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Sarudza
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eBook351 Seiten5 Stunden

Sarudza

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Über dieses E-Book

"Ich stand wohl eine halbe Ewigkeit vor der verschlossenen Tür. Mein Zeitgefühl verschwand mit dem Schließen der Türe. Es war dunkel. Schwarz.
Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, entdeckte ich einen schwachen Lichtstrahl – ein Loch in der Wand, sollte das ein Fenster sein?"

Gloria lebt in Harare, der Hauptstadt von Simbabwe. Dort managt sie das Haus "Tatenda", wo Frauen in schwierigen Situationen Zuflucht, Hilfe und Unterstützung finden. Die Dinge gehen ihren gewohnten Lauf, bis sie eines Tages durch eine Verkettung von merkwürdigen Ereignissen tief in den simbabwischen Dschungel von Paragrafen und Korruption gezogen wird. Der Staatsgewalt und undurchschaubaren Vorgängen ausgeliefert, stellt sie sich den Herausforderungen, aber wie macht man weiter, wenn einem immer wieder Steine in den Weg gelegt werden, deren Sinn man nicht erkennt?
Sarudza, das bedeutet "Wähle" – eine wunderbare Geschichte über die Erkenntnis, dass der Reichtum von Simbabwe nicht nur in seinen Bodenschätzen oder der wunderbaren Natur, sondern auch in den Menschen liegt, die es bewohnen, über das Wissen, dass es immer ein Licht am Ende des Tunnels gibt und darüber, dass am Ende immer alles einen Sinn ergibt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Apr. 2023
ISBN9783347915930
Sarudza
Autor

Claudia van Ruiten

Claudia van Ruiten, geboren in Bremen, wuchs als viertes von fünf Kindern in Norddeutschland auf. Trotz der vielen Kinder reiste die Familie in ihrer Kindheit viel, was den Grundstein für die Abenteuerlust der Autorin legte. Nach einer Ausbildung zur Druckgrafikerin, die sie nur 1 Jahr lang absolvierte, wechselte Claudia in den Bereich Grafikdesign und Werbung und blieb diesem Medium 23 Jahre lang treu. Ihr Buch beschreibt vor allem die kulturellen und sozialen Unterschiede in Afrika und die damit verbundenen Probleme, aber auch die Lebensfreude der Menschen, denen sie auf ihren Reisen begegnet ist. Die Familie, in die man hineingeboren wird, kann man sich nicht aussuchen, aber bald darauf kann man sich alles andere aussuchen. Claudia van Ruiten wurde in Deutschland geboren und in Afrika wieder geboren.

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    Buchvorschau

    Sarudza - Claudia van Ruiten

    Martin/a

    Einige Bäume in diesem verwilderten Garten waren wohl mehr als zehnmal so alt wie das Haus in der Mitte dieses kleinen Urwaldes. Das Haus, was mich vor über einem Jahr auf merkwürdige Weise angezogen hatte. Es war leider nicht alt, was ich eher bevorzuge bei Häusern. Dafür hatte es das andere Extrem. Es war lichtdurchflutet, modern, einladend offen. Es war ungewöhnlich freizügig, aufmunternd und dazu von der Straße aus sichtbar. Was vielleicht damals das Prägnanteste war, weil hier alle Häuser hinter turmhohen Mauern verborgen blieben, besonders in diesem Stadtteil von Harare.

    Die Mauer hatten wir dann doch schnell um das gesamte Grundstück gezogen. Aber diese dann auch ebenso schnell mit Kletterpflanzen bewachsen lassen, weil wir alle den Anblick und damit verbunden Grund wenigstens aus unserem Blickfeld verbannen wollten. Dass wir eine Grenze haben mussten, glaubte ich nicht. Dennoch fügte ich mich dem allgemeinen Verständnis, dass man nur so unliebsame Gäste einer genaueren Kontrolle vor dem Eintritt unterziehen konnte. Denn das Bewusstsein, dass wir keine normalen Nachbarn waren und diese Tatsache schon oftmals brenzlige Situationen verursachte, war Erinnerung genug. So wirkte die fast drei Meter hohe Wand aus Efeu wie der Schutzwall einer – unserer – verborgenen, heilen Welt.

    Den Tag, an dem ich mit der alten Dame das Haus zum ersten Mal betrat, erlebte ich oft wieder und wieder, da es mein Leben dramatisch schön veränderte. Vor gut zwei Jahren hatten Ambuya und ich hier im Garten per Handschlag beschlossen unsere Wünsche, Pläne und Träume in die Tat umzusetzen, was mit einer Begehung des Hauses anfing. Und was war das für ein Haus. Groß, lichtdurchflutet und modern, wie ich es hier nie erwartet hätte. Ihr Mann, welcher sechs Jahre zuvor verstarb, war ein großer Bewunderer von klarer Architektur und Inneneinrichtung, die er nach einem Arbeitstrip aus Schweden und damit verbundenen Besuch bei Ikea mitgebracht hatte. Das brachten all diese Klarheit, Kühle und allen voran Licht in diesen Räumlichkeiten voll zum Ausdruck. Er hatte tatsächlich mal mit dem Gedanken gespielt, Ikea nach Simbabwe zu holen. Nun sei daraus nichts geworden, aber mit dem Haus und der Einrichtung hat er einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet und eine Tür zu einer anderen Kultur geöffnet. Es kam tatsächlich vor, dass Besucher, die entweder Hilfe suchten oder einfach aus Neugierde das Haus und deren Bewohner kennenlernen wollten, hier erst mal nur staunten.

    Als der Einbau von Großküche und Sanitäranlagen stattfand, hatten wir manchmal noch Tür und Tor Besuchern geöffnet. Mit großen Augen und weit geöffneten Mündern betrachteten diese dann die Fenster, die hier nicht vergittert, sondern groß und bis zum Boden reichend waren. Der ungewöhnliche Fußboden bestand aus hellem Holz und eben nicht, wie man hier überall sah, dunkelbraun oder dunkelrot und auf Hochglanz polierter Steinfußboden. Da die Rote Erde alles dunkelrot färbt, macht das wohl Sinn, aber wir wollten es anders. Und es klappte. Die Rote Erde Afrikas blieb im Garten, da jeder, der das Haus betrat, seine Schuhe auszog. Und irgendwas passiert mit dem Menschen, der plötzlich in Socken oder barfuß hier aus dem kleinen Empfangsraum in die Halle eintritt. Erst war jeder etwas unbeholfen, kurz danach ungezwungener und dann plötzlich fast so neugierig wie ein kleines Kind. Die Schaukeln und ein Baumhaus, welche den ältesten Baum schmückten, verheißen ein Willkommen von Kindern und die Hängematten, wie Windspiele in anderen Bäumen, gaben das Gesamtbild von Ruhe und Ausgeglichenheit wieder, was unsere Gäste brauchten.

    Ambuya und ich wollten einen klaren Unterschied schaffen zwischen der rationalen Welt hier drinnen und der ungezwungenen vor der Tür. Dort draußen sollte der Natur, dem Spieltrieb und der Stille freien Lauf gelassen werden, damit für jeden ein einfacher Weg offen steht sich der doch manchmal klinischen Atmosphäre im Haus spontan zu entziehen. Obwohl das Haus für viele zu einer Oase in der Wüste der Gewalt wurde, so war es der Garten ums Haus, der alle mit neuer Energie versorgte und ein Heilungsprozess in den verwundeten Seelen auslöste. Unser Haus mit dem Namen „Haus Tatenda war ein Dankeschön an den Erbauer und die Großzügigkeit der Ehegattin des Besitzers. Vor allem war es das, was alle sagten, die uns irgendwann verließen: „Danke / „Tatenda. Dazu kam, dass Ambuyas Urenkel „Tatenda und die damit verbundene Tragödie schließlich der Auslöser war, um hier einen Platz zu schaffen, für Menschen – vornehmlich Frauen, mit deren Kindern – die nach Schutz suchten. Im unterem Geschoss befanden sich sieben Räume, die alle durch Schiebetüren verbunden waren und mit einem Handgriff in einen wahren Ballsaal verwandelt werden konnten. Hier wurde das untergebracht, was bei unseren Besuchern von Nöten war. Vor allem handelt es sich dabei um professionelle Hilfe, in Form von medizinischer und psychologischer Natur. So stationierten wir eine Ärztin, eine Psychologin und eine Lehrerin, die sich der Kinder annahmen. Aber die wohl wichtigste Person war unsere Anwältin Marcy. Alle außer der Lehrerin oder Kindergärtnerin kamen auf Abruf und arbeiteten auf Stundenbasis, da etwas anderes aus finanziellen Gründen nicht möglich gewesen wäre. Aus Erfahrung wusste ich, dass es sich in fachkundiger, aufgeräumter Umgebung besser arbeiten lässt. Was am Anfang für einige, die hier Hilfe suchten, etwas Neues, vielleicht sogar etwas Unheimliches hatte. Sie waren es nicht gewohnt von qualifizierten, freundlichen und hilfsbereiten, dazu wildfremden Menschen das zu bekommen, was sie von engsten Familienangehörigen nicht bekamen und genau deshalb bei uns im „Haus Tatenda" strandeten. Das Untergeschoss war der formelle Teil des Hauses, die obere Etage der familiäre. Die erste Etage war ausschließlich für die Mütter und deren Kinder sowie weibliches Personal bestimmt. Männer hatten nur im unteren Geschoss Zutritt und auch die wurden auf Herz und Niere geprüft von den einzigen vier Männern, die auf dem Grundstück erlaubt waren.

    Zwei uniformierte Angestellte – Lyton und Bruce – , die für die Sicherheit zuständig waren und sich auch als Gärtner betätigten. Dann war da unser Hausmeister, der sich zwar ohne Wenn und Aber im ganzen im Haus bewegen konnte, den ersten Stock aber aus Respekt nie betrat. Und die wohl wichtigste männliche Person, der wir das alles hier zu verdanken hatten: Tatenda, der mittlerweile fast drei Jahre alt war. Er stolzierte mit erhobener Brust und anmutender Würde durchs Haus, allzeit bereit dieses – wie ein Kind seine kleine Legostein-Burg – vor eventuell bösen Eindringlingen zu verteidigen. Das „Mutter und Kind"-Geschoss war fast vollständig zum Bettlager umfunktioniert worden. Hier macht es keinem etwas aus, direkt neben dem anderen zu schlafen. Es erinnerte viele wohl an die Kindheit. Dort lag man in Hütten, auf engstem Raum zusammen und fühlte sich so geborgen. Für diejenigen, die anfangs keine Nähe ertragen konnten, waren unterm Dach vier kleine Einzelzimmer hergerichtet. Außerdem war die obere Etage mit zwei Badesälen der Superlative bestückt: jeweils zehn Duschen, Waschbecken und Toiletten nach modernstem Standard. Auch das versetzte alle in fast so was wie Ungläubigkeit. Und dass es hier Waschbecken und Toiletten in kindgerechter Größe und Höhe gab, war für viele neu. Aber die erste Hemmschwelle war schnell überwunden, denn Tatenda ließ es sich nie nehmen jedem alles genau zu erklären. So wurde fast spielerisch das Unbekannte entdeckt, ausprobiert und für gut befunden.

    Im gesamten Haus war alles nur auf das Mindeste beschränkt. Und dass nicht nur, um Geld zu sparen, oder wegen Platzmangel. Es fühlte sich richtig an, nicht alles zu überladen und perfekt zu haben. Wer hier herkam, hatte sowieso nur die Kleider auf dem Leib und ein oder zwei Kinder an der Hand und kam aus armen Verhältnissen. Bei uns war es eben diese Sparsamkeit, die auf manche ärmlich wirkte. Aber somit auch eine eher bekannte Umgebung, wenn man von den Badezimmern und Küche absah. Jede Mutter landete hier, weil es der letzte Strohhalm war, an den sie sich klammern konnte. So kam auch Martin hierher, der heute die gute Seele im Haus ist, für alles und jeden ein offenes Ohr hat und nebenbei alles und jeden repariert. Denn es sind nicht nur die Wasserrohre oder Lichtschalter, die er repariert: Es kam schon vor, dass er ein gebrochenes Herz mit simpler männlicher Logik wieder zusammensetzte. Martin war der achte Gast, dabei der erste und einzige Männliche, der seinen Weg hier herfand. Und das, weil er nur dem Anschein nach ein Mann war. Hier, wie in vielen anderen Teilen Afrikas oder auch anderswo auf der Welt, ist Homosexualität oder Transsexualität immer noch strafbar. Aber Martin war nicht schwul, er war eine Frau versteckt im Körper eines Mannes. Das hatte die Psychologin nach nur zwei Sitzungen rausbekommen. Martin war damals weder überrascht noch erschrocken. Für ihn bekam plötzlich alles einen Sinn. Die meisten Frauen im Haus betrachteten ihn erst als krank, verrückt oder manche sogar als einen Teufel oder wenigstens Besessenen. Bis sie ihn kennenlernten. Er hatte genauso das Pech, wie die anderen Frauen hier im Haus, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und um es sich noch schwieriger zu machen, hatte er sich auch noch die falschen Freunde ausgesucht, denn Familie hatte er schon lange nicht mehr. Also war unser Hausmeister bei eine schlanke, durchtrainierte, bildhübsche 26-Jährige mit einem sportlichen Kurzhaarschnitt, die mit allen Werkzeugen per Du war und nach der zweiten Woche nur noch Martina gerufen wurde. Tatenda war der Einzige, der diesen Übergang entweder nicht wahrnahm, wahrscheinlicher aber als völlig natürlich empfand. Kinder haben für so etwas einfach einen sechsten Sinn.

    Glaube/Wille versetzt Berge

    Ambuya war wie der Großteil der afrikanischen Bevölkerung sehr gläubig. Und deshalb gab es hier Kirchen an jeder Straßenecke. Es sind keine Gebäude, die irgendeinen für uns so typischen christlichen Anschein haben. Es sind große oder kleine, umgebaute Privathäuser oder einfach durch Seile abgegrenzte Felder neben der Straße, die mit roten oder weißen Fahnen darauf aufmerksam machen, dass hier gepredigt wird. Es gibt aber auch die Gebäude, die an ein Kongresszentrum erinnern und nur durch den Schriftzug am Eingangstor einen Hinweis darauf geben, wer hier der Herr im Hause ist. Diese Gebäude stehen im großen Widerspruch zu der Armut im Lande. Was dennoch keinen von den vielen Schafen jeden Sonntag oder mehrmals die Woche daran hindert, dem guten Mann an der Spitze sein Gehör wie hart erarbeitetes Geld zu reichen.

    Eines dieser Schafe klopfte an einem später regenreichen Montagnachmittag an unser Tor. Nachdem Lyton, unser Mann für die Sicherheit, Martina Bescheid gegeben hatte, wurde ein junges Mädchen von ungefähr 16 Jahren an der Hand von Martina in mein Büro gebracht. Ambuya war mit Tatenda schon vor einer Stunde gegangen und so nahm ich mich dem Häuflein Elend an, bis ich ihren Zustand erkannte. Unsere Ärztin, die gerade das Haus verlassen wollte, sowie Martina und ich waren anwesend als Josephine in hochschwangeren Zustand und tropfnass im Türrahmen stand. Schnell erkannten wir, dass es sich bei der Pfütze unter ihr um kein Regenwasser handelte. „Bitte helft mir, kam über ihre Lippen, dann musste sie sich am Türrahmen abstützen und fing augenblicklich an zu weinen. Martina hob ihr vorsichtig unter die Arme mit einem fragenden Blick in Dr. Sitas Richtung, wo sie mit dem Mädchen nun hinsollte. „In mein Behandlungszimmer, antwortete sie. Dr. Sita und ich gingen im Laufschritt hinter Martina hinterher, die Josphine behutsam auf ihrem Arm trug, als hätte sie ein Kleinkind im Arm. Was sie auch irgendwie war und nun musste sie den Übergang ins Erwachsenleben viel zu früh ausführen, als sie sich bestimmt gewünscht hatte. Und die Mitverantwortlichen, so viel war mir klar, werden hier ebenso überraschend am Tor stehen, um die verlorene Tochter zurückzufordern. Dr. Sita und Martina brachten in nur zwei Stunden ein gesundes kleines Mädchen zu Welt, was für uns alle eine große Überraschung war, da alles so schnell ging, bis Josephine uns erzählte, dass sie seit mehr als 24 Stunden in den Wehen lag. Und das ganz allein. Die sieben weiteren Mütter, die alle Kinder im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren bei sich hatten, begrüßten die neuen Mitbewohner liebevoll und wollten der jungen Mutter das Kind abnehmen, um es nach ihrer Tradition symbolisch in der Welt aufzunehmen. Unter normalen Umständen würde Josephine mit ihrem Baby nun zu ihrer Mutter ziehen und dort für einen Monat alles lernen, was man wissen muss, um ein Baby aufzuziehen, getrennt von dem Vater des Kindes. Ich wollte den Raum verlassen, um den Anwesenden Platz und Privatsphäre zu geben, damit man tat, was hier nun aus ihrer Sicht zu tun war, als ich eine Stimme vernahm, die alles änderte.

    „Nein ich brauche und will deren Hilfe nicht, vernahm ich hinter mir eine Stimme, die im Ansatz an die von Josphine erinnerte. Denn diese Stimme sprach glasklares Deutsch. Ich drehte mich um und glaubte, eine Täuschung erlebt zu haben. Aber Josephine schaut mich an und dann ihre Tochter, die sie im Arm hielt. „Ich werde mir ganz sicher nicht von irgendjemand ungefragt sagen lassen, wie ich meine Tochter zu erziehen habe. Denn mit einem einfachen Wickelkurs ist das nicht abgetan, was man dort lernt. Ich habe keinen Mann, der mich dazu zwingen könnte, über einen Monat mit meiner Mutter zusammenzuleben, die ich ja auch schon lange nicht mehr zu meiner Familie zähle. Und diese Frauen mögen es gut meinen, aber ich möchte das einfach nicht, war ihr letztes Wort zu dem Thema. Alle im Raum blieben wie angewurzelt stehen und verstummten. Ihre überraschten und fragenden Blicke huschten zwischen Josephine und mir hin und her. Als ob ich das hier hätte aufklären können. Es war im Haus bekannt, dass ich aus Deutschland kam und da Josephine hier einen ähnlichen Wortschwall von sich gegeben hatte, war wohl Erklärung genug, dass ich sie verstanden habe. Nun akustisch verstanden, ja. Aber wirklich begriffen, nein.

    „Darf ich fragen, warum du so gut deutsch sprichst?, fragte ich sie. „Und warum du damit erst jetzt rauskommst? „Ich wusste nicht, was mich hier erwartet und wer du bist. Aber vor allem ist Shona meine Muttersprache. Und ich stand etwas unter Druck, einen klaren Gedanken zu führen. Es tut mir leid, dass ich erst jetzt meine Deutschkenntnisse preisgebe, antwortete sie und gab mir mit einem entschuldigenden Lächeln zu verstehen, dass ihr das wirklich leidtat. Ich setze mich neben sie auf das Bett und schaute in das kleine, schlafende Gesicht des drei Stunden alten Säuglings. „Und der Vater, wann willst du ihm sagen, dass er eine kleine Tochter hat?, fragte ich sie. „Als er erfuhr, dass ich schwanger war und dass er Vater wird, wurde mir klar, dass ich alleine damit umgehen muss. Was mehr könnte ich ihm denn noch berichten. Außer dem Geschlecht und den Namen für meiner Tochter. Sie soll Emma heißen", war ihre etwas spröde Antwort, die mit Erwähnung des Namens für ihre Tochter in einen weichen, mütterlichen Ton wechselte.

    Die Frauen im Raum, die immer noch auf eine Antwort warteten, wurden von Dr. Sita gebeten doch wieder nach oben zu gehen und die junge Mutter allein zu lassen. Ohne Widerspruch, aber etwas ungläubig verließen alle das Zimmer mit Martina, die sicherstellte, dass alles oben ruhig blieb. Nun waren Dr. Sita und ich allein mit der jungen Mutter und Emma. Josephine erzählt uns beiden, dass sie vor einem Jahr an einer Straßenecke angefahren wurde. Es war einfach ein Unglück. Niemand hatte wirklich Schuld und es war auch nichts Schlimmes passiert. Sie hatte eine kleine Schürfwunde am Bein und der Fahrer bemühte sich wirklich sehr um sie. Dieser Fahrer war ein junger, angehender Lehrer, der leider in Josephine etwas sah, was sie nicht war: achtzehn Jahre. Sie war gerade mal fünfzehn, als sich die beiden kennenlernten und Hals über Kopf ineinander verliebten. Sie waren verliebt und wie das dann eben so ist: man ist blind. Als sie dann schwanger wurde, kam die Erleuchtung und damit verbundene Ernüchterung sehr schnell. Der Lehrer wollte nichts mehr von ihr wissen und verschwand einfach. Josephine suchte Hilfe bei ihrer Familie, suchte die Schule auf, wo die Liebe ihres Lebens arbeitete, aber alle Bemühungen blieben ohne Erfolg. Dennoch Josephine hatte viel von Tendai, ihrer ersten großen Liebe, gelernt. Er hatte sie angespornt durch ein Magazin, das sie gefunden hatte, Deutsch zu lernen. Das Magazin hieß EMMA. Seitdem hatte Josephine überall gearbeitet, wo es ihr möglich war. Die letzten sechs Monate in einem deutschen Haushalt, wo sie nicht nur Deutsch lernte, sondern auch Freundschaften aufbaute, die sie hierher brachte. Sie wollte der Familie nicht zur Last fallen und hatte nur diesen Vorschlag, das Haus Tatenda aufzusuchen, akzeptiert. Die kurze Beschreibung ihrer letzten zwölf Monate und das Gebären ihrer Tochter machten sie so müde, dass sie in einer kleinen Redepause von der einen auf die andere Sekunde in einen Tiefschlaf fiel. Dr. Sita und ich betteten die kleine Emma in einen Korb, den Martina liebevoll hergerichtet hatte, und wir verließen Mutter und Kind.

    „Ja das ist so eine Geschichte, wie man sie leider nur zu oft hört. Mit der Ausnahme, dass ich noch nie jemanden kennengelernt habe, der eine Sprache und dazu Deutsch in einem halben Jahr lernt", war das Erste, was ich Dr. Sita und Martina auf dem Flur mitteilte. Dr. Sita meinte, dass Josephine eine für ihr Alter unglaublich starke und selbstbewusste junge Frau sei. Gesundheitlich ist sie ebenso robust und nach gesundem langem Schlaf, wenn es dann Emma zuließe, sollte sie in wenigen Tagen ohne Probleme ihr Leben in die Hand nehmen können. Das Pragmatische lag unserer Ärztin sehr, in ihrer Weltanschauung sah sie den Körper von der Seele getrennt. Wenn man ohne Medikamente auskam, dann war aus Dr. Sitas Sicht alles in Ordnung. Oft sollte sie damit recht behalten, aber eben auch nicht immer. Hier handelte es sich trotz dem, was wir gerade erfahren hatten, bei Josephine, um ein junges Mädchen, das in ihren jungen Lebensjahren ein vieles mehr an Lebenserfahrung und Willensstärke aufwies, als normal für ihre Altersgruppe ist. Und dieses Kind wollte ich nicht in zwei Tagen auf die Straße setzen. Ich blieb über Nacht im Haus und rief kurz Daniel an.

    Am nächsten Morgen saßen Martina und in der Küche, genossen in britisch-afrikanischer Manier unseren Tee mit zu viel Zucker und Milch. Wir saßen uns lange stumm gegenüber. Als Martina aufstand, um kurz nach Josephine und dem Baby zu schauen, blieb sie im Türrahmen stehen, drehte sich zu mir um und sagte: „Ich kenne die Familie. Wir sollten uns besser darauf gefasst machen, dass die es anders handhaben werden als die Familien, die wir bisher hier zu Besuch hatten. Diese Familie wird um Emma kämpfen, nicht um Josephine."

    Josephine und Emma hatten den Umständen entsprechend eine ruhige Nacht verbracht. Sie saß von einigen Müttern umringt im Garten. Die Frauen hatten vor allem mit Wäsche für das Baby geholfen und jeden guten Ratschlag, was die junge Mutter tun oder lassen sollten, auf Anraten von Martina für sich behalten. Ich stand in der Küche und beobachtete die junge Frau, die über Nacht zu einer Mutter herangewachsen war. Sie hielt ihr Kind so sicher und vertraut, als ob es schon diverse Male getan hätte. Martina kam zurück, goss den Tee in den Abguss und machte Kaffee. Sie gesellte sich zu mir, reichte mir einen Becher Kaffee und schaute ebenso in den Kreis der Mütter und Kinder. „Ich wäre eine gute Mutter, glaube ich‚ sagte sie und grinste mich über den Becherrand an. „Ja, das glaube ich auch. Was mich allerdings im Moment brennend interessiert ist, woher du Josephines Familie kennst? Und warum glaubst du, dass die uns hier Probleme machen könnten?, fragte ich sie mit einem etwas ängstlichen Unterton. „Ich kenne die Familie des Vaters des Babys, lautete ihre Antwort. Jetzt war meine Aufmerksamkeit ganz und gar auf Martina gerichtet. Mit einem fragenden Gesicht, was offenbar nun von ihr zu sagen erwartet wurde, setzte ich mich ihr gegenüber an den Küchentisch. „Ich habe die beiden mehrmals zusammengesehen. Auf dem Flohmarkt in Avondale. Mir schien die beiden sehr glücklich zu sein, eben ein junges verliebtes Paar. Das war eben, bevor Josephine schwanger wurde. Erst war ich mir nicht sicher, woher ich den jungen Mann kannte, aber er kam mir von Anfang an bekannt vor. Dann habe ich ihn einmal ohne Josephine gesehen, aber dafür mit seinem Vater, Frank Broderick, fuhr Martina mit ihrer Erklärung fort. Kurz schien es so, als ob der Boden unter mir an Stabilität verlor. War ein Erdbeben zu erwarten? Ich schaute auf den Becher, den ich in den Händen hielt, und stellte fest, dass der Kaffee kleine Wellen schlug.

    „Hallo, hörte ich jemand sagen. Damit wurde meine Welt wieder stabil. Daniel stand im Türrahmen und hielt einen großen Blumenstrauß aus langstieligen, blassrosa Rosen in der Hand. „Der ist leider nicht für dich, Gloria, diesmal, sagte er und gab mir einen Kuss. „Ich dachte Josephine und Emma würden sich hier rüber freuen, erklärte er seinen Spontanbesuch und fing an eine Vase für den wunderschönen Strauß zu suchen. Wie ich diesen Mann liebte, konnte ich kaum in Worte fassen, aber jedes Mal, wenn er so etwas tat, dann konnte es der Rest der Welt in meinem Blick sehen. Was Martina mit den Worten „Muss Liebe schön sein. Zumindest Eure! Kommentierte. Daniel arrangierte die Rosen in einer Vase und fragte: „Welches Zimmer hat sie? – „Lass nur Daniel, ich bringe sie rauf. Da ist noch Kaffee in der Kanne! Mit den Worten und der Vase verließ Martina die Küche.

    „Was ist los? Du siehst aus, als ob du Neuigkeiten erfahren hast, die du nicht erwartet hattest. Und ich kann mich kaum daran erinnern, dass das jemals der Fall war, beendete er seine fürsorgliche Frage und küsste mich erneut. „Ich habe eben von Martina erfahren, wer der Großvater von Josephines Baby ist, beantworte ich Daniels Frage und ließ mir Kaffee nachschenken. „Der Großvater von Emma ist Frank Broderick, schloss ich die Erklärung über meinen bleichen Gesichtsausdruck. Nun musste auch Daniel kurz innehalten. „Wie kommt das zustande? Und woher weiß Martina das?, fragte Daniel, nachdem er einen Keks gegessen und einen Schluck Kaffee getrunken hatte.

    Er war immer so gelassen, niemals aufbrausend oder ungeduldig. Alles hatte Ruhe bei ihm und sehr viel mehr Übersicht, als ich es je bei einem Menschen für möglich hielt. Ihn nahm ich mir immer zum Vorbild, da es alles so viel entspannter und gelöster machte. Auf einmal waren alle Herausforderungen so leicht zu bewerkstelligen, dass das Leben mit Daniel eine reine Freude war. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch eine Zufriedenheit empfunden wie mit ihm. Als mein Sohn noch sehr klein war und nur mein Kind und ich von Bedeutung waren, war dieser komplette Frieden auch vorhanden. Es liegt wohl in der Natur der Dinge, dass man so empfindet und alles mit Ruhe anging, da es eben besser war. So was es wenigstens bei mir. Und so war es mit Daniel im privaten Bereich. Beruflich hatte er sehr wohl seine Grenzen und Anforderungen sowie Erwartungen. Auch dort immer sachlich und mit Bedacht. Und lieber zwei Nächte über eine Herausforderung schlafen, als vorschnell das Falsche oder etwas Unüberlegtes sagen. Was für mich als einen Bauchmensch, der gerne spontan Entscheidungen fällt, schon mal eine Zwangspause heraufbeschwor. Aber eine Fruchtbare, wie ich erkannte.

    „Warum Martina das alles weiß, erschließt sich mir im Moment auch noch nicht. Aber sie weiß es. Und ich glaube ihr, denn mit so was macht man keine Scherze. Sie kennt ja die Hintergründe, warum Ambuya und ich dieses Haus für nötig hielten. Sie weiß aus ihrer eigenen Erfahrung, zu was Menschen fähig sind. Und dass in meinem Fall, Frank Broderick war, ist ihr bekannt, erwiderte ich auf Daniels fragenden Blick. „Ja, wenn jemand leidvolle Sachkenntnis in dem Bereich hat, dann ist es Martina, resümierte er. Daniel stand, auf nahm mich in den Arm und sagte: „Alles wird gut. Und ich werde heute Abend was Schönes kochen. Du wirst dem Allen schon auf den Grund kommen, wenn es denn zu dem Wohlbefinden von Mutter und Kind beiträgt. Und was immer auch noch an Tageslicht kommt, solange Mutter und Kind gesund sind und hier fürs Erste ein Dach über den Kopf haben, wird sich auch regeln lassen." Er küsste mich und winkte der Frauenschar im Garten zu.

    Gerade als er die Küche verlassen wollte, kam ihm Josephine mit dem Baby auf dem Arm entgegen. „Vielen Dank für die wunderschönen Rosen, bedankte sie sich in Deutsch. In seinem etwas gebrochen Deutsch antwortete er: „Darauf, dass du und Emma nur die Dornen erleiden müsst, die an Rosen wachsen! Er bekam von Josephine das Kind überreicht und Daniel hielt die Kleine so sicher, als wäre es erst gestern gewesen und nicht zwanzig Jahre dazwischen waren, dass er ein Kind in dieser Armhaltung getragen hatte. Das Gefühl und die damit einhergehende Körpersprache verliert man nie, dachte ich, als ich ihn beobachte.

    Nachdem Daniel uns verlassen hatte, setzte sich Josephine zu mir an den Tisch und stillte die kleine Emma. „Kennst du die Familie von Emmas Vater?, fragte ich vorsichtig, aber die Körpersprache von Josephine verriet mir, dass sie entweder keine Ahnung hatte oder nicht genug wusste, um hier zusammenzuzucken. „Ich weiß, dass Tendai einen weißen Vater hat, der eine Tabakfarm besaß, die er durch den Enteignungsprozess der Regierung verloren hatte. Tendais Mutter hatte damals auf der Farm im Büro gearbeitet. Tendai glaubt, dass der Farmer dachte, dass sie eine Europäerin war, weil sie ja einer großen Familie von Mischehen entstammt, wie man so sagt. Er glaubt auch, dass der Mann nie etwas mit ihr angefangen hätte, wenn er gewusst hätte, dass sie alles andere als europäisch ist. Sie war immer stolz auf ihre Herkunft. Er war und ist wohl noch ein Rassist. Eine gehobene Meinung hat er nicht von seinem Vater, aber respektiert ihn wohl aus traditionellen Gründen. ‚Tja, man kann sich eben seine Familie nicht aussuchen, sagte er oft. Tendais Mutter hatte eine Affäre mit dem Farmbesitzer und das Ergebnis war Emmas Vater. Aber wer er genau er ist und wie er heißt, weiß ich nicht und ist mir auch völlig egal. Weder meine, noch Tendais Familie wird irgendwelchen Einfluss auf unsere Leben haben, schloss sie ab und widmete sich wieder dem kleinen warmen Bündel auf ihrem Arm.

    Ich dachte kurz über diese Neuigkeiten nach und hoffte nicht durch meine offene Art preiszugeben, was das alles bei mir auslöste. Frank hatte einen Sohn, von dem womöglich keiner etwas wusste. Denn ich war mir sicher, dass eine Affäre mit einer Farbigen in seinem Kreis mehr als nur Bestürzung ausgelöst hätte. Eher einen Erdrutsch. Frank, der trotz seiner scheinbar ach so toleranten Grundhaltung der schwarzen Bevölkerung gegenüber, lieber heute als morgen alle wieder aufs Feld jagen würde. Dort sollten sie unter seiner Fuchtel mit Angst im Nacken arbeiten und dankbar dafür sein. Das galt nicht nur für die Schwarzen auf dem Feld. Es handelt sich um eine fragwürdige Tatsache, dass alle in seinem Dunstkreis eine gewisse Furcht vor Frank empfanden. Da gab es keine Unterschiede zwischen dem Feldarbeiter, Tochter oder der Lebenspartnerin.

    Aber das dieses Gefühl nun wieder einmal über einem Säugling in mir hochstieg, war erschreckend.

    Marcy stürzte in die Küche, füllte sich einen Becher mit Kaffee und rannte ebenso abrupt aus der Küche, wie sie hereinkam. „Ich komme sofort zurück und erkläre es euch, rief sie auf dem Weg zurück in ihr Büro. Ich beobachtete Josephine, wie sie die kleine Emma satt fütterte, ihr zufrieden einen Kuss auf die Stirn gab und sie dann mir überreichte. Sie drapierte ihr Oberteil zurecht, nahm mir Emma wieder ab und sagte: „Ich lege mich mit ihr etwas hin. Nachdem ich alleine in der Küche saß, versuchte ich alle meine Gedanken zu sortieren. Ich verstand noch nicht ganz, warum Martina glaubte, dass wir Probleme mit Josephines Schwiegervater in spe bekommen sollten. Frank wäre ja wohl der Letzte, der ein Kontakt zu einem weiteren Sprössling aus seiner im Dunkeln liegenden Vergangenheit aufnehmen würde, damit alles ans Licht kam. Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gesponnen, da fiel Marcy wieder mit schüttelndem Kopf über mich herein. „Du glaubst nicht, was ich heute Morgen, auf dem Weg hierher erfahren habe. Aber komme besser in mein Büro, das wird hier gleich eng."Im selben Moment öffnete sich die Tür hinter mir zum Garten und die Gruppe von Müttern mit ihren Kindern belagerte die Küche, um ihr Frühstück zu bereiten. In Marcys Büro angekommen, setzten wir uns gegenüber an einen kleinen Besprechungstisch, der Marcys Vorliebe für englische Möbel und den englischen Lebensstil widerspiegelte. „Lass mich raten? Dir wurde heute Morgen mitgeteilt, dass der Großvater von der süßen Emma unser alter

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