Richtung weitergegangen werden. Das ist der Schritt, den ich im vorliegenden Buch unternehme.

    ***

    Ich will mit einem Zitat beginnen, das ich in einem aktuellen Artikel las, als meine Arbeit am vorliegenden Buch eigentlich gerade schon ihrem Abschluss entgegenging: „Die berühmten Sätze von Romano Guardini von 1922 über das nachhaltige innerliche Kirchenerwachen müssten heute anders formuliert werden: ‚Ein Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche entschläft in den Seelen.‘ Und womöglich ist das mit der unabsehbaren Tragweite bloß das Pfeifen von professionellen Theologen wie mir im dunklen Wald, dass doch bitte die eigene Selbstverständlichkeit nicht so markant wegbricht. Es könnte sein, dass die Tragweite historisch gar nicht so weit reicht. Im besagten bemerkenswerten Artikel eines von mir besonders geschätzten Theologen, den ich im folgenden noch etwas ausgiebiger weiter zitieren möchte, stehen diese Worte zwar nicht, wie bei mir jetzt, am Beginn; aber auch dort stünden sie gut. Nach der entscheidenden Sitzungsperiode des deutschen „Synodalen Weges zur Reform der römisch-katholischen Kirche urteilte Hans-Joachim Sander, Dogmatiker in Salzburg, in der „Herder Korrespondenz am 15.3.2023: „Mit Nonchalance setzte sich die Herrschaftstaktik des Hinhaltens und Verschiebens in Szene. Aus den vielen Erwartungen, bei diesem Weg als Last Exit doch die nötigen Veränderungen hinzubekommen, ist wieder einmal ein Warten auf Godot geworden, von dem man schon weiß, dass er nicht kommt, und zwar nicht von oben, aber offenbar auch nicht von unten. Die Erwartung, diese Kirche würde sich aus eigener Kraft in die Lage bringen, sich zu reformieren, ist absurd geworden. Die sich im März 2023 „synchronizitär zur Assoziation anbietende Analogie des russischen Erdgases, das erst lange Zeit als unverzichtbar für die deutsche Industrie galt und dann, wenn freilich auch mit einigen Mühen, doch innerhalb eines Jahres nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine für Deutschland komplett entbehrlich gemacht wurde, stellt, so Sander, „die herbe Einsicht in den Raum, wie sehr die katholische Kirche für immer mehr Menschen überflüssig und ersetzbar ist, und zwar auch in den gefährlichen Erfahrungen des Lebens, in denen es Menschen kalt ums Herz und unbehaust in der Seele wird. Und es handelt sich nicht zuletzt um Menschen aus ihrer eigenen Mitte. Hans-Joachim Sander fasst dann die gravierende Beobachtung ins Wort, dass ein entscheidender Teil aller Austritte aus der römisch-katholischen Kirche in den 2020er-Jahren nicht mehr an der längst schon langfristig „zentrifugierten Peripherie des Gefühls der Zugehörigkeit zu dieser Kirche stattfand, sondern inzwischen abrupt unmittelbar aus der Mitte dieser Kirche, quasi „katapultartig jäh und direkt aus deren Zentrum hinaus; die gemutmaßte Erklärung für dieses Phänomen lautet, dass Menschen mittlerweile gerade im „Herzen von Kirche und Kirchenerfahrung zu der dort von allerlei unmittelbar Sicht-, Hör- und Fühlbarem gespeisten Erkenntnis gelangen, dass diese Institution doch nicht heilsnotwendig sein kann. Sander: „Christlich Gläubige sind dazu auch spirituelle und religiöse Gläubigerinnen und Gläubiger ihrer Kirche; sie rückversichern sie mit ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Daher reagieren sie unvermeidlich darauf, wenn sich ihre Kirche überflüssig macht, weil der massive sexuelle Missbrauch, seine weltweite skandalöse Vertuschung und das Entsetzen darüber außerhalb wie innerhalb für ihre globale Hochhierarchie immer noch offenbar bestenfalls lästig sind, aber nicht integral erschütternd. Sie wird von eigener Unverschämtheit kaum beschämt. Wer in und mit einer Kirche glaubt, die unglaubwürdig geworden ist, muss sich unausweichlich fragen, was das mit der eigenen Glaubwürdigkeit macht. Davon wollen immer mehr Gläubigerinnen und Gläubiger kein Teil mehr sein. Sie schreiben lieber ab, was sie selbst in nicht unerheblichem Maße in diese Kirche innerlich und äußerlich investiert haben. Das reicht mittlerweile bis hinauf zu Generalvikaren und Stadtdekanen und auch das wird weitergehen. Solche Gläubige bauen eine förmlich erklärte oder anonyme Distanzierung auf. Dabei ist die anonyme Distanz wahrscheinlich sogar die nachhaltigere, weil sie auch über eine Enttäuschung keine indirekte Anbindung mehr aufbaut. Wer beim Austrittsakt mit seiner Kirche ins Gericht geht, muss ja mindestens noch einen Akt der Empörung setzen. Drastischer als die Empörung ist, obwohl sie nicht schroffer ist, die schleichende Kommunikationsbeendigung. Eigentlich entscheidend ist nicht die Frage, wer förmlich aus der Kirche austritt, sondern eigentlich entscheidend ist die Frage, wer seine subtile Kommunikation mit der Kirche beendet, und wer seine subtile Kommunikation mit dem Christentum beendet. Darüber gibt es keine seriösen Statistiken. An dieser Stelle beginnt sich allerdings auch eine Schwäche von Sanders Artikel zu zeigen, die freilich nicht allein eine Schwäche von Sanders Artikel, sondern eine Schwäche aller derzeitigen wahrnehmbaren kirchlichen und kirchenbezogenen Kommunikation ist: Der „grobkommunikative Akt des formellen Kirchenaustritts korrespondiert nachvollziehbar mit dem „grobkommunikativen Kritikthema des kirchlichen Missbrauchs - zu einer subtileren Form der religiösen Kommunikation gehören hingegen unabdingbar auch entsprechend subtilere Themen des persönlichen „tiefenseelischen Angesprochen-Seins durch elementare spirituelle Lebenshilfen, die vom Christentum und idealerweise natürlich auch im konkreten sozialen Raum der Kirche vermittelt werden. Zwischen „Kirchenthemen und „echt spirituellen Themen hat sich im Laufe des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts aber nahezu jegliche öffentlich-kommunikative Verbindung verblüffend aufgelöst. Dieser Umstand ist aus meiner Sicht ein genauso großes Desaster wie der kirchliche Missbrauch. Dass das Gesprächsinteresse überwiegend säkular geprägter Gesprächspartner sich weitaus stärker auf den kirchlichen Missbrauchsskandal richtet als auf „echt spirituelle Themen, ist verständlich - aber dass auch die weit überwiegende Mehrheit aller „religiösen Gesprächspartner sich heute widerstandslos dieser säkular oktroyierten Diskursdrift überlässt, werte ich als schlimme geistige Bankrotterklärung der Kirche. Damit will ich keinesfalls sagen, dass über den kirchlichen Missbrauch nicht innerkirchlich geredet werden muss, ganz im Gegenteil - aber ohne die permanente enge Verbindung mit einer profunden echt spirituellen Perspektive, „was ich eigentlich, ganz eigentlich in der Kirche suche, ergibt ein spezifisch innerkirchlicher Missbrauchs-Aufarbeitungsdiskurs als solcher schlicht überhaupt keinen wirklichen Sinn, die Aufarbeitung erfolgt dann, wenn diese Verbindung nicht mehr gelingt, tatsächlich besser ausschließlich als ein Diskurs mit dem gesellschaftlichen „Außen der religiösen Institution. Sander präsentiert in seinem Aufsatz zurecht als die kirchliche „Gretchenfrage der beiden jüngsten Jahrzehnte, ob eine weltanschauliche Institution durch „Aufarbeitung ihres vergangenen Versagens überhaupt jemals irgendetwas „gewinnen kann; denn solche Aufarbeitung ist ja unvermeidlich immer gewissermaßen so etwas wie ein „Ödipus-Tribunal, wie es Kleist kongenial in die weitaus realistischere „Selbstermittlung des Dorfrichters Adam als Selbst-Zerbrecher des zerbrochenen Kruges transponiert hat, oder auch so etwas wie ein „Moral gewordenes Lügner-Paradox: „Epimenides der Kreter sagt, alle Kreter lügen. Was soll man davon halten, wenn Pinocchio, dessen Nase bekanntlich immer dann wächst, wenn er lügt, sagt: „Meine Nase wächst gerade? Und wird nicht eine Kirche dadurch ideell veredelt, dass sie alle ihre vergangenen Verbrechen schonungslos aufklärt? Das Problem ist: Menschen auf der Suche nach einer weltanschaulichen Institution, die ihnen im irdischen Dasein geistigen Halt, Beistand und Sinn-Aufzeig gewährt, zeigen notorisch wenig Sinn und Verständnis für die rein akademischen Reize von Lügner-Paradoxen. Sander resümiert bitter-nüchtern: „Kirche kann den von ihr an ihr selbst verursachten Schaden nicht mehr aufhalten. (...) Für die, deren Geduldsfaden gerissen ist, gilt ausgemacht, dass es ohne Kirche oder zumindest ohne diese Kirche geht. Sie sind die Vorhut einer globalen Entwicklung (...). Die anonym Distanzierten belegen ziemlich überzeugend, wie gut es geht, nicht immer wieder kirchlich enttäuscht zu werden. (...) Gleich wie schwierig sich Ersetzungsprozesse erweisen, sie sind doch (...) machbar. Der sogenannte „Synodale Weg der römisch-katholischen Kirche in Deutschland hat immer wieder eilfertig betont, dass er eben gerade kein solcher „Ersetzungsprozess zu sein gedenkt. Er hat selber konsequent unterschätzt und ignoriert, wie uninteressant er damit von vornherein für einen Großteil der vielen stark zweifelnden und sehr kritischen, aber deswegen noch längst nicht „dezidiert ehemaligen Katholiken in Deutschland war, für die auch die heikle Frage nach der Möglichkeit dessen, was Sander „Ersetzungsprozesse nennt, von Anfang an offen und ehrlich auf den Tisch gehört hätte, um sie überhaupt noch ins Diskurs-Boot zu holen. Im Rahmen der etablierten institutionellen Kirche aber gilt, wie Sander formuliert: „Derlei Souveränität gibt es auch nicht von oben, wie sich am Papsttum zeigt. Es weckt Berge großer Erwartungen, die dann, wenn sie kreißen, bestenfalls niedliche Nagetiere wie etwa versteckte Fußnoten gebären. Und es geht auch nicht von unten her, wie sich in allen synodalen Prozeduren bisher gezeigt hat. Sie sind sogar umso wirksamer, je mehr sie von dieser Illusion lassen. Innerhalb der Kirche kann man das eigene Scheitern nurmehr gestalten, aber nicht aufhalten. Nachhaltig hinreichend verändert wird Kirche erst von außen. Gewiss, ich für meinen Teil habe mich von Anfang an nicht vom Sinn des Projektes „Synodaler Weg überzeugen lassen und deshalb nie auf dieses Projekt gesetzt, und naturgemäß kann man mir deshalb vorwerfen, ich hätte schon seit langem nicht mehr, und vielleicht überhaupt nie, mich im geforderten oder angemessenen Maß für die Zukunft der Institution Kirche praktisch-konkret engagiert. Gegenüber solchen Vorhaltungen bleibt mir nur eine Demut, wie sie prinzipiell uns allen immer gut zu Gesicht steht. Ich kann, so wie wir alle, nur das leben, was ich leben kann. Ich gehöre zweifellos zu Sanders „anonymen Distanzierten. Ich habe das vorliegende Buch nicht erst Mitte März 2023 zu schreiben begonnen, sondern bereits etliche Jahre früher. Der Hauptschritt meines äußerlichen wie innerlichen Abschieds aus der institutionellen Kirche fiel in eine Zeit, als sich für einen solchen Schritt noch keine extrinsischen Gründe gesellschaftlich-kulturell allgemein aufdrängten; ich musste mich damals vielmehr mit meinen rein intrinsischen Beweggründen maximal aufrichtig und schonungslos auseinandersetzen, da es zu dieser Zeit noch keine äußerlichen Argumente gab, die man unter allgemeiner Akzeptanz hätte vorschieben können; wo jemand dergleichen damals etwa mittels Verweis auf das - eindeutig „mehr kosmetische als kosmische - Ärgernis der deutschen Kirchensteuer versuchte, kam mir eine solche Argumentation lächerlich bis zur Peinlichkeit vor, denn selbstverständlich ist eine Kirche, von der man ideell überzeugt ist, einem auch jederzeit eine saftige Kirchensteuer wert. Nein, ich konnte nicht auf irgendwelche fraglos eklatanten äußeren Um- und Missstände zeigen, als ich mich von meiner Kirche zu lösen hatte. Diese Ablösung kulminierte im Herbst 2000, damals schied ich aus meiner bis dahin verfolgten kirchlichen Berufslaufbahn (Pastoralreferent) aus. Die Missbrauchskrise der römisch-katholischen Kirche begann rund fünfzehn Monate später mit den „Spotlight-Enthüllungen des „Boston Globe ab dem 6. Januar 2002. Seit dieser Zeit scheinen mir, ehrlich gesagt, die geistigen Weltbilder-Grundlagen, denen ich in Gesprächen und Medien begegne, verglichen mit meinem eigenen geistig-religiösen Ringen im Durchschnitt pauschal deutlich oberflächlicher geworden zu sein, und mithin auch die religiösen unter den verfügbaren Weltbildern „spirituell deutlich ausgedünnter und vergleichsweise unterkomplex. Das hat aber komplexe negative Folgen für die Lebensqualität der Menschen. Gegen diesen „geistlichen Schaden anzugehen, ist die Aufgabe des vorliegenden Buches. Was erforderlich ist, um diesen spirituellen Mangel-Schaden zu beheben, ist keine primär „intellektuelle" Leistung - soviel nur vielleicht gleich vorweg.

    ***

    „Spiritualität ist ein ausgesprochen katholisches Wort, von seiner Begriffsgeschichte her. In meiner Ministrantenjugend vernahm ich dieses Wort manchmal aus dem Munde von Priestern, wo es gewisse Schwerpunkte bedeutete, die einer innerhalb des katholischen Brauchtums-Universums setzt, das so umfangreich ist, dass kein Katholik alle „seine Bräuche praktizieren oder auch nur kennen kann. Die „Gretchen-Frage bei alledem war zweifellos die Marien-Frage: Wie hast du’s mit der Gottesmutter Maria? Schon damals diente eine ausgeprägte Marienverehrung als Markenzeichen der innerkirchlich Ultra-Konservativen (diese identifikatorische Zuordnung hat sich über die folgenden Jahrzehnte hinweg kontinuierlich weiter verstärkt). Außerdem war „Spiritualität aber auch die Bezeichnung für die jeweiligen Besonderheiten der religiösen Lebensform, wie sie in den diversen Ordensgemeinschaften der katholischen Kirche gepflegt wurden. Jeder Orden schrieb sich selbst seine spezifische Spiritualität zu: Die Spiritualität der Benediktiner war vor allem liturgisch sowie in den besonderen monastischen Gebetsformen und -praktiken der benediktinischen Klöster gegründet; die Spiritualität der Dominikaner war theologisch-intellektuell, dabei neuscholastisch ausgerichtet und ungefähr das, was wir später „analytische Theologie zu nennen begannen; die Spiritualität der Franziskaner gab sich gewissermaßen „absichtsvoll einfältig, körperbetont, naturverbunden, „gefühlig und gesellig; die Spiritualität der Jesuiten wiederum trat wissenschaftlich und musisch in einem bewusst mehr als bloß theologischen, sondern prononciert weltzugewandten Sinne, und außerdem hochpolitisch auf. Während meines ersten Semesters am Philosophisch-Theologischen Studium in Erfurt hatten wir 1994 „Spiritualität als propädeutisches Studienfach, und offenbar sollte dieses akademische Angebot die Funktion erfüllen, uns mit den besagten vielfältigen Varianten des Katholischen bekannt zu machen, deren volles Spektrum keiner von uns in seiner Heimatgemeinde erlebt haben konnte. Mittelständisch-bürgerliche Katholiken, die nicht dem Ordensstand angehörten, charakterisierte damals nach meinem Empfinden eher die Einstellung: „Wir haben keine ‚Spiritualität‘ - wir sind katholisch. Diese Haltung schien mir damals auch ganz einleuchtend und vernünftig zu sein. Ein Seelsorger, den ich damals schätzte, kritisierte das in Kirchengemeinden immer wieder zu vernehmende Statement: „Wir sind gut katholisch mit dem Einwand: „Wieso ‚gut‘ katholisch? Katholisch reicht. Diese Sorte von Theologen wies gern darauf hin, dass das griechische Wort „kat-holos dasselbe meint, was auch das lateinische „universalis bedeutet: „universell. Aus ihrer Perspektive schien ein zutreffend „universell verstandener Katholizismus alles Gerede von „Spiritualität zu erübrigen. Bei diesen Leuten ging ich in meine erste geistliche Schule. Hier wurde „geistliche Bodenständigkeit betont. Diese Richtung hatte für mich damals eine gewisse Stimmigkeit an sich - was ich noch nicht realisierte war, dass sie von einer zuverlässigen unveränderlichen Definitionsgewissheit dessen ausging und abhing, was „ein für allemal katholisch sei, und somit unvermeidlich „ganz und gar kirchlich blieb; spätestens seit die römisch-katholische Kirche ab 2010 immer stärker in den Sog ihres Mega-Krisen-Strudels geriet, verlor diese Anschauung deshalb ihre Basis. Mich selber hatte der entsprechende Zweifel freilich schon zehn Jahre früher gepackt: Seit dem Herbst des Jahres 2000 war ich in eine nicht nur von meiner Kirchenberufsperspektive, sondern auch von meiner Kirchenmitgliedschaft und überhaupt vom „Glauben distanzierte Lebensphase eingetreten, die zunächst für reichliche sieben Jahre überhaupt keinerlei erkennbare weitere persönliche Entwicklungsdynamik bezüglich dieses Themas zeigte; als eine entsprechende biografische Dynamik 2008 erneut bei mir einsetzte, führte sie mich zunächst zwar wieder ein kleines, tastendes Stückchen näher an die Kirche heran, dann aber ab dem Jahr 2015 schließlich sehr klar aus jedem kirchlichen Rahmen heraus und damit konsequent in meine große Lebensfrage nach einer „außer-kirchlichen, „nach-kirchlichen, gleichwohl aber christlich fundierten Spiritualität hinein.

    ***

    Die große Neuigkeit, die ich mitzuteilen habe, liegt vermutlich nicht in meiner einleitenden Feststellung, dass „Spiritualität heute ein häufig gebrauchtes, populäres Wort geworden ist in einer breiten Öffentlichkeit. Wie immer bei solchen Worten, lohnt es sich auch bei der Rede von „Spiritualität zu fragen, was damit eigentlich und wirklich gemeint ist. Wie zu erwarten, fallen sozialempirisch erhobene Antworten auf diese Frage vielgestaltig aus; so dass es letztendlich in erster Linie darauf ankommt, genau zu wissen, was man selber damit meint, wenn man den betreffenden Terminus gebraucht, und die besondere Stichhaltigkeit des eigenen Verständnisses überzeugend argumentativ darlegen zu können. Die für das vorliegende Buch geltende Inhaltsbestimmung von „Spiritualität" ist die folgende.

    Aus ihrer eigenen Perspektive bestimmen Religionen ihren Daseinsgrund normalerweise nicht „funktional, nicht als „Zweck, sondern begründen sich schlicht unmittelbar aus der Existenz des Göttlichen, als Reaktion auf diese. Nun haben freilich kluge Denker festgestellt, dass es unstimmig sei zu sagen, Gott „existiere, denn das lateinische Verb „exsistere bedeutet wörtlich und ursprünglich „heraustreten, im Sinne von „sich von einem Hintergrund abheben, und es wäre angesichts dessen eindeutig schlüssiger, vielmehr das Göttliche selbst als jenen „Hintergrund aller Dinge aufzufassen, da ein Hintergrund immer größer ist als das, was aus ihm hervortritt, und Gott kategorisch als das Größte schlechthin gedacht wird; Gott kann also logisch nicht vor einem Hintergrund in Erscheinung treten, da dieser Hintergrund größer sein müsste als Gott selbst, was gelinde gesagt misslich wirkt. Was immer man von Gott vielleicht mit einiger Berechtigung in menschlicher Sprache sagen kann - er „existiere ist jedenfalls semantisch keine treffende Wortwahl. Aus dieser Betrachtung resultiert gewiss eine große Verunsicherung, die unmittelbar fraglich erscheinen lässt, ob man von Gott überhaupt irgendetwas Treffendes in menschlicher Verbalsprache aussagen kann. Eine vernünftige Form der Reaktion auf dieses Problem besteht darin, einen „transzendentalen Perspektivenwechsel zu vollziehen, das heißt statt Gott erkennen zu wollen den Menschen in den Blick zu nehmen, der nach seinem Verhältnis zum Göttlichen sucht, und statt nach Gottesdefinitionen und Gottesbeweisen vielmehr nach den „Funktionen der Religion zu fragen; und diese Frage wird im vorliegenden Fall - anders als etwa im Fall einer akademisch-religionssoziologischen Untersuchung - nicht etwa aus einer Perspektive vorgefasster „Unfrömmigkeit gestellt, sondern ganz im Gegenteil als ein veränderter Versuch der Annäherung an das Göttliche, nachdem man von diesem erkannt hat, dass es keine überzeugende Annäherung in Form von „direkten, „apodiktischen Aussagen zulässt. Anders als aus deren eigener Perspektive lassen sich Religionen aus meiner Sicht durchaus „funktionalistisch deuten. Das Interessante dabei ist, dass die verschiedenen Funktionen, die Religion erfüllt, nicht zwingend schon von Anfang an etwas miteinander zu tun gehabt haben müssen. Vielleicht hat sich Religion geschichtlich entwickelt als eine gleichsam „ökonomische, „synergieeffektvolle Lösung für ein heterogenes Bündel eigentlich ganz unterschiedlicher und ursprünglich nicht miteinander verbundener Probleme und Aufgaben im menschlichen Dasein: Wir brauchen einen geistigen Unterbau für unsere beinahe „natürlichen Riten- und Zeremonien-Bedürfnisse: zweimalige Initiation zur Geburt und beim Eintritt ins Erwachsenenleben, Eheschließung, verschiedene Aspekte von „Weihe und „Segnung, feierliche Entsühnung von Schuld, Lebensabschied und Bestattung. Wir brauchen einen geistigen Verständigungs-Unterbau für unsere sozialen Arrangements von Gemeinschaft, vor allem von umfassenderen Strukturen zwischenmenschlichen Miteinanders, denn bei Initiativen der Gemeinschaftsstiftung zeigt sich immer wieder, dass Kommunitäten ohne tiefere ideelle Verbundenheitsgrundlagen keine erwartungsentsprechenden solidarischen Kapazitäten unter Beweis stellen und in punkto Zeitbeständigkeit nicht sehr dauerhaft sind; ferner, und damit zusammenhängend, steht auf unserer sozialen Agenda eine alternative Autoritätsrechtfertigung, gegen die übliche unbefriedigende Herleitung von Autorität aus den trivialen Faktoren Macht, formeller Sozialstatus, Geld und Besserwisserei. Wir müssen fortwährend allerlei komplizierte moralische Problemfälle regeln, und wir begreifen früher oder später zwangsläufig, dass dies nicht auf philosophische Weise nach irgendwelchen allgemeingültigen Prinzipien und Maximen sinnvoll möglich ist, sondern immer nur höchst kasuistisch; wofür wir aber trotzdem eine Art tiefere, universelle Grundlage benötigen. In diesem Zusammenhang tut uns vor allem einerseits Freiheitsbefähigung oder Freiheits-Verträglichkeits-Ermöglichung not, da Freiheit für den Menschen, so sehr er sie erstrebt, eine große Herausforderung darstellt, und andererseits Gelassenheit, womit beispielsweise auch Geduld, Toleranz und Großzügigkeit gemeint sind, sowie „Konsum-Transzendierungs-Inspiration, da die materielle Verzicht-Option, die sich geschichtlich immer wieder einmal als für das Überleben der Menschheit ausschlaggebend erweist, von zu wenigen Menschen auf der Basis bloßer „Klugheit ergriffen werden kann, wie die Erfahrung zeigt. Wir wollen die Welt in ihrem Ganzen verstehen, um schlicht und einfach unsere kognitiven Dissonanzen aufzulösen, oder sie wenigstens zu reduzieren, sehen aber ein, dass wir dies mittels vernünftiger „Wissenschaft allein kategorisch nicht erreichen können, da viele Fragen, die in unserem Leben eine Schlüsselrolle spielen, aus keinerlei wissenschaftlicher Forschung irgendwelche wirklich relevanten Impulse zu ihrer Beantwortung erhalten - ich bringe hier nur das populäre Stichwort „Liebeskummer an -; insbesondere rätseln wir beispielsweise schwer über die Deutbarkeit der Geschichte, das heißt der Dynamik der Vergangenheit, und über ihr Potential an Informationen über unsere Zukunft. Wir brauchen grundlegende Leitlinien für die Erziehung unserer Kinder im Hinblick auf Bildungsaspekte, die sich nicht rational begründen lassen, wie etwa Liebe, Urvertrauen, Zuversicht, Hoffnung, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Wertschätzung, Empathie, elementares Sittlichkeitsbewusstsein, Manieren, „Taktgefühl, Ästhetik, Charme, Eleganz. Wir haben Bedarf an Beruhigung, gemeint als Ermöglichen von Ruhe und Entspannung, von Trost, Schuldbewältigung, Resilienzstärkung und ganz allgemein „Orthopsyche, da dies alles allein mittels „Psychologie und „Psychotherapie allzu häufig nicht gelingt, wie die Erfahrung lehrt, und wir müssen manchmal eine Heilung unserer psychischen Traumata versuchen in existenziellen Situationen, in denen irdisch nichts mehr „gut werden kann, und in denen es auch zynisch wäre, das, was ist, für „gut zu erklären; wir brauchen eine „Argumentationsgrundlage in Gesprächen der „Krisenintervention, für den „Seelsorgsfall, und auch „einfach nur zwecks Trost, Ermutigung und Erbauung in Krankheit oder Niedergeschlagenheit. Wir müssen unsere Angst vor dem Tod und vor dem Sterben konstruktiv und produktiv bewältigen und eine irdische Interventions-, Gestaltungs- und Schaffensmotivation auf der Grundlage von Empathie, Mitgefühl und Selbstlosigkeit entwickeln, eine Art von Motivation, die sich, so allgemein erwünscht sie sozial ist, erfahrungsgemäß auf keiner anderen als auf einer religiösen oder spirituellen Grundlage einstellt. Wir erstreben Persönlichkeitswachstum, das andernfalls, also ohne den Faktor Religion beziehungsweise Spiritualität, egozentrisch-narzisstisch gesteuert und damit kategorisch schwer defizitär bleibt, und wir sehnen uns nach einer echten „Weltentwicklungsvision, da sich eine rein selbstreferenziell agierende politische Sphäre als in vielerlei Hinsicht gesellschaftlich-kulturell ungenügend und an echter Lebensweltverbesserung kategorisch versagend erweist. An diesen „Funktionen teilen sich die Wege, und es bleiben diejenigen „religiös, die bei der Darlegung ihrer Programme zur Verfolgung der genannten Zwecke und zur Erreichung der damit verbundenen gesellschaftlich-kulturellen Ziele weiterhin im eigentlichen Sinne „theologisch argumentieren möchten, also unter affirmativem Verweis auf die im Grunde althergebrachte Gottesidee (so dass ihnen sozusagen die Erfüllung des gesellschaftlich-kulturellen Religionszwecks implizit letztendlich zu einer neuartigen Form, oder „Ersatzform, von „Gottesbeweis wird); wohingegen diejenigen als „(absolut-)spirituell zu bezeichnen sind, die am beschriebenen Punkt angekommen es vorziehen, alle herkömmliche Theologie fortan zu minimieren - freilich ohne dass dieser Schritt eine Leugnung des Göttlichen bedeuten würde, und auch ohne dass er notwendig damit einhergehen müsste, dass sie religiöse Traditionen künftig überhaupt nicht mehr als „spirituelles Erfahrungs-, Lern- und Lehrmaterial heranziehen - und sich sehr bewusst auf Aspekte einer möglichst basalen und elementaren, möglichst voraussetzungslosen und vor-annahmen-armen („parsemonen) Erfüllungsweise der gesellschaftlich-kulturellen Zwecke von Religiosität und Spiritualität zu konzentrieren. Insofern „Spiritualität von einer genuinen primären je persönlichen innerlichen Erfahrung ausgeht, beruht sie tatsächlich auf strukturell völlig anderen Grundlagen als die Religion mit ihren „Zwecken, und eine „absolute Spiritualität kann all die genannten „Funktionen der Religion zumindest theoretisch auch allesamt von sich weisen und braucht sich diese nicht zu eigen zu machen; auf jeden Fall aber pflegt sie zu den erwähnten konkreten menschlichen Bedürfnissen einen ganz eigenen und vielfach ganz andersartigen Zugang, der dem der Religion oft überwiegend unähnlich ist.

    Damit wird klar, dass der im Vorliegenden verwendete Begriff von Spiritualität sich insbesondere nicht mit manchen andersartigen Auffassungen von „Spiritualität verträgt, die erkenntnistheoretisch dadurch zu charakterisieren sind, dass sie umfangreiche (bisweilen regelrecht „haltlose und „wilde) spekulative Vor-Annahmen machen. Diese sind aus meiner Sicht „Pseudo-Spiritualitäten, insofern sie einen „absoluten Spiritualitätsbegriff für sich in Anspruch nehmen, was sie dann meines Erachtens zu unrecht tun, weil sie in diesem Fall in Wirklichkeit nichts anderes als neue Religionen sind. Religionen dürfen nämlich so viele aberwitzige Spekulationen an- und Postulate aufstellen, wie sie wollen; „absolute Spiritualitäten aber dürfen dies nicht, sondern haben - freilich auf die ihnen durchaus zustehende je eigentümliche Weise - sorgfältig glaubhaft zu machen, dass sie sich im beschriebenen Sinne um geistige „Parsemonie bemühen. Eklatante „Parsemonie-Versager in diesem Sinne und damit besonders tadelnswerte „Pseudo-Spiritualitäten sind alle Formen von „Magie, „Gnostizismen und „Esoterik. Die Definitionen der Begriffe „Magie und „Gnosis sind akademisch sehr fest etabliert, diesbezüglich kann ich die Leserin und den Leser an alle gängigen lexikalischen Publikationen verweisen (werde diese Begriffe freilich im weiteren Verlauf meines Buches auch selbst noch etwas näher erläutern); den medienöffentlich etwas weniger fest definierten Terminus „Esoterik verwende ich persönlich mit einem vorrangigen Augenmerk auf das ihm inhärente Moment einer Vermengung und Verwechslung von Psychologie mit Spiritualität, wodurch es zu einer in Wirklichkeit unspirituellen egozentrischen Färbung der betreffenden vermeintlich „spirituellen Angebote kommt. Das vorliegende Buch speist sich nicht besonders stark aus Negativ-Abgrenzungen, da echte Spiritualität nondualistisch ist; aber Magie, Gnostizismus und Esoterik bilden hier durchaus eine gewisse fundamentale Negativ-Kontrastfolie, die sehr effektiv der spirituellen Orientierung dient. Von vielen spirituellen Lehrern, beispielsweise von Richard Rohr, gibt es sehr treffende Äußerungen darüber, wie das nondualistische Nicht-Unterscheiden tatsächlich in einem ersten Schritt, der zuvor erfolgen muss, den Erwerb einer gewissen Kompetenz im sicheren, nüchternen Unterscheiden voraussetzt, die sich in ihrer selbstbewussten Urteilsklarheit nicht von gesellschaftlichen Moden des „Zeitgeistes manipulieren oder verunsichern lässt. Eine nachsichtige, kritikvermeidende Duldung von Magie, Gnostizismus oder Esoterik unter dem Vorwand der spirituellen „Verpflichtung zur Nondualität wäre echt-spirituell schlicht falsch. Damit ist dieses „propädeutische Thema aber eigentlich auch schon abgehakt. Wesentlich mehr, wesentlich Wichtigeres, wesentlich Spannenderes, aber leider auch wesentlich Komplizierteres gibt es zur Unterscheidung zwischen Spiritualität und Religion, oder genauer eigentlich zwischen „absoluter Spiritualität und „religiöser Spiritualität" zu sagen.

    ***

    Wo man „glauben muss, da gibt es auch Zweifel. Der erste Schritt ist dann, dass man den Zweifel zulässt. Kierkegaards Empfehlung war folgende: „Mithin, einige zweifelten. Dann aber gab es wiederum einige, die den Zweifel mit Gründen zu widerlegen suchten. Eigentlich ist der Zusammenhang doch wohl der: Das erste ist gewesen, dass man versuchte, das Christliche mit Gründen zu beweisen oder im Verhältnis zum Christlichen Gründe anzubringen. Und diese Gründe - sie erzeugten aus sich den Zweifel, und der Zweifel wurde der stärkere. Der Beweis für das Christliche liegt nämlich eigentlich in ‚der Nachfolge‘. Die nahm man fort. So empfand man denn ein Bedürfnis nach ‚Gründen‘; diese Gründe aber, oder der Umstand, dass es Gründe gibt, ist schon eine Art des Zweifelns - und so erhob sich der Zweifel und lebte von den Gründen. Man merkte nicht: mit je mehr Gründen man kommt, umso mehr nur nährt man den Zweifel, und umso stärker wird er; dem Zweifel Gründe bieten, um ihn zu töten, heißt gleichsam einem hungrigen Ungeheuer, das man loswerden möchte, die wohlschmeckende Speise bieten, die es am meisten liebt. Nein, dem Zweifel soll man - wenigstens, wenn man die Absicht hat, ihn zu töten - keine Gründe bieten, sondern (so wie Luther) ihm gebieten, den Mund zu halten und zu dem Ende selber rein den Mund halten und nicht mit Gründen kommen. (Kierkegaard, „Erbauliche Reden, zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen, urteilt selbst, 1850/51) So weise das ist, hier spürt man doch deutlich, dass das eigentliche Problem die Glaubensstruktur von Religion ist. Solange an der Religion als einem Glaubenssystem festgehalten werden muss, ist dem Problem des Zweifels kategorisch nicht auf eine bessere als auf die von Kierkegaard vorgeschlagene Weise zu entkommen. Gerade die unüberbietbare Qualität von Kierkegaards Antwort zeigt doch so deutlich, wie sehr sich an diesem Punkt das Fortschreiten von der an „Glauben gebundenen Religion hin zu einer auf Erfahrung beruhenden Spiritualität aufdrängt. An eigener Erfahrung kann man nicht zweifeln. Man muss nur in die eigene Erfahrung demütig mit einbeziehen, dass einem manche Erfahrungen vielleicht auch verwehrt und verschlossen bleiben. Das ist die Schwierigkeit der „reinen Spiritualität, die Hürde, die vor die „absolute Spiritualität gesetzt ist, und der Grund, weshalb manche Menschen das „Glauben der Religion der „reinen Spiritualität hartnäckig vorziehen: weil sie meinen, nicht leben zu können, ohne zu „wissen. Genau bezüglich solcher „Wissenssucht hat ihnen aber wiederum gerade ein Kierkegaard, der den „Glauben retten wollte, die Leviten gelesen. Dass einem manche Erfahrungen auch verschlossen bleiben, das ist in seiner verschärftesten Form die Erfahrung der „spirituellen Dürre, oder, mit einem Wort des Karmeliten Johannes vom Kreuz, der „finstere Nacht der Seele. Aber dieser Zustand ist selbst eine tiefe spirituelle Erfahrung. Hier führt der echte spirituelle Weg weiter. Er führt über die tiefe Ernüchterung: „Ich bin noch nicht ganz transformiert, ich bin vielleicht noch überhaupt nicht transformiert. Genau das ist eine profunde spirituelle Erfahrung. Manche Menschen greifen stattdessen lieber zu Weihrauch, Glocken und kollektiven Bekenntnisgebeten, weil sie das als vergleichsweise behaglicher empfinden. Das ist zwar menschlich sehr verständlich, aber spirituell leider nicht echt weiterführend.

    Religion kann auf dem spirituellen Weg hilfreich sein. Jede Religion kann auf dem spirituellen Weg eine Hilfe sein, und sogar eine substanzielle. Aber nicht für alle. Vielmehr gibt es sogar etliche Menschen, die gerade durch das Befolgen ihrer Religion ihre spirituelle Entwicklung verfehlen. Religion ist also eine ambivalente Sache. Grundsätzlich sollten wir sie zunächst immer wohlwollend als etwas Gutes ansehen und behandeln. Aber sie kann manchmal, in bestimmten Situationen oder bestimmten Kontexten, auch äußerst negative Folgen zeitigen. Es gibt Menschen, die zu keinem Zeitpunkt in ihrer Biografie Religion nötig haben, um ihre volle spirituelle Entwicklung zu entfalten. In der bisherigen Menschheitsgeschichte bildeten diese Letzteren allerdings immer nur eine sehr kleine Minderheit. Ich meine, wirklich spirituelle Menschen waren und sind sowieso bisher immer und überall nur eine relativ kleine Minderheit - aber die weitaus meisten der Betreffenden sind über die eine oder andere traditionelle Religion schließlich zur wahren Spiritualität gekommen.

    Freud sprach von den drei großen narzisstischen Kränkungen der menschheitlichen Kollektivseele, die die Neuzeit charakterisierten: die kopernikanische, die darwin’sche und die durch ihn, Freud, selbst ausgelöste. Ich würde aus heutiger Sicht noch mindestens fünf weitere vergleichbare Kränkungen hinzufügen: die „industrielle Kränkung (der Mensch kann seine Würde nicht länger durch die Individualität seiner produktiven Schöpfungen gewinnen, zuerst wegen der extrem erhöhten Arbeitsteilung nicht mehr, später wegen der Robotik nicht mehr, die „noch eins drauf setzte und auch den ganzen Existenz-Typus des klassischen „Arbeiters des 19. Jahrhunderts im Grunde vollends abschaffte); die „Atomwaffen-Kränkung (machtbegründende Dominanz wird völlig und prinzipiell von zwischenmenschlicher körperlicher Überlegenheit entkoppelt); die „Gentechnik-Kränkung (der Mensch kann theoretisch den körperlich nahezu perfekten Menschen künstlich erschaffen, erlebt sich selbst aber in der Daseinspraxis dennoch weiterhin, und fortan eigentlich nur umso stärker, als alles andere als perfekt); die „Total-Ambiguitäts-Kränkung (die kulturgeschichtlich völlig neuartige nahezu grenzenlose digitale Wissensdistribution, „post-redaktionelle Medienwelt und Social-Media-Kommunikation gestattet uns keine effektive Selektion der auf uns einprasselnden Informationen mehr und beraubt uns dadurch unseres geistigen Kompetenzgefühls, was schlicht unser evolutionär immer noch aus der Steinzeit stammendes menschliches Nervensystem überfordert); und die „Klimawandel-Kränkung (der Mensch erfährt seine - unter anderem biblisch begründete - alte Vorstellung, „sich die Erde untertan machen zu können oder gar zu sollen, tief ernüchtert als Illusion, weil der Planet Erde mit seiner ökologischen Komplexität der Menschheit eine dynamische Seite zeigt, die das menschheitliche Herrschafts-Selbstbewusstsein kategorisch demütigt, indem sie insbesondere die menschliche Fähigkeit zur massenhaften effektiven Kooperation mit dem Ziel einer konstruktiven Bewältigung globaler Herausforderungen deutlich überfordert und diese menschliche Fähigkeit in deren Unzulänglichkeit und weitgehender ökologischer Ohnmacht im Grunde als Unfähigkeit bloßstellt) - lauter Kränkungen, durch die der Mensch sich seiner eigenen Begrenztheit und Selbstüberforderung oder „Selbstüberreizung immer noch peinvoller bewusst geworden ist, beziehungsweise sich selbst diese immer noch schmerzlicher durch eigene Verursachung erfahrbar gemacht hat. Wenn wir uns heute, seit dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, in einer zwar noch längst nicht mehrheitsfähigen, aber doch stärker als je zuvor gesamtgesellschaftlich spürbaren Bewegung der Rückkehr hin zur uralten rein-spirituellen - das heißt die formell-religiöse Bindung der Spiritualität transzendierenden - Tradition der Menschheit befinden, so muss diese „Rückkehr vor dem, im Vergleich mit aller älteren historischen Vergangenheit unleugbar kategorial veränderten, neuzeitlichen Hintergrund der drei freudschen und „meiner fünf weiteren kollektiv-narzisstischen Kränkungen doch unbezweifelbar auf eine völlig neue Art und Weise, mit einer gewissen völlig neuen geistigen Qualität erfolgen. In Wahrheit ist keine Rückkehr jemals „nur" eine Rückkehr - aber diese kann es besonders wenig sein.

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    Natürlich kann man darüber schmunzeln (oder sich sogar darüber aufregen) dass heute viele Menschen von sich sagen: „Ich bin nicht

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