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Spitalkost und Taralli
Spitalkost und Taralli
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eBook259 Seiten3 Stunden

Spitalkost und Taralli

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Über dieses E-Book

Für sein Alter hat Gerald schon viel Ungewöhnliches erlebt, doch was jetzt kommt, verändert sein Leben. Im Zeltlager der Pfadfinder wird er krank. Schon am zweiten Tag muss er wieder nach Hause gebracht werden. Eine schwere Krankheit droht sein Leben zu beenden. Nur ganz knapp entrinnt er dem Tod. Sonja, seine langjährige Schulfreundin, hat bisher immer zu ihm gehalten. Jetzt fürchtet Gerald, sie könnte ihn verlassen. Nach dem Spitalaufenthalt, wird er von seiner Tante nach Rom eingeladen. Dort soll er sich nach seiner Genesung erholen. Er wünscht sich, dass Sonja ihn begleitet. Geht sein Wunsch in Erfüllung?
Die Geschichte spielt zu einer Zeit, als es noch keine Handys gab und das Fernsehen noch in den Kinderschuhen steckte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Apr. 2021
ISBN9783347300538
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    Buchvorschau

    Spitalkost und Taralli - Bruno Etter

    1

    Zwei Tage regnet es schon fast ohne Unterbrechung und heute Morgen, als Gerald die schweren Gardinen in seinem Zimmer zur Seite schiebt, ist noch keine Wetterbesserung in Sicht. Dunkle Wolken hängen tief über der Stadt. Der Regen klatscht gegen das Fenster und in langen Bahnen läuft das Wasser über die Scheiben runter.

    Gerald brummt noch der Kopf. Viel zu spät hat er sich gestern niedergelegt. Die Einladung zur Geburtstagsparty seines Freundes Peter konnte er einfach nicht abschlagen. Peter ist ein Jahr älter als Gerald. Im Kreise einiger Freunde feierte er gestern seinen achtzehnten Geburtstag.

    Der heutige Tag ist für Gerald auch kein unbedeutender. Der erste Schultag im Gymnasium steht bevor. Eine neue Schule in einem weiter entfernten Stadtteil, neue Lehrer – und neue, ihm unbekannte Mitschüler. Gerald schaut durch das Fenster in die verregnete Umgebung. Das Ungewisse, das auf ihn zukommt, gibt ihm zu denken. Aber er ist nicht ganz alleine. Sonja, seine langjährige Freundin, hat den Übertritt in die höhere Schule ebenfalls geschafft. Lange war es ungewiss, ob Sonja die Aufnahmeprüfung bestehen kann. Mathe und Physik sind ihre schwachen Fächer. Vielleicht war Geralds Hilfeleistung bei den Aufgaben in der Oberstufe letztlich nicht ganz unbeteiligt am Bestehen der Aufnahmeprüfung. Sei es, wie es wolle. Beide können fortan weiterhin zusammen zur Schule gehen.

    Die Mutter sitzt am Tisch, als sich Gerald neben ihr niederlässt. Er hält den Stundenplan in der Hand und noch bevor er ein Stück vom gestrigen Brotlaib abschneidet, liest er laut: «Mathematik … Biologie … Geschichte …, es geht gleich in der ersten Stunde mit Mathe los.»

    «Da wird Sonja sicher nicht begeistert sein.»

    «Sie macht sich schon Sorgen deswegen. Ihre Mutter will sie in einen Nachhilfeunterricht schicken!», seufzt Gerald.

    «In der Oberstufe hast du ihr doch regelmäßig bei den Aufgaben geholfen. War das nicht genügend?»

    «In einem Gespräch zeigte sich die Mutter dankbar für meine Hilfe. Sie befürchtet, dass es nicht genügt. Sie will noch abwarten.»

    «War Sonjas Note im Schlusszeugnis der Oberstufe ungenügend?»

    «Nein, sie hatte eine Vier. Und jetzt spricht ihre Mutter von einer Nachhilfe – das ist ärgerlich! Mathe und Physik sind nun einmal Sonjas Schwäche! Diese Tatsache kann sie nicht wegzaubern. Warum will sie viel Geld für einen Nachhilfeunterricht ausgeben, wenn es doch so auch geht?»

    «Mütter sind halt so – sie wollen nur das Beste für ihr Kind!»

    «Das ist aber nicht, was Sonja will! Wenn ihre Mutter auf einem Nachhilfeunterricht durch eine fremde Person besteht, dann werde ich …» Gerald wird durch das Klingeln der Hausglocke unterbrochen.

    «Das ist Sonja – sie ist heute früh.»

    Er stürzt noch eine zweite Tasse Kakao herunter, dann verabschiedet er sich von der Mutter, die ihm einen guten Start wünscht.

    Gut in ihre Pelerine eingehüllt, ist Sonja kaum noch erkenntlich. Mit einem kurzen «Hallo» begrüßen sie sich. Gerald schiebt die Kapuze, die Sonjas Gesicht teilweise verdeckt, ein wenig zur Seite und fragt: «Wie fühlst du dich?»

    Unter der Kapuze hervorguckend antwortet Sonja mit leiser Stimme: «Ich habe ein bisschen Angst.»

    «Angst? Wovor?»

    «Vor dem Ungewissen. Alles ist neu und ich kenne dort niemanden.»

    «Ich gehe auch mit gemischten Gefühlen in die neue Schule. Mich kennst du ja schon. Wir müssen darauf achten, dass wir nebeneinandersitzen können.»

    Sonja nickt.

    Gerald holt noch sein Fahrrad vom Keller herauf, dann sind sie abfahrbereit. Die Schule befindet sich in leicht erhöhter Lage. Um sie zu erreichen, müssen Gerald und Sonja die Stadt durchqueren. Auf der Fahrt wäre Gerald noch bald gestürzt. Bei einer Linksabbiegung gerät sein Regenschutz in die Speichen des Vorderrades.

    «Irgendwie ist mein Regenschutz nicht für das Fahrrad geeignet!», ruft er zu Sonja, die vor ihm fährt. Sonja hat nichts mitbekommen. Sie fährt weiter.

    Die letzten hundert Meter müssen Gerald und Sonja kräftig in die Pedale treten. Sonjas Herz beginnt zu pochen – aber nicht nur wegen des Anstieges – auch wegen ihrer Angstgefühle, die sich jetzt verstärken, wo sie die neue Schule vor Augen hat.

    Die Versammlung der Schüler findet in der Aula statt. Nach einer kurzen Begrüßung erfahren sie, welchem Klassenlehrer sie zugeteilt sind. Wortlos gehen Gerald und Sonja die Treppe hoch – mit ihnen eine Anzahl Mitschüler. Alle streben einer weit offenstehenden Tür zu. Sonja, die vorausgeht, möchte sich einen guten Platz in der vordersten Reihe sichern. Gerald versucht, ihr auf den Fersen zu bleiben. Andere Jungen, die ebenfalls zum Eingang drängen, sind etwas schneller und schieben sich zwischen Sonja und Gerald. Sonja setzt sich an einen der Zweiertische vorn an der Seite des Raumes. Noch bevor sich Gerald neben sie setzen kann, nimmt ein etwas molliger, kurzgewachsener Junge neben Sonja Platz.

    «Ich möchte meinen Freund neben mir», sagt Sonja im Flüsterton.

    Der Junge schaut auf und zuckt mit den Achseln.

    «Wer ist dein Freund?», fragt er laut, dass es alle hören können.

    Alle blicken auf Sonja, deren Gesicht rot anläuft, und leise sagt sie:

    «Er steht hinter dir.»

    Sonja braucht sich nicht zu schämen. Im Gegenteil, sie ist ein hübsches Mädchen. Heute, für den ersten Schultag, hat sie sich besonders hübsch gekleidet. Das schönste Röckchen aus ihrem Kleiderschrank hat sie angezogen. Jenes mit den drei weißen Streifen und den dazu passenden Kniesocken. Ihre langen, über die Schulter reichenden Haare hat sie heute mit einer blauen Schleife zu einem Schwanz zusammengebunden. Gerald ist fasziniert von ihr. Er hat sich gewünscht, neben ihr sitzen zu können, jetzt ist dieser Junge im Begriff, ihm sein Vorhaben streitig zu machen.

    Den Kopf drehend, schaut der Junge Gerald mit einem höhnischen Grinsen ins Gesicht.

    Gerald versteht. Schweigend gibt er bei und setzt sich auf den freien Platz hinter Sonja. Wenigstens sitzen sie so hintereinander, auch wenn es nicht das ist, was sie wollten.

    Der Lehrer begrüßt die Schüler und stellt sich vor. Dann beginnt er den Unterricht mit Mathe. Mit einem Blick auf das Aufgabenblatt, das er verteilt, stellt Gerald fest, dass er ähnliche Rechnungen schon in der Oberstufe gelöst hat. Hiermit sollte Sonja eigentlich keine Probleme haben, und tatsächlich ist sie, über das Aufgabenblatt gebeugt, auch schon fleißig am Schreiben.

    Gerald beobachtet den Jungen neben Sonja, der jetzt seinen Stuhl etwas näher gegen sie schiebt. Sie arbeitet so konzentriert, dass sie nichts bemerkt. Mit aufgestelltem Arm den Kopf unterstützend, ist ihr Blick fest auf das Blatt gerichtet. Sie bemerkt nicht, dass der Junge neben ihr ebenfalls auf ihr Blatt sieht. Den Kopf drehend, sagt er ganz leise etwas zu Sonja, das Gerald nicht verstehen kann.

    Im Klassenzimmer ist es ganz ruhig. Alle scheinen sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Nur der Junge neben Sonja scheint mit seinen Gedanken abwesend zu sein. Seinen Kopf hin und her bewegend, wandert sein Blick durch das Klassenzimmer.

    Gerald ist mit seinen Gedanken auch nicht bei der Sache. Er hat erst eine Aufgabe gelöst und die Zeit ist vorgerückt. Dass der ziemlich ungepflegt aussehende Junge neben seiner Freundin sitzt, beschäftigt ihn. Mühsam rafft er sich schließlich zusammen und wendet seine Aufmerksamkeit den Rechenaufgaben zu. Er bemerkt nicht mehr, was am Tisch vor ihm passiert. Erst Sonjas Stimme lässt ihn aufblicken.

    «Hör auf!», zischt Sonja gegen den Jungen neben ihr. Das kann nicht nur Gerald hören – das hören auch andere und der Lehrer, der sich jetzt erhebt und auf Sonja zugeht.

    «Was ist hier los?», fragt er mit gedämpfter Stimme.

    «Er stört mich!», antwortet Sonja etwas aufgeregt.

    «Jeder arbeitet für sich», sagt der Lehrer bedeutungsvoll zum Jungen. «Schieb deinen Stuhl etwas weiter weg.»

    Noch bevor die Schulklingel die Pause einläutet, hat Gerald alle Aufgaben gelöst. Mit Genugtuung stellt er fest, dass es auch Sonja geschafft hat, wie ihm ihr hochgestreckter Daumen in seine Richtung zu verstehen gibt.

    Gleich zu Beginn der Pause geht sie zum Lehrer, der gerade mit der Anfertigung eines Sitzplanes beschäftigt ist. Mit seiner Hilfe kann eine für alle befriedigende Sitzordnung hergestellt werden. Sonjas Wunsch, neben ihrem Freund sitzen zu dürfen, geht in Erfüllung. Und das Mädchen, das die Mathestunde neben Gerald verbrachte, sitzt ihrem Wunsch entsprechend neben einem anderen Mädchen. Nur für den molligen Jungen geht die Rechnung nicht auf. Er muss jetzt neben einem Jungen sitzen.

    «Wie lief es bei dir?», wendet sich Gerald an Sonja.

    «Die letzte Aufgabe hat mir zu schaffen gemacht. Ich hoffe, dass ich das richtige Resultat abgegeben habe. Die Zeit war knapp. Und dann noch der Flegel neben mir. Ich glaube, er kommt von einem Bauernhof – er riecht nach Stall!»

    Beide freuen sich über den zu guter Letzt doch noch gelungenen Schulanfang. Sonjas anfängliche Angst vor der neuen Schule ist gewichen und ihr Wunsch, neben ihrem langjährigen Freund sitzen zu dürfen, ging in Erfüllung.

    2

    Samstagnachmittag. Heute Morgen hat Sonja in Mathe wieder einmal gepatzt. Nachdem sie die ganze Woche gute Noten nach Hause brachte und von der Mutter gelobt wurde, löste sie heute von sechs Aufgaben nur eine richtig. Die trigonometrischen Funktionen haben Sonja aus dem Gleis geworfen. Obwohl Trigonometrie für Gerald auch etwas Neues ist, will er das Gelernte mit Sonja noch einmal besprechen. Er ist ehrgeizig und möchte auf gar keinen Fall, dass Sonja in den Nachhilfeunterricht geschickt wird. Das würde er gewissermaßen als sein Versagen empfinden.

    Er ist gerade dabei, den Tisch abzuräumen, als die Türglocke ertönt. Sonja steht vor der Tür, als Gerald öffnet.

    «Meine Mutter lässt mich heute Nachmittag nicht auf das Pfadfindertreffen gehen», beginnt sie ziemlich aufgebracht.

    «Warum nicht? Was ist passiert?»

    «Wegen Mathe heute Morgen. Meine schlechte Leistung macht ihr Bauchschmerzen. Die Schule ist wichtiger als die Pfadi, sagt sie. Als ob es in der Schule nur Mathe gäbe!»

    «Komm doch rein.»

    Sonja setzt sich auf Geralds Bett und fährt fort: «Ausgenommen in Mathe, habe ich in allen Fächern gute Noten. Jetzt macht meine Mutter ein Drama. Sie sieht schon meine Zukunftspläne dahinschwinden.» Stöhnend verdreht sie die Augen.

    «Deine Zukunftspläne?»

    «Wir haben auch schon darüber gesprochen. Ich möchte Tierärztin werden.»

    «Ach so, ja, du hast das schon öfters erwähnt.»

    «Mein Wunsch entstand damals, als ich eine von einem Auto angefahrene Katze wochenlang pflegte.»

    «Und jetzt sieht deine Mutter dein Berufsziel schon in Gefahr?», fragt Gerald erstaunt.

    Sonja nickt. Wieder seufzt sie. «Beim heutigen Orientierungslauf wäre ich so gerne dabei gewesen.»

    «Komm! Wir gehen zu deiner Mutter und sprechen mit ihr.» Gerald fasst Sonjas Hand und zieht sie hoch. Zusammen rennen sie die Treppe runter zum Hauseingang nebenan, wo Sonja wohnt.

    Wie immer empfängt ihre Mutter Gerald mit einem freundlichen Lächeln und einem beherzten Händedruck.

    «Was habt ihr vor?», fragt sie, ihre Hausarbeit unterbrechend. Einen Moment wartet Gerald. Wie soll er es sagen, ohne dass es verletzend wirkt, überlegt er.

    «Sonja ist unglücklich», beginnt er zögernd.

    «Warum?»

    «Weil sie heute am Orientierungslauf nicht teilnehmen darf.»

    «Wenn Sonja in der Schule schlechte Leistung erbringt, darf sie auch nicht einem Vergnügen nachgehen. Das habe ich schon immer gesagt. Sie muss zuerst die Aufgaben von heute Morgen richtig lösen, dann darf sie gehen!»

    «Die Zeit wird nicht reichen», mischt sich Sonja ein. «Wenn wir zu spät vor Ort eintreffen, verpassen wir den Orientierungslauf.»

    «Beeilt euch – ihr werdet das schaffen», sagt die Mutter entschlossen.

    Ohne noch etwas zu sagen, fasst Sonja Geralds Hand und zieht ihn wieder zu ihrem Zimmer. Sie setzen sich an den kleinen Schreibtisch, der kaum Platz bietet für zwei Personen, und machen sich an die Arbeit. Eine Aufgabe nach der anderen nehmen sie durch. Aber richtig konzentrieren kann sich Sonja nicht.

    Gerald ist mit seinen Gedanken auch nur halbherzig bei den Matheaufgaben.

    «Ich glaube, wir schaffen es nicht», sagt Sonja plötzlich. Sie wirft den Kugelschreiber auf den Tisch und greift sich mit beiden Händen an den Kopf: «Ich hasse diese Mathe!»

    Beide schauen sich in die Augen. Ein Lächeln legt sich über Geralds Gesicht.

    «Du amüsierst dich über mein Handicap?»

    «Nein, über deine Reaktion! Nimm es gelassen! Mit deiner Schwäche in Mathe stehst du nicht alleine da. Man kann nicht überall gut sein. In anderen Fächern bist du stark … und mir überlegen.»

    «Ja, aber …»

    «Übrigens: Du bist ja gar nicht so schlecht! In den Klausuren hast du keine ungenügende Note geschrieben. Du bildest dir ein, schlechter zu sein, als du es bist.»

    Nach einer Weile zuckt Sonja plötzlich zusammen, als hätte sie eine Wespe gestochen. Sie greift energisch nach dem Kugelschreiber und sagt: «Los – ich bin bereit für die erste Aufgabe. Diktiere mir, was ich schreiben soll. Es muss schnell gehen.»

    «Ich diktiere schneller, als du schreiben kannst», antwortet Gerald etwas spöttisch und beginnt: «Cosinus von …»

    Den Kopf auf den Unterarm stützend, schreibt Sonja Wort für Wort, was aus Geralds Mund ertönt. Nur ab und zu wirft sie einen Blick zu Gerald, als hätte sie etwas nicht verstanden. Sie stellt eine kurze Frage, dann schreibt sie, was Gerald sagt – ohne das Geschriebene zu begreifen. Plötzlich sagt sie: «Flichtst du mir Zöpfe?»

    «Was, jetzt das auch noch?»

    «Ja, ich kann trotzdem schreiben.»

    Gerald stellt sich hinter Sonja. «Soll ich auf beiden Seiten einen Zopf flechten?»

    «Ja, bitte!»

    Im Zöpfe flechten hat Gerald schon eine gewisse Routine. Gekonnt flicht er die Zöpfe, während er Sonja weiter Zahlen diktiert.

    «Wo hast du deine blauen Schleifen?»

    Sonja zeigt zur Kommode und sagt: «In der obersten Schublade.»

    So kommen sie schnell zum Ende.

    «Können wir diese Rechenaufgaben nach dem Pfaditreffen noch einmal durchgehen?», fragt Sonja leise.

    Gerald nickt ihr schweigend zu. Dann gehen sie beide zur Mutter, die noch immer in der Küche beschäftigt ist.

    «Darf ich jetzt gehen?», fragt Sonja bedrückt.

    Die Mutter wirft nur einen kurzen Blick auf das Blatt, das Sonja ihr vor den Kopf hält, und nickt. «Einverstanden. Geh jetzt mit Gerald zum Orientierungslauf.»

    «Danke, Mama», sagt Sonja erfreut und drückt ihr einen Kuss auf die Wange.

    Schnell rennt Sonja in ihr Zimmer und kramt das zur Pfadfinderuniform gehörende Foulard aus der Schublade. Dann rennen sie los. Auf dem Weg zum Versammlungsort wird nicht viel gesprochen. Teilstrecken müssen sie rennen. «Ein Glück, dass es nicht mehr regnet», sagt Sonja zu Gerald, als sie ziemlich erschöpft beim Forsthaus eintreffen. Der Gruppenführer ist gerade dabei, noch einige Anweisungen zu geben.

    Gerald und Sonja kennen die Regeln bereits. Es ist nicht der erste Orientierungslauf, den sie jetzt im Begriff sind zu starten. Der Gruppenführer drückt jedem einen Plan in die Hand, dann schickt er jeweils zwei Gleichgeschlechtige auf den Parcours. Gerald muss nicht lange überlegen; er möchte mit seinem langjährigen Kollegen Peter die zehn Posten suchen. Da es in der Gruppe nur zwei Mädchen gibt, hat Sonja keine Wahl. Sie startet mit ihrer Kollegin als Erste. Für Gerald und Peter dauert es noch ein Weilchen; sie starten als zweitletzte Gruppe. Bei jedem Posten müssen sie mit dem dort vorhandenen Stempel die Postennummer auf ihren Plan, auf dem auch die Startzeit vermerkt ist, drücken.

    Gerald, der diesen Wald kennt wie seine Hosentasche, rennt mit Peter fast die ganze Strecke. Beim vierten Posten finden sie keinen Stempel. Eine stattliche Tanne ist zwar deutlich als Posten markiert; jedoch fehlt der Stempel.

    «Wir müssen den Boden absuchen, vielleicht ist er runtergefallen», meint Peter.

    «Nein, die Stempel bei den anderen Posten sind ja mit einer Schnur am Baumstamm angenagelt», sagt Gerald überzeugt.

    Trotzdem suchen sie den mit Moos bedeckten Boden ab und verlieren wertvolle Zeit. Vergebens; sie rennen weiter. Den fünften Posten finden die beiden nicht auf Anhieb. Dort, wo sich der Posten befinden müsste, irren sie planlos umher. Plötzlich treffen sie auf die zuletzt gestarteten Kollegen, die sie eingeholt haben. Zielstrebig gehen diese schnellen Schrittes in eine bestimmte Richtung.

    «In etwa hier müsste sich der Posten befinden», sagt einer der Kollegen. Und tatsächlich findet er ihn auf einer kleinen Lichtung, hinter einem Holunderstrauch. Den Rest des Parcours begehen alle vier zusammenbleibend. Das nervt Gerald. Es entspricht nicht seinem Charakter, einfach den anderen nachzulaufen. Er möchte seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Und diesen Orientierungslauf in angemessener Zeit zu Ende zu führen, dafür hält er sich fähig. Bei der Ankunft am Ziel kommt ihm Sonja entgegen.

    «Beim vierten Posten fehlte der Stempel», weiß sie kopfschüttelnd zu berichten.

    «Er war also schon beim Einrichten des Parcours vergessen worden? Ein fataler Fehler», sagt Gerald. «Alle haben gesucht und Zeit verloren.»

    Den fehlenden Stempel kann sich der Gruppenführer auch nicht erklären.

    «Ich habe den Parcours nicht selber eingerichtet», erklärt er. «Auf alle Fälle werden diesmal nur neun Posten gerechnet. Wer gewonnen hat, werdet ihr an unserem nächsten Treffen erfahren.»

    Zum Schluss des heutigen Treffens verteilt der Gruppenführer ein Merkblatt betreffend das jährlich stattfindende Pfadfinder-Zeltlager. In den Frühlingsferien soll es stattfinden.

    «Eine ganze Woche im Zelt schlafen», sagt Sonja nachdenklich, als sie durch den Wald schreitend auf dem Weg nach Hause sind.

    «Und essen, was nicht aus Mamas Kochtopf kommt. Es muss ein tolles Erlebnis sein, draußen in der Natur zu schlafen», meint Gerald.

    3

    Einmal im Jahr wird von der Pfadfinderorganisation ein Zeltlager durchgeführt, an dem zahlreiche Jugendliche teilnehmen. Für Sonja ist es das erste Mal, dass ihre Eltern sie ins Lager gehen lassen. Schon letztes Jahr wäre sie gerne dabei gewesen. Damals hat ihr Vater die Teilnahme verhindert.

    «Warum durftest du letztes Jahr nicht ins Lager gehen?», fragt Gerald, als sie am Abend bei den Schulaufgaben sitzen.

    «Mein Vater fand damals, ich sei nicht reif für ein solches Vorhaben. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich seine Tochter eine ganze Woche mit zahlreichen Jungens in der freien Natur aufhält.»

    «Pfadfinder sind doch keine Wilden. Sie sind die ganze Zeit unter Aufsicht und das einzige Mädchen bist du nicht», meint Gerald. «Bei mir war die Mutter dagegen. Die Vorstellung, ihren Sohn sechs Tage lang nicht unter Kontrolle zu haben, war ihr zu viel. Hast du dich dieses Jahr durchgesetzt?»

    «Es scheint, dass meine Eltern jetzt mehr Vertrauen in die Lagerleitung haben. Für mich ist es etwas Ungewohntes, einmal nicht in meinem Bett zu schlafen – und nicht zu essen, was aus dem Kochtopf meiner Mutter kommt – und sie am Abend sorgenvoll sagen hören: Es ist Zeit zum Schlafen. Das muss spannend sein im Lager.»

    Sonjas Augen leuchten. Energisch schiebt sie das Aufgabenblatt zur Seite, steckt den Bleistift in den Spitzer und dreht einige Male kräftig daran, so stark, dass die Spitze gleich wieder abbricht. Erst beim dritten Versuch gelingt es. Dann beginnt sie ein Zeltlager in ihr Physikheft zu skizzieren. Ihr Gesichtsausdruck lässt erahnen, dass sie sich auf das Leben in einem Zelt riesig freut. Noch nie hat sie sich die Schulferien so sehr

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