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Tödlicher Norden: Authentische Fälle aus dem Alltag der Rechtsmedizin
Tödlicher Norden: Authentische Fälle aus dem Alltag der Rechtsmedizin
Tödlicher Norden: Authentische Fälle aus dem Alltag der Rechtsmedizin
eBook289 Seiten3 Stunden

Tödlicher Norden: Authentische Fälle aus dem Alltag der Rechtsmedizin

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Über dieses E-Book

Wie konnte eine Frau einen Kopfschuss in die Stirn aus nächster Nähe überleben?
Warum war die Anzahl der Schuhe in einer Wohnung der Anlass für einen Mord?
Weshalb zog eine intelligente Abiturientin bei der Art und Weise der Trennung von ihrem gewalttätigen Ehemann die Selbstjustiz vor?
Warum wurde ein junger Mann auf dem Nachhauseweg von einer Stadtfeier brutal getötet?
Wie kann eine blutverschmutzte Tablettenverpackung bei der Aufklärung eines Kapitalverbrechens helfen?
Auf welche Art kann eine Bissverletzung einen Täter überführen?
Wie hoch ist der Preis für einen Raubmord?
War der Mord bei der dritten nachgewiesenen Vergewaltigung vorhersehbar?
Welcher Zufall half bei der Entdeckung eines tagelang gesuchten Mörders?
Wie können Rekonstruktionen bei der Aufklärung von schweren Verbrechen hilfreich sein?
Welche Methoden ermöglichen die Identifizierung hochgradig entstellter Opfer und was haben Hausbesuche mit einem Mord zu tun?

Der Rechtsmediziner Fred Zack reflektiert in seinem Buch detailreich, authentisch und fesselnd die spektakulärsten und außergewöhnlichsten Fälle über Mord und Totschlag aus 35 Berufsjahren von der Tatortarbeit über die Begutachtung bis hin zum rechtskräftigen Gerichtsurteil.
SpracheDeutsch
Herausgeberhansanord Verlag
Erscheinungsdatum6. Apr. 2023
ISBN9783947145720
Tödlicher Norden: Authentische Fälle aus dem Alltag der Rechtsmedizin
Autor

Fred Zack

Fred Zack wurde 1959 in Güstrow geboren. Nach dem Abitur und dem Wehrdienst als Sanitäter studierte er Humanmedizin an der Universität Rostock. Anschließend arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtsmedizin der Universitätsmedizin Rostock. Er promovierte 1991, erreichte die Anerkennung zum Facharzt für Rechtsmedizin 1992, wurde 2006 zum Oberarzt ernannt, habilitierte 2012 und erhielt 2019 eine außerplanmäßige Professur für das Fach Rechtsmedizin in Rostock. Seit 2022 arbeitet er als freier Mitarbeiter im aktiven Ruhestand. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Blitzunfälle, der plötzliche Herztod, die ärztliche Leichenschau und Tötungsverbrechen.

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    Buchvorschau

    Tödlicher Norden - Fred Zack

    FALL 1

    Rätselhafter Schusskanal

    Plate 1996

    Ein Dienstag im März 1996. Ich arbeitete mittlerweile neun Jahre im Fach Rechtsmedizin und hatte einen Tag zuvor meinen Dienst in unserer Landeshauptstadt angetreten. Das hieß für mich, dass ich von Montag 7:00 Uhr für die nächsten sieben Tage und Nächte der Ansprechpartner für die Staatsanwaltschaft und die Polizei im Landgerichtsbezirk Schwerin für alle rechtsmedizinischen Fragestellungen war. Eine günstige Autobahnverbindung von Rostock nach Schwerin gab es 1996 leider noch nicht, und so hatte unser Institut in Schwerin für den diensthabenden Arzt eine Wohnung gemietet, in der ich überwiegend den Feierabend nach der Arbeit in unserer Außenstelle verbrachte. Für den Landgerichtsbezirk Rostock gab es zu dieser Zeit einen weiteren diensthabenden Arzt des Rostocker Instituts. 

    Am Vormittag des 5. März bekam ich von der Mordkommission Schwerin den Auftrag, in die größte Klinik der Stadt zu fahren und die 33-jährige Frau Barbara Neubert rechtsmedizinisch zu untersuchen. Frau Neubert hatte der Polizei und den behandelnden Klinikärzten zuvor erzählt, dass ihr am Abend des 3. März zu Hause in Plate, einer größeren Gemeinde in der Nähe von Schwerin, von zwei maskierten Tätern aus kürzester Distanz in den Kopf geschossen worden war. 

    Ich fuhr mit der Erwartung, dass Frau Neubert in Lebensgefahr schweben würde, in das Krankenhaus. Dort wurde ich vor dem Eingang von einem Mitarbeiter der Mordkommission erwartet, der mich begleiten sollte. Als wir auf der Station eintrafen, erlebten wir eine große Überraschung: Frau Neubert kam uns auf dem Flur beschwingten Schrittes selbst entgegen. Das sah zunächst nicht nach einer unmittelbaren Lebensgefahr für das Opfer aus! Die Frau trug an der Stirn ein Pflaster und schien nicht operiert worden zu sein. Sie begleitete uns in einen Untersuchungsraum und ließ sich ruhig auf einen der Stühle nieder, doch sprach sie nicht viel. Ich mochte kaum glauben, dass diese Frau aus kurzer Distanz einen Kopfschuss erlitten haben sollte. 

    Nach einer Rücksprache mit dem Stationsarzt entfernte ich vorsichtig das Pflaster und stellte darunter tatsächlich eine Verletzung fest, die für einen Einschuss typische Merkmale aufwies: Etwa 0,5 Zentimeter rechts der vorderen Körpermittellinie und nahe der Augenbraue fand sich ein zentraler, rundlicher, nahezu schwärzlicher Haut-Weichteil-Defekt. Am Oberrand zeigte sich eine sichelförmige rötliche Hauteintrocknung. Es sah so aus, als ob das Projektil nicht im rechten Winkel, sondern etwas schräg von oben nach unten in den Kopf eingedrungen war. Die Umgebung des Einschusses war geschwollen. In diesem Moment betrat einer der behandelnden Ärzte das Zimmer und berichtete mir, was den Medizinern der Klinik durch ihre Diagnostik bisher bekannt geworden war. Unmittelbar nach der stationären Aufnahme am Abend des 3. März erfolgte eine CT-Untersuchung des Kopfes. Dabei wurde festgestellt, dass es zu der Stirnverletzung der Haut korrespondierende Knochenverletzungen des Stirnbeines gab. Die Ärzte fanden aber weder ein Projektil im Kopf noch einen Ausschuss. Die Schweriner Mediziner glaubten am Sonntagabend, dass es sich wahrscheinlich um einen Schuss aus einer Schreckschusspistole handeln würde. 

    Am Morgen des nächsten Tages hatte sich Frau Neubert wieder bei den Ärzten gemeldet und über einen Druckschmerz in der rechten Schulter geklagt. Bei der nun durchgeführten Röntgenuntersuchung des Brustkorbes fand sich ein Projektil in der Nähe der ersten Rippe rechts. Weil sowohl die behandelnden Ärzte als auch die Mitarbeiter der Mordkommission sich die Lage des Projektils bei einem Schuss in die Stirn nicht erklären konnten, baten sie mich, mittlerweile zwei Tage nach dem Ereignis, um sachverständige Unterstützung. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, fiel mir der Kriminalbeamte mit seiner Hypothese ins Wort. 

    Er äußerte den Verdacht, dass das Projektil dort wohl schon länger liege und dass auf Frau Neubert wahrscheinlich schon einmal geschossen worden sei. Ich musste innerlich schmunzeln, bevor ich widersprach. Wenn es so gewesen wäre, wie der junge Polizist annahm, müsste Frau Neubert erstens eine Narbe von diesem Einschuss davongetragen und zweitens über diesen schrecklichen Vorfall die ganze Zeit geschwiegen haben. Der Polizist stellte mir umgehend die Frage, wie denn nach meiner Meinung das Projektil dort hingekommen sei. Ich erwiderte, dass es in der Fachliteratur bereits mehrere Fälle von Schussverletzungen gab, bei denen die Projektile nicht im Bereich der erwarteten Schusskanäle aufgefunden worden waren. Dieses lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht zum Beispiel durch Ablenkungen nach Auftreffen auf Knochen oder durch den Eintritt in ein größeres Blutgefäß und nachfolgende Verschleppung mit dem Blutstrom, eine sogenannte Geschossembolie, erklären. So etwas kommt allerdings selten vor. Weiterhin äußerte ich dem Kriminalisten gegenüber die Vermutung, dass ich nach einem Gespräch mit dem zuständigen Radiologen wahrscheinlich mehr über den Weg des Projektils im Körper von Frau Neubert bis zu seiner ungewöhnlichen Endlage in der rechten Schulter berichten könnte. Und ich hatte recht, das Zusammentreffen mit dem erfahrenen Facharzt brachte dann die Klärung: Nach der Durchtrennung der Stirnhaut verlief der Schusskanal etwa parallel und unmittelbar unterhalb der Schädelbasis von vorn oben nach hinten unten, ohne dass das Projektil in den Hirnschädel eintrat. Das Geschoss hatte nacheinander die vordere und hintere Wand der Stirnhöhle, die Siebbeinzellen und die Keilbeinhöhle verletzt. Dann war das Projektil durch die Halswirbelsäule abgelenkt worden und hatte sich entlang einer Muskelloge der rechten Halsmuskulatur bis zu seiner Endlage oberhalb der ersten Rippe rechts bewegt, ohne dabei ein größeres Blutgefäß zu verletzen. In den rechtsseitigen Halsweichteilen zeigten sich zahlreiche kleinere Lufteinschlüsse, die sich bandförmig bis zur Endlage des Projektils nachweisen ließen. Das Geschoss selbst, ein sogenanntes Kleinkaliber von 6,35 Millimetern, wurde schließlich am 4. März operativ entfernt. 

    Ein paar Tage nach der rechtsmedizinischen Untersuchung wurde Frau Neubert aus der Klinik entlassen. In den Tagen und Wochen danach bekam sie allerdings heftige Kopfschmerzen, die zunehmend stärker wurden. Bei einer radiologischen Nachuntersuchung in der Klinik wurden Luftansammlungen im rechten Stirnhirnlappen vorn festgestellt. Frau Neubert musste nun aufgrund des Kopfschusses ein zweites Mal operiert werden. Weitere körperliche Folgen der Tat waren der vollständige Verlust des Geruchs- und eine erhebliche Beeinträchtigung des Geschmackssinnes. 

    In den Tagen, Wochen und Monaten nach meiner rechtsmedizinischen Untersuchung lag sehr viel Arbeit vor den Mitarbeitern der Schweriner Mordkommission. Sie hatten zunächst nicht viele Spuren oder brauchbare Zeugenaussagen. In den meisten Fällen von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten waren Opfer und Täter einander vor der Tat bekannt gewesen. Dieses bereits lange bekannte kriminalistische Grundwissen wurde auch durch zwei medizinische Dissertationen aus dem Rostocker Institut für Rechtsmedizin bestätigt: So kannten sich Opfer und Täter in etwa 70 Prozent der vollendeten vorsätzlichen Tötungsdelikte der Jahre 1992 bis 2001 aus Mecklenburg bereits vor der Tat. Konnte dieses Grundwissen der Kriminalisten möglicherweise auch im beschriebenen Fall bei der Aufklärung des Kapitaldelikts weiterhelfen? 

    In ihrer ersten Zeugenvernehmung sagte Frau Neubert aus, dass die Täter maskiert gewesen seien und bei der Tatausführung nicht gesprochen hätten. Die Tatzeit war nach Sonnenuntergang und somit bei Dunkelheit gewesen. Noch in dieser Vernehmung lieferte sie den Ermittlern trotzdem einen ersten Tatverdächtigen: Er hieß Friedrich Steiner und war ihr geschiedener Ehemann. 

    Frau Neubert und Herr Steiner hatten im Mai 1988 geheiratet. Für Herrn Steiner war es bereits die zweite Ehe gewesen und auch Frau Neubert hatte schon zuvor eine Partnerschaft gehabt, aus der eine Tochter hervorgegangen war. Etwas mehr als sieben Monate später wurde auch ein gemeinsamer Sohn geboren. Herr Steiner war Fahrschullehrer und gerade in den ersten Jahren nach der politischen Wende lief das Geschäft in den neuen Bundesländern ausgezeichnet. Während der Ehe machte sich Herr Steiner mit einer Fahrschule selbstständig und seine Ehefrau arbeitete im Unternehmen mit. Das von der Familie bewohnte Haus am Schweriner See, das Herr Steiner mit in die Ehe gebracht hatte, wurde in der gemeinsamen Zeit baulich erheblich vergrößert. Aber das Glück der jungen Familie hielt nicht lange an: Im Sommer 1992 war die Ehe so sehr zerrüttet, dass Frau Neubert ihrem Mann erklärte, sich von ihm trennen zu wollen. Es folgte Streit. Im Juli führte dieser sogar einmal so weit, dass Herr Steiner Frau Neubert würgte. 

    »Meine Mutter hat mich beschissen, meine erste Frau hat mich beschissen und jetzt willst du mich bescheißen?!«, rief er dabei. 

    Am darauffolgenden Tag unterschrieb Frau Neubert aus Angst, ihrem Sohn, ihrer Tochter oder ihr könnte im Fall einer Weigerung etwas zustoßen, eine Scheidungsvereinbarung. Darin verzichtete sie auf materielle Ansprüche aus dem Zugewinn während der Zeit der Ehe. Durch die Werterhöhung des Hauses am See und durch getätigte Grundstückskäufe hatte es aber einen erheblichen Zugewinn in der gemeinsamen Zeit gegeben. In den nächsten Monaten drohte Herr Steiner seiner Noch-Ehefrau mehrfach damit, wenn sie nach der Scheidung doch Ansprüche an ihn stellen werde, sie umzubringen. 

    Kurz nachdem die Ehe im März 1993 geschieden worden war, machte Frau Neubert trotzdem Ansprüche geltend. Der Streit der geschiedenen Eheleute war heftig und ging vom Amtsgericht Schwerin bis zum Oberlandesgericht (OLG) in Rostock. In dem Streit ging es neben den materiellen Ansprüchen von Frau Neubert auch um das Umgangsrecht für den gemeinsamen Sohn. Mit seinem Urteil vom 28. März 1995 entschied das OLG Rostock schließlich, dass Frau Neubert Ausgleichs- und Erstattungsansprüche zustanden. Danach erfolgte vom Amtsgericht Schwerin ein Auftrag zur gutachterlichen Wertermittlung des Einfamilienhauses und der während der Ehejahre erworbenen Grundstücke. Die Mordkommission und auch die Staatsanwaltschaft gingen davon aus, dass auf Herrn Steiner Ausgleichszahlungen in sechsstelliger Höhe an seine geschiedene Frau zukommen würden. In einem Zeitungsartikel, der sehr viel später erschien, war von nahezu 400.000 Deutschen Mark die Rede. Insbesondere nach den bisherigen Äußerungen von Herrn Steiner seiner Ex-Frau gegenüber stellte das ein Motiv dar, das nicht so ohne Weiteres von der Hand zu weisen war – aber der Ex-Mann hatte die Tat nicht begangen. Die Ermittlungen ergaben, dass er zum Zeitpunkt des Tötungsversuchs mit mehreren Bekannten in einem Schweriner Kino gesessen und den Film »Dangerous Minds« gesehen hatte. 

    An dieser Stelle befanden sich die Ermittlungen der Schweriner Mordkommission in einer Sackgasse. Wenn er es nicht selbst gewesen war, hatte dann Steiner die Tötung seiner Ex-Frau in Auftrag gegeben? Und wenn ja, wie sollten die Ermittler die Identität der zwei maskierten Täter klären, wenn diese offensichtlich keine auffälligen Spuren hinterlassen hatten? 

    Diese Situation führte zu einer Telefonüberwachung des Ex-Mannes. Aber auch diese Maßnahme führte nicht zum Erfolg. Der entscheidende Durchbruch für die Kriminalbeamten kam wieder einmal durch den berühmten »Kommissar Zufall«: Nach einem Einbruch in ein Büro eines Baunebengewerbeunternehmens in Schwerin sagte der bestohlene Firmenchef bei der polizeilichen Anzeigenaufnahme beiläufig, dass er etwas über den versuchten Mord aus Plate wisse. Im Rahmen einer richterlichen Vernehmung im August 1996 sagte der Unternehmer dann aus, dass ihm seine Sekretärin mehrere Informationen gegeben hatte, die darauf hindeuteten, dass zwei ihrer Bekannten den versuchten Mord begangen hätten. Der eine sollte ein gewisser Wolfgang Redus, der andere ein Johann Ganner sein. Nach dieser Zeugenaussage erfolgte nun auch eine Telefonüberwachung dieser beiden Tatverdächtigen. Aber bis auf einige für Außenstehende eigenartig verschlüsselte und kaum sinnvolle Gespräche führte auch diese Überwachung nicht zu eindeutigen Beweisen. Trotzdem wurden aufgrund der vorliegenden Zeugenaussagen und weiterer Indizien die Herren Steiner, Redus und Ganner am 13. Dezember 1996 in Untersuchungshaft genommen. Am 4. Juni 1997 verfasste die zuständige Staatsanwältin in Schwerin die Anklageschrift und im November 1997 begann der Prozess gegen den Fahrschullehrer wegen Anstiftung zum Mord und gegen die zwei Bekannten der Sekretärin des Baunebengewerbeunternehmers wegen versuchten Mordes. Das, was im Jahr 1997 noch üblich war, ist heute kaum noch möglich: Bereits seit vielen Jahren, aber eben noch nicht 1997, ist nach der deutschen Strafprozessordnung vorgeschrieben, dass zwischen der Inhaftierung eines Tatverdächtigen und dem Beginn der Gerichtsverhandlung mit wenigen Ausnahmen, die genau definiert sind, nicht mehr als sechs Monate liegen dürfen. Im Fall des versuchten Mordes an Frau Neubert, der in den Printmedien nun aufgrund des Tatortes als »Plater Auftragsmord« bezeichnet wurde, waren es immerhin elf Monate zwischen Beginn der Untersuchungshaft für die Tatverdächtigen und der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Schwerin gewesen. In dieser Verhandlung schwiegen Herr Steiner und Herr Redus zu den schwerwiegenden Vorwürfen der Staatsanwaltschaft. Herr Ganner, ein 20-jähriger Mann, gestand jedoch seinen Tatbeitrag und belastete dabei Herrn Redus schwer. Über ein mögliches Motiv für das relativ späte Geständnis des Herrn Ganner werde ich Ihnen meine Überlegungen zu einem späteren Zeitpunkt mitteilen. Zuvor soll hier die Tat näher betrachtet werden. 

    Weder Johann Ganner noch der acht Jahre ältere Wolfgang Redus kannten Frau Neubert. Die Übermittlung des Auftrages zur Tötung der Ex-Frau von Herrn Steiner kam dazu nicht durch Herrn Steiner selbst, sondern durch einen Mittelsmann, Herrn Sven Groß, zustande. Für die Erledigung des Mordes hatte der Vermittler den beiden Männern insgesamt 20.000 Deutsche Mark in Aussicht gestellt, die natürlich von Herrn Steiner kommen sollten. Sowohl für Redus als auch für Ganner war die Höhe der Geldsumme eine ausreichende Motivation. Da die beiden Männer Frau Neubert noch nie gesehen hatten, erhielten sie nun zahlreiche Informationen über ihr Aussehen, ihren Wohnort und alles Weitere, die Herr Steiner genauso wie das Geld dem Mittelsmann Groß gegeben hatte. Mit dem Pkw Golf II des Herrn Redus, der den Mittelsmann von zahlreichen vorherigen Diebestouren kannte und ständig Geld für seinen Kokainkonsum benötigte, fuhren er selbst und Ganner mehrfach in der Dunkelheit am Haus von Frau Neubert vorbei und kundschafteten den geplanten Tatort in Plate aus. Als Waffe für die Tötung hatten sie, man höre und staune, eine Kleinkaliberpistole besorgt. Da sie aber nur eine Waffe hatten, musste geklärt werden, wer diese am Tatort abfeuern sollte. Die Männer einigten sich darauf, dass das Los entscheiden sollte. Der Jüngere, Herr Ganner, verlor und wurde nun als Todesschütze festgelegt. Am Sonntagabend, es war der 3. März 1996, kurze Zeit nach Sonnenuntergang, fuhren die beiden Männer nach Plate, um ihren Teil des Auftrags zu erfüllen, während zeitgleich in einem Schweriner Kino der Film »Dangerous Minds« lief. Sie gingen zur Haustür der angegebenen Adresse und klopften. Frau Neubert erinnerte sich genau an diesen Moment. 

    »Als es klopfte, scherzten meine Tochter und ich, wir würden keinen Staubsauger an der Tür kaufen.« 

    Sie öffnete. Sofort drückten die mit Wollmasken vermummten Täter die Tür auf, gingen einige Schritte in den Flur und Herr Ganner gab kurz nacheinander zwei Schüsse auf Frau Neubert ab. Der erste Schuss traf sie vorn in den Kopf, sodass sie zu Boden ging. Der zweite Schuss verfehlte sein Ziel und blieb in der Wand stecken. Hastig rannten die beiden Täter zum Golf II und fuhren in dem Glauben, dass sie Frau Neubert getötet hätten, so schnell sie konnten davon. Frau Neuberts Tochter, die den Krach gehört hatte, eilte in den Flur und rief, als sie sah, was geschehen war, umgehend die Polizei. Die Beamten wollten ihr den Sachverhalt anfangs nicht glauben. Als schließlich der Notarzt eintraf, blutete Frau Neubert erheblich und kam bei vollem Bewusstsein mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus. Die Kurzfassung des weiteren medizinischen Werdegangs kennen Sie bereits. 

    Nach der Ausführung der Tat erhielten die beiden Männer die in Aussicht gestellten 20.000 Deutschen Mark, die Herr Redus von Herrn Groß in Empfang nahm und davon 10.000 an Herrn Ganner weitergab. Als augenscheinlich wurde, dass Frau Neubert nicht verstorben war, mussten die beiden Männer das Geld nicht zurückgeben. Und wie es sich so oft schon nach schweren Gewaltverbrechen mit mehreren Tätern ereignete, so sollte es auch beim »Plater Auftragsmord « sein: Beide Männer konnten ihr Täterwissen nicht für sich behalten. Sie erzählten es, unabhängig voneinander, gleich mehreren Zeugen. Dabei war es wiederum erstaunlich, dass es noch bis zum August 1996 dauerte, bis der erste Zeuge bei der Polizei und einer richterlichen Vernehmung »auspackte«. 

    Im ersten Prozess vor dem Landgericht Schwerin, dem einzigen Prozess in dieser Sache, zu dem ich als Sachverständiger geladen wurde, erhielt ich vom vorsitzenden Richter folgende vier Fragen: 

    1. Welche Verletzungen wies Frau Neubert nach der Tat auf? 

    2. Wie war der Verlauf des Schusskanals? 

    3. Wird Frau Neubert bleibende Schäden behalten? 

    4. War der Schuss geeignet, den Tod von Frau Neubert herbeizuführen? 

    Die Antworten der ersten beiden Fragen kennen Sie, verehrte Leser, bereits. Auf die dritte Frage erwiderte ich, dass der Verlust des Geruchs- und eine diagnostizierte erhebliche Beeinträchtigung des Geschmackssinnes durch den Verlauf des Schusskanals zu erklären seien und, soweit ich als Rechtsmediziner das einschätzen könnte, mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit irreversibel sein würden. Weiterhin werde Frau Neubert ein Leben lang Narben an der Stirn, der rechten Schulter und im Operationsbereich des Kopfes behalten. Über das Auftreten und Persistieren von psychischen Beeinträchtigungen konnte ich 1996 nichts Konkretes sagen, erwähnte aber, dass die Möglichkeit nicht nur theoretisch bestünde. Die vierte Frage beantwortete ich unmissverständlich mit »Ja«. Dass Frau Neubert den Kopfschuss überlebte, hatte aus rechtsmedizinischer Sicht zwei wesentliche Gründe: Erstens benutzten die Täter eine Kleinkaliberwaffe, deren Geschoss erheblich weniger Energie abgibt als zum Beispiel eine Pistole oder ein Revolver mit einem Kaliber von 9 Millimetern, und zweitens war der überraschende Verlauf des Schusskanals, bei dem das Projektil nie in den Hirnschädel eingetreten war, für das Überleben von Frau Neubert entscheidend. Sie hatte im wahrsten Sinne des Wortes Glück im Unglück gehabt. 

    Die erste Hauptverhandlung vor dem Landgericht Schwerin endete erwartungsgemäß mit einem Schuldspruch für die Angeklagten Redus und Ganner. Dagegen kam der Freispruch für den 1997 noch mutmaßlichen Auftraggeber, den Ex-Mann Steiner, nicht nur für mich überraschend. Die Richter argumentierten, dass sie zwar glaubten, dass Herr Steiner der Auftraggeber für den Mordversuch war, aber dass die vorliegenden Indizien nicht für eine Verurteilung des Fahrlehrers ausreichen würden. 

    Der 28-jährige Redus erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen versuchten Mordes, wobei die Mordmerkmale Habgier und Heimtücke vom Gericht als erfüllt angesehen wurden. An dieser Stelle möchte ich, wie angekündigt, auf den von mir favorisierten Grund für das späte Geständnis von Herrn Ganner zurückkommen. Für einen Mord, ob vollendet oder versucht ist dabei unerheblich, erwartet ein Täter bei voller Schuldfähigkeit eine lebenslange Freiheitsstrafe. Dieses Strafmaß gilt aber nur für das Erwachsenenstrafrecht. Herr Ganner war zum Zeitpunkt der Tat 20 Jahre und 10 Monate alt. Damit war er nach dem deutschen Strafrecht ein Heranwachsender. Was hat das mit dem Strafmaß zu tun? Mitunter, wie im vorgestellten Fall, sehr viel. In Deutschland wird ein Straftäter immer nach dem deutlich günstigeren Jugendstrafrecht verurteilt, wenn er zur Tatzeit unter 18 Jahren, aber älter als 14 Jahre ist. Als Übergangszeit vom Jugendstrafrecht zum Erwachsenenstrafrecht gilt das Lebensalter von 18 bis 21 Jahren. In diesen Lebensjahren gilt ein Täter als Heranwachsender, wobei durch das Gericht mit Hilfe der Jugendgerichtshilfe, und bei schweren Straftaten auch der forensischen Psychiatrie, der Reifegrad des Angeklagten geprüft wird. Je stärker das Reifedefizit, also die »Unreife« eines Heranwachsenden ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wird. Der Unterschied im Strafmaß ist bei einem versuchten Mord erheblich: Wenn man Herrn Ganner noch nach dem Jugendstrafrecht verurteilt hätte, wäre die Höchststrafe nicht eine lebenslange, sondern eine Haftstrafe von zehn Jahren gewesen. Und bei einem glaubhaften Geständnis kann das Gericht die Strafe weiter mildern. Ich kann mir auch heute noch gut vorstellen, dass es im Fall

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