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Midgards Erben: Ein Niederrheinroman
Midgards Erben: Ein Niederrheinroman
Midgards Erben: Ein Niederrheinroman
eBook374 Seiten5 Stunden

Midgards Erben: Ein Niederrheinroman

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Über dieses E-Book

Jan ist siebzehn und wuchs in einer sehr gläubigen katholischen Familie auf. Dann trifft er sich eines Mittags mit Simone, einer Klassenkameradin. Simone wurde heidnisch erzogen und als sie ihm während einer Klassenfahrt die Hintergründe ihres Glaubens erläutert, steht für ihn ein Richtungswechsel fest. Dies trifft aber keinesfalls auf eine breite Zustimmung in seinem Bekannten- und Verwandtenkreis. Denn nicht nur seine Familie sieht die örtliche Ordnung der kleinen Rheinstadt bedroht. Jan sieht sich nach kurzer Zeit zunehmend zwischen den Fronten der Konfessionen und politischen Gesinnungen schweben. Als dann noch plötzlich Simone spurlos verschwindet, spielen seine Gefühle vollkommen verrückt. Es ist eine Geschichte zwischen Vorurteilen, Konflikten und der ersten großen Liebe.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. Mai 2016
ISBN9783738066579
Midgards Erben: Ein Niederrheinroman

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    Buchvorschau

    Midgards Erben - Sascha Arntsen

    Kapitel 1

    Der erste Kontakt

    „Ist ja schon gut, du hast ja recht, Oma", erwidert Jan, als seine Großmutter ihm sagt, dass er mal so langsam erwachsen werden solle. Denn Jan gibt sich mit seinen 17 Jahren immer noch als Leser von diversen Comicheften und macht auch nicht wirklich vor Asterix und Obelix halt. Das Ganze wäre auch eigentlich gar nicht so schlimm, da es ja auch einzelne Comics zu kaufen gibt, die erst ab 16 Jahren empfohlen werden. Aber in einem Haushalt wie diesem? Es ist eine Familie des alten Schlages. Widerworte werden geahndet und was für ihn noch viel schlimmer ist, als Kind ertrug er jeden Sonntag den unfreiwilligen Kirchengang. Seine Oma singt als Mitglied des Kirchenchores christliche Arien, seine Tante ist auch eine überzeugte Kirchgängerin und der Rest der Verwandtschaft hat ebenfalls einen dieser eucharistischen Christenfische auf der Heckklappe des Autos kleben, die den nachfolgenden Verkehr durchweg martialisch angrinsen. Er wehrte sich immer gegen den wöchentlichen Gang zu dieser, so wie er sagt, unendlichen Wiederholung langweiliger Aneinanderreihungen von unerträglichem. Doch wie sehr er sich als kleines Kind auch dagegen wehrte, es war ein Muss und nicht diskutabel. Einst weinte er in der Kirche so sehr, dass man mit ihm dem sakralen Bauwerk entweichen musste. Diese Zeiten sind allerdings schon lange Historie, obwohl es doch immer mal wieder kleinere Querelen bezüglich dieser Thematik gibt.

    Auch wenn er sich von seiner momentanen belesenen Beschäftigung nicht so recht trennen kann, ist es aber jetzt so weit, den Tag endsprechend zu beginnen.

    „Du musst dich fertig machen, es ist schon zehn nach Sieben", sagt Jans Oma, die mit ihrer Hornbrille und dem Dutt im grauen Haar ein typisches Klischeebild abgibt.

    Es ist Donnerstagmorgen und die Schule beginnt gleich. An diesem Morgen war Jan ein wenig früher als sonst bei seiner Großmutter und hatte somit noch ein wenig Zeit zum Schmökern.

    „Hast du denn deine Bütterkes eingepackt?", ruft sie ihm mit plattem Dialekt hinterher, während er sich zur Haustüre aufmacht.

    „Ja, alles dabei!", erwidert er leicht genervt.

    Jan geht vor der Schule immer noch bei seiner, in der Nachbarschaft lebenden Oma vorbei, die ihm dann die Verpflegung für den täglichen Schulzirkus bereitstellt. Und so verweilt er in dieser recht rustikal eingerichteten Wohnung immer noch einen Moment, bis er sich endlich entschließt loszugehen und daraufhin das Haus verlässt.

    Jan wohnt mit seiner Familie in einer kleinen Stadt am unteren Niederrhein. Es ist eine Stadt, die abgesehen von ihren baulichen Reizen, momentan doch recht wenig für jüngere Leute zu bieten hat. Neben den üblichen Geschäften und Gourmettempeln, wie Dönerläden, Pizzerien und Frittenbuden, gibt es zudem nur eine überschaubare Anzahl von Gaumenfreuden in dieser, auf der einen Seite modern aussehen wollenden, aber auf der anderen Seite doch sehr verschlafenen Stadt.

    Den Schulweg legt Jan jeden Morgen zu Fuß zurück. Kein Problem für ihn. Denn er wohnt nur etwa 800 Meter von der Bildungseinrichtung entfernt.

    „Iss doch Easy", sagt er.

    Nachdem er das Haus seiner Oma verlassen hat, wandert er über den am Ende der Straße angrenzenden Kirchplatz zum Markt.

    Er geht heute mal einen etwas anderen Weg als sonst und kommt an der alten Stadtmauer vorbei, die wie eine große Festung den Weg säumt. Moosbewachsen, die Ziegelsteine teilweise ausgebrochen, als wenn sie ihr Alter dadurch erst recht zum Ausdruck bringen will. Von dieser zirka fünf Meter breiten Mauer werfen die darauf stehenden alten Bäume einen morgendlichen Schatten auf ihn herab. Während er so auf dem Weg dahin schlendert, macht sich bei ihm auf einmal ein merkwürdiges Gefühl bemerkbar, welches er aber nicht so recht zuordnen, bzw. auch nicht wirklich beschreiben kann. Verwundert, aber nichts desto trotz geht er weiter, ohne sich näher darüber Gedanken zu machen, was es damit wohl auf sich hätte. Das letzte Stück seines Schulweges führt ihn über einen kleinen Verbindungssteg, der den Westring mit dem Schulhof des Schulzentrums verbindet. Dieser Westring ist eine kleine, vom Schulverkehr mal abgesehen, wenig befahrene Umgehungsstraße, die direkt zum Rheinufer der Kleinstadt führt.

    Auf dem Schulhof angekommen, hört er auch schon den Gong, der den Schulbeginn ankündigt. Am heutigen Tag liegt unter anderem eine außerordentliche Deutschstunde an, in der alle Schüler der elften Klasse des städtischen Gymnasiums eine Bewerbung für ein Schulpraktikum am Computer erstellen sollen. Denn spätestens ab der elften Klasse sollte man sich schon mal mit dem Gedanken anfreunden, die Schule verlassen und sich der richtigen Arbeit widmen zu müssen. Alex, sein bester Freund, der sonst immer neben ihm sitzt, ist heute nicht anwesend. Er ist mal wieder krank. Das kommt bei ihm schon mal häufiger vor. Da auch noch zwei weitere Schüler fehlen, werden die Arbeitspartner von der Klassenlehrerin neu verteilt. Denn das Gymnasium hat momentan nicht genügend Rechner, um das alle Schüler der Klasse gleichzeitig schreiben könnten. So muss dann brüderlich geteilt werden.

    „Computer sind mir Suspekt", meint Jan, der mit einem weiteren Schulkollegen, Dirk, den Computerraum betritt.

    Er ist zwar nicht der großartige Computerfachmann, aber eine Bewerbung zu schreiben, bekommt er wohl hin. Die Würfel sind gefallen und es sieht so aus, als müsste er sich heute einen Computer mit seiner Schulkollegin Simone teilen. Es ist zwar auf Grund wenig vorhandener Interessenspunkte zu einander nie zu Streitigkeiten zwischen den beiden gekommen, dennoch, sonderlich gemocht hat er sie bislang nicht. Auch in der Klassengemeinschaft ist sie derzeit nicht gerade eine besondere Beliebtheit. Sie war bisher immer etwas zurückhaltend und verblieb daher lieber diskret im Hintergrund. Zudem kommt, dass die Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht nun mal auch nicht auf Jans priorisierten Liste steht. Trotzdem denkt er sich, dass er mit ihr wohl irgendwie zurechtkommt.

    „Dann fang mal an", meint er zu ihr.

    Simone legt los und schreibt und schreibt.

    „Was schreibst du denn da so viel rein?", fragt Jan nach einigen Minuten, ohne den Text auch nur ansatzweise mitgelesen zu haben.

    „Ich möchte schließlich mit einer Bewerbung hinkommen und nicht hunderte verschicken müssen. Deshalb schreibe ich es ein wenig ausführlicher. Meine Interessen, wo ich mal beruflich hin möchte und so", antwortet sie.

    „Wer kommt denn derzeit mit nur einer Bewerbung hin? Mein Vater in seiner frühen Phase vielleicht, aber heutzutage? Und außerdem, weniger ist oft mehr! Du kennst doch den Spruch, oder?"

    „Jan, ich vertraue so meinen Möglichkeiten", kontert sie.

    „Was hast du denn für Möglichkeiten?"

    „Warte mal ab!"

    „Dann lass ich mich mal überraschen", erwidert er mit skeptischer Miene.

    „Jan, du solltest mal auf deine innere Stimme hören, die lenkt dein Leben und gibt dir gute Ratschläge."

    Jan denkt, Simone wolle ihn auf den Arm nehmen.

    „Innere Stimme, so ein Quatsch", antwortet er.

    So wie er meint, haben Simones Eltern nämlich einen kleinen aber erkennbaren Stich, der sich auch auf sie übertragen haben muss. Sie tragen des Öfteren so merkwürdige Klamotten und machen auch so komische Dinge. Einmal sah er sie bei einer abendlichen Radtour am Rheinufer, wie sie ausschweifend an einem Lagerfeuer getanzt haben.

    „Aber einen dezenten Splin hat ja jeder", sind so die Gedanken, die ihm nun im Kopf kreisen.

    Wie dem auch sei. Simone klickt nach gefühlten dreißig Minuten dann doch endlich auf den Druck-Button und Jan kann nun auch seine Bewerbung mit seinem Zweifingersuchsystem beginnen. Sie will ins Thema Germanistik eintauchen, doch Jan strebt eher eine praktisch orientierte Arbeit nach seiner Schulzeit an. Er möchte einen technischen Beruf erlernen. Aber so ganz hat er sich noch nicht entschieden. Dafür sei ja schließlich das Praktikum da, um sich erst einmal ein Bild von den Berufen machen zu können. Er entscheidet sich daher für ein Praktikum bei einem hiesigen Elektroinstallateur. Denn Zuhause hat er schon so manchen Kurzschluss produziert, allerdings eher unfreiwillig.

    „Der Knall hört sich immer so genial an, so wie >Pock<. Dann kann ich‘s endlich auch beruflich und ganz legitim knallen lassen", sagt er.

    Simone schüttelt nur den Kopf über seine kontraproduktive Bemerkung, während sie nun ihm über die Schulter schaut. Für seine Verhältnisse rückt sie aber schon ein bisschen zu nah an ihn heran. So nah, dass er über die Formatierung des Briefkopfes erst einmal nachdenken muss. Bislang schüttelte er so einen Brief locker aus dem Ärmel.

    Jan ist bei der Sache mit den Mädchen bisher noch nicht ganz so weit gekommen, denn er trifft sich viel lieber mit seinen Freunden zum nachmittäglichen Herumlungern. Obwohl auch diese altersbedingt so langsam anfangen, sich dem pubertären Treiben hinzugeben, während wieder andere der Phase bereits entronnen sind und sich erste Ausläufer der Adoleszenz bemerkbar machen. Die ganze Klasse besteht aus einem Haufen, der unterschiedlicher nicht sein kann. Ein >hormonelles Durcheinander< würde ein Analyst wohl feststellen. Als Spätzünder will sich Jan allerdings nicht bezeichnen, obwohl der eine oder andere schon ganz andere Erfahrungen gemacht hat.

    Simone ist ein Mädchen, das sich schulisch so durchkämpft, allerdings doch sehr ausdrucksstark ist. Mit ihren langen gewellten Haaren sieht sie, wie Jan immer sagt, aus wie ein Mopp. Aber mit dem rötlichen Stich in Verbindung mit ihrer schlanken Figur, hat sie auf der anderen Seite für ihn doch das gewisse Etwas.

    Ihm fällt nicht so recht ein, was er so alles in sein Anschreiben einbringen, oder wie er sich ausdrücken soll. Zumal ihm ja auch jemand ständig über die Schulter schaut, ohne die Aspekte der Privatsphäre zu berücksichtigen. Der Deutschunterricht bezüglich dieses Themas lief zwar schon, aber:

    „Jungs in dem Alter albern doch nur rum und passen so oder so nicht auf", sagte Tina letztens einmal.

    Auch ein Mädchen aus seiner Klasse. Sie hatte vor kurzem ein extrem peinliches Erlebnis. Es geschah auf dem Schulhof. Auf dem Weg zum Unterricht wurde sie von Markus und Frank mit Himbeeren beschmissen. Eigentlich nicht so schlimm, halt ein jugendlicher Spaß soll man meinen. Nun ja, der Farbstoff ließ sich aber leider nicht kurzfristig wieder aus ihren hellen Klamotten heraus waschen. Und der Bereich, der mit dem roten Farbstoff befleckt wurde, war ein Bereich, den die Mädchen in ihrem Alter nicht so gerne Rot sehen. Es war ein prägendes Ereignis für sie. Zumal die halbe Schule das Geschehen mitbekam. Danach war es mit Jungs erst einmal Essig. Wird wohl auf Grund ihrer momentanen Zickigkeit auch noch eine ganze Weile dauern.

    Frank und Markus sind ebenfalls Schüler aus Jans Klasse. Die beiden sind nicht gerade das, was man unter einfachen Charakteren verstehen würde. Streit ist ein Wort, welches die beiden auf Schritt und Tritt begleitet. Auch einen ausgewogenen Freundeskreis können sie nicht aufweisen.

    Jan sitzt noch immer grübelnd vor dem Computer und versucht die richtigen Worte für das zu finden, was er alles in seine Bewerbung einbinden soll. Fast schon erstarrt schaut er auf den Monitor. Simone flüstert ihm zu:

    „Hör doch mal auf deine innere Stimme."

    „Was hat denn meine innere Stimme damit zu tun? Die ist doch ein Teil von mir und ich gebe ihr vor, was sie sagen soll."

    „Das ist eben nicht so, hör einfach mal auf sie. Hast du noch nie eine spontane Idee gehabt, die tief aus deinem Inneren zu kommen schien?"

    Jan kratzt sich nachdenklich am Kopf und muss ein wenig schmunzeln. Er erinnert sich in diesem Moment an die Begegnung mit ihren Eltern. Den Feuerregentanz, oder was das in seinen Augen war.

    „Die sind doch alle verrückt", denkt er so vor sich hin.

    Aber er versucht es mal. Er hört in sich hinein, hält kurz inne und meint:

    „Die Stimme will aber wohl nicht gehört werden. Die bleibt stumm!"

    „Dann bist du wohl noch nicht so weit", antwortet sie.

    „Wie, ich bin noch nicht so weit? Fängst du nun auch schon so an wie deine Eltern, irgendwelche komischen Sachen zu machen?"

    „Wie!? Komische Sachen!?"

    „Ja! Die tanzen ums Feuer, du hörst irgendwelche Stimmen. Soll ich mir nun Sorgen machen?"

    „Du machst dir Sorgen? Um mich?, antwortet Simone, die überraschend schaut. „Ist es denn ein Problem für dich, die Welt ein wenig breiter zu sehen? Es gibt so viele Dinge auf dieser welchen, die selbst die klügsten Wissenschaftler nicht begründen können.

    „Ihr seid aber kein Teil irgendeiner Sekte, oder?"

    „Nein, wie kommst du denn darauf. Sekten sind dafür da, Menschen auszubeuten. So wie die weltlichen Kirchen auch. Hinter allen dogmatischen Organisationen stehen Leute, die sich so richtig die Taschen füllen. Und seien wir mal ehrlich, wie viele Spenden kommen wirklich bei den Bedürftigen an? Hee?"

    Jan schaut ein wenig verdutzt, als ihm Simone diese Argumente an den Kopf wirft.

    „Simone, Jan, habt ihr ein Problem? Seid ihr schon fertig? Macht ihr da etwa ein Kaffeekränzchen?", unterbricht Klassenlehrerin Frau Müller die beiden.

    Einige aus der Klasse kichern neckisch.

    „Bin gleich so weit", erwidert Jan, der sich nichts anmerken lassend wieder dem Computermonitor zuwendet.

    „Sei heute Mittag um drei Uhr am Pegelturm, dann erkläre ich dir alles", haucht ihm Simone ins Ohr.

    Jan bekommt eine Gänsehaut, als er den Hauch ihrer Stimme an seinem Ohr verspürt. Sie hat sich bisher noch nie so mit ihm unterhalten, was ihn jetzt doch etwas stutzig macht. Auch sich mit Mädchen nach der Schule alleine zu treffen, ist ihm ein wenig suspekt.

    Der Gong ertönt nun zum zu schnell erreichten Schulschluss. Eben noch schnell die gerade fertiggestellte Bewerbung ausgedruckt und ab geht’s nach Hause. Alles stürmt jetzt unter Druck über die Treppenhäuser auf den Schulhof. Es wird gedrängelt und geschuppst. Im Erdgeschoß angekommen, wirft Jan noch einen kurzen Blick auf den Hofdienstplan von morgen. Doch er hat Glück. Morgen braucht er keine Müll- und Hofreinigungsaktion zu starten.

    Nun schlendert er mit zügigem Gang vom Schulhof in Richtung Innenstadt. Die ganze Zeit denkt er dabei an die Unterhaltung mit Simone.

    „Was will die mir überhaupt erzählen? Und warum hab ich mich bloß mit der komischen Simone verabredet?", murmelt er und verspürt ein leichtes Kribbeln in der Magengegend. So viele Fragen, auf die er den ganzen Weg keine Antworten findet. Nach zwanzig Minuten erreicht er das Haus seiner Oma und betätigt die verschnörkelte Klingel. Kurz darauf öffnet sich die Türe.

    „Hallo Jan, komm rein", empfängt sie ihn.

    Im Flur legt er seine Klamotten ab und geht in die Küche, wo bereits das Mittagessen auf ihn wartet. Am Mittagstisch kehrt immer ein wenig Ruhe ein, denn hierbei flimmert ständig der stimmungsbetäubende Fernseher. Abschlussklasse 2005, na ja. Verträumt lässt er sich die Fischstäbchen mit Spinat und Kartoffelpüree schmecken.

    „Hast du heute eigentlich viele Hausaufgaben auf?", fragt sie ihn kurz.

    Jan, der verträumt am Tisch in seinem Essen herum pickt, reagiert zunächst gar nicht.

    „Jan?"

    „Was? Nein, heute mal nichts", erwidert er desorientiert.

    „Nun ja, das wäre bei dem tollen Wetter auch nicht so schön gewesen", antwortet sie und wendet ihren Blick zurück zum Fernseher.

    „Nicht wirklich."

    Nun hat die Konversation erneut ein jähes Ende gefunden.

    Aufgeregt verlässt er kurze Zeit später ihr Haus. Nachdem er seine Schulutensilien in der Wohnung seiner Eltern verstaut hat, verlässt er diese nach nur wenigen Minuten auch wieder. Er geht die Straße entlang und biegt in einen kleinen Weg ein, der an den Rhein zum sogenannten Mühlenturm führt. Am Ende dieser Flächenversiegelung steigt Jan die abgetretenen Stufen, die vor langer Zeit in die Stadtmauer integriert wurden, hinunter zur Rheinpromenade. Er geht diese ein ganzes Stück entlang, bis er vor dem Pegelturm steht. Jan ist, wie zu erwarten war, ein wenig zu früh dran. So setzt er sich dort auf einen großen Lavastein, der als einer unter vielen direkt am Rheinufer liegt. Er wartet, schnippt kleine Steine ins Wasser und schaut den Schubschiffen zu, wie diese vollbeladen und schwerfällig an ihm vorbeifahren.

    „Die kommt ja eh nicht. Die hat mich bestimmt verarscht und lacht sich irgendwo um die Ecke Schrott, wenn sie mich hier so sitzen sieht", denkt er.

    Dann steht er kurz auf und plötzlich schwappt eine große Welle des an ihm vorbeifahrenden Schubschiffes ans Ufer, die ihn direkt getroffen hätte. Jan blickt auf den nun völlig nassen Stein, auf dem er gerade noch saß.

    „Ui, da hab ich ja noch mal richtig Glück gehabt!"

    Er schaut hoch. Da sieht er Simone, die gerade über die Promenade in seine Richtung schreitet. Als sie in seine Reichweite kommt, meint sie:

    „Na, hat dir deine innere Stimme gerade mal wieder geholfen?"

    „Was? Nein, das war nur Glück. Man kann ja nicht immer Pech haben, oder? Du immer mit deiner inneren Stimme", antwortet er trotzig.

    „Na ja. Komm, gehen wir ein Stück?, erwidert Simone, die heute viel offener wirkt als sonst. „Da ich schon längere Zeit das Gefühl habe, dass du jemand bist mit dem man reden kann, erkläre ich dir mal ein paar Dinge. Auch die Geschichte mit dem Lagerfeuer und so. Wir sind nicht anders wie viele meinen. Und schon gar nicht verrückt. Bist du getauft?

    „Ja, bin katholisch. Wieso?"

    „Siehst du, ich nicht. Ich bin nicht getauft und glaube auch nicht an euren Gott. Vielmehr glauben wir an mehrere Götter."

    „Seid ihr Satanisten?", haut Jan dazwischen.

    „Nein, du Schlaumeier. Würde ich Satan huldigen, hätte ich doch nicht mehrere Götter. Wir sind Asatruar."

    „He? Asa was?", fragt Jan verdutzt.

    „Asatru. So nennt man das, wenn man nach dem alten nordischen Glauben lebt. Du kennst bestimmt einige Götter wie Odin, Thor, Frigga, Freya, wo übrigens der Freitag nach benannt ist. Wusstest du, dass der Name Freitag und das Essen von Fisch an dem Tag heidnischen Ursprungs ist? Der Fisch ist einigen Überlieferungen nach Freyas Totemtier und wird ihr zu Ehren freitags gegessen. Und was dazukommt ist, das die Zahl 13 zudem auch noch eine heidnische Glückszahl ist. Sie also hier einen hohen Stellenwert hat. Sie wurde daher unter anderem von den Kirchen zur Unglückszahl erklärt."

    „Ist ja ein Ding. Aber, … Ja Odin kennt man aus Filmen. Habe letztens mal den >13ten Krieger< gesehen. Den fand ich allerdings eher ein wenig übertrieben. Ihr seid also Heiden?"

    „Ja genau, wobei das Wort Heide breit gefächert ist. Es gibt hier nicht nur die Asatruar. Was viele nicht wissen, es gibt auch Menschen, die dem alten ägyptischen, indianischen oder griechischen Glauben anhängen. Die Hexen gibt es auch noch. Allerdings haben die nicht viel mit Zaubern und so zu tun. Die halten zwar auch Rituale ab, wie zum Beispiel die Wicca, aber bei vielen von denen geht es hauptsächlich um die Kräuterkunde. Die nutzen halt die Kräuter im Garten, um heilende und schmerzlindernde Tees zu brauen. So kam wohl das Gespinst mit dem Hexenkessel auf. Ist allerdings eher ´ne Verallgemeinerung."

    „Aha. Und was macht man so als Asatru?", fragt Jan.

    „Wir leben so wie ihr Christen auch, nur nicht nach Dogmen. Bei uns ist alles mündlich überliefert und wesentlich älter. Wir verstehen uns als ein Teil der Natur. Und dein sogenannter Tanz ums Feuer ist eine Art Gottesdienst, so wie ihr sagen würdet. Es ist ein Treffen mit Gleichgesinnten, so etwas wie ein Stammtisch. Dabei wird den Göttern gedacht, mit ihnen in Kontakt getreten und die Bindung zu ihnen gestärkt. Wir sagen dazu Blót. So etwas hatten wir übrigens vor ein paar Wochen zur Mittsommernacht am Rhein."

    „Blót, aha. Ich habe es übrigens satt immer daran erinnert zu werden, dass ich in dieses Schema Kirche herein gedrückt worden bin. Hier herrscht der reine Zwang. Glaube dies und Glaube das, wenn du es nicht machst, dann kommst du in die Hölle. Und dir macht sowas Spaß? Das kann ich nicht so recht glauben."

    „Spaß würde ich nicht unbedingt dazu sagen, aber ich lebe sehr gut damit. Bei uns in der Familie gibt es keinen Zwang. Eure, oh entschuldige, die Kirche ist noch nicht so alt wie unser Glaube. Sie hat aber sehr viele Dinge daraus entnommen. Eine Art Engel gibt es auch bei uns. Nur heißen sie hier Feen und Elfen. Die sind aber nicht direkt zu vergleichen. Ostern ist nordisch und heißt bei uns Frühjahrstagundnachtgleiche, bei manchen auch Ostara. Weihnachten ist die Zeit Jul, auch Julfest oder Wintersonnenwende genannt. Dann feiert man den kommenden Frühling und die wieder länger werdenden Tage. Den Sieg über die Dunkelheit also. Der von den Christen übernommene Schutzengel gleicht der unseren Fylgja oder auch Folgerin, die heute angesprochene innere Stimme. Meine Eltern könnten das alles aber viel besser erklären. Aber nun weißt du, was an mir, mit anderen Augen gesehen meine ich, so anders ist. Nur der Glaube. Essen wir ein Eis?"

    „Sicher."

    Die beiden kommen gerade an einer Eisdiele vorbei und gönnen sich nun erst einmal eines von dessen Verkaufsargumenten. An einem so warmen Sommertag wie heute, ist ein kühles süßes schon mal sinnvoll. Denn die Sonne brennt ihnen unermüdlich auf den Pelz. Jan ist immer noch sehr verunsichert. Denn die momentane Situation ist schon sehr ungewöhnlich für ihn. Da er aus einer konservativen Familie stammt und eher Mädchenfremd erzogen wurde, wusste er erst einmal gar nicht damit umzugehen. Dennoch taut er so langsam auf. Nach einer Weile setzen sie sich am Marktplatz auf eine Bank, die unter Bäumen an einer Pumpe steht und betrachten das momentane Treiben im Ort. Es ist Donnerstag und bereits viertel vor sechs. Die Glocken beginnen zu läuten, denn um 18 Uhr beginnt hier die Messe im katholischen Sakralbauwerk.

    „Schau mal, die alten Leute auf der anderen Straßenseite, die gehen jetzt zur Kirche", sagt Jan und muss dabei leicht schmunzeln.

    „Möchtest du da auch hin?", grinst ihn Simone dabei an.

    „Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, oder?, meint er neckisch zurück. „Ich bin froh, dass ich das hinter mir habe. Ich finde, so oder so sollte keiner dazu gezwungen werden. Kinder werden geradezu gewaltsam missioniert. Sie können noch kein Wort sagen, werden aber schon getauft. Was machst du eigentlich so den ganzen Tag? Man sieht dich so selten in der Stadt.

    „Ich bin viel unterwegs, fahre viel mit dem Rad. Bin auch mal ganz gerne alleine. Dann suche ich mir einen ruhigen Platz und spanne mal aus."

    Jan wusste bis Dato noch nicht, dass Simone eine derartige Sportskanone ist und wie er viel mit dem Fahrrad fährt.

    Sie denkt kurz nach und meint weiter:

    „Komm, ich zeige dir mal was."

    Voller Enthusiasmus steht sie auf, eher ein wenig hektisch.

    „Och, Simone. Wir sitzen doch gerade erst."

    „Kannst dich auch gleich wieder hinsetzen, wenn wir da sind. Komm einfach mal mit!"

    Jan steht ebenfalls auf und folgt ihr über den Marktplatz, der aber mehr einem Parkplatz gleicht. Autos neben Autos. Vorbei an der alten Stadtbücherei kommen die beiden über eine Seitenstraße wieder zur Rheinpromenade. Die Promenade eignet sich in dieser Stadt sehr gut um einen Spaziergang zu machen. Sie liegt direkt am Rhein und hier fahren keine lästigen Autos, also ein reiner Fußweg, der zudem noch schön gestaltet ist. Entlang des Weges erstreckt sich wieder die alte Stadtmauer, die teils noch aus dem 14. Jahrhundert stammt. Und mit ihren Katakomben ist sie zudem noch ein Touristenmagnet.

    „Die Mauer wurde im Mittelalter als Bollwerk gegen die Spanier erbaut", fügt Jan nebenbei an.

    „Ja, ich weiß. Komm wir gehen runter zum Rhein!", meint sie desinteressiert und zieht das Tempo noch ein wenig an.

    „Sind wir schon da?", ruft Jan amüsiert hinterher.

    „Nein!", antwortet sie knapp.

    Zwischen Promenade und Rhein windet sich ein Grünstreifen, bevor man zu den Kribben kommt, die die Gewalt des Stromes ein wenig drosseln sollen. Ein Stückchen weiter, zwischen zwei der Kribben, liegt eine kleine Halbinsel. Wie eine große Zunge streckt sie sich in den Rhein. Von außen recht unspektakulär, da es von hier wie eine Sandbank mit Wildwuchs aussieht. Also keine Struktur zu erkennen. Allerdings, wenn man sich erst einmal durch das Dickicht gekämpft hat, macht sich ein Ort auf, welchen Jan hier nie vermutet hätte. Kleine Bäume wachsen da. In Blüte stehende Sträucher stehen dazwischen und durch einige Sandwellen windet sich ein kleiner Bach, der von einem Seitenarm des Rheins gespeist wird. Überall stehen kleine Grasinseln im Sand, aus denen immer mal wieder eine blumenartige Gewächsstruktur herausschaut. Um die Halbinsel herum wuchert eine gewaltige Wand von niederrheintypischem Weidengebüsch. Es sieht inmitten dessen aus, als hätte hier ein erstklassiger Gärtner seine Hände mit im Spiel gehabt. Und das alles auf Sand gebettet.

    „Komm, leg dich mal hier in den Sand und höre einfach den Geräuschen zu", fordert ihn Simone auf.

    Mal abgesehen davon, dass Jan das alles immer noch ein wenig naiv findet, folgt er doch ihrer Aufforderung und legt sich mit in den Sand. Er sieht sich zwischen Bäumen und Sträuchern liegen und neben ihm der kleine Bach. Der Wind weht durch die Baumwipfel und erzeugt mit Hilfe der Sonne ein unbeschreibliches Lichtspiel. Es fahren Schiffe vorbei, die mit ihren schweren Dieselmotoren das typische Rheinflair erzeugen. Vögel zwitschern und im Hintergrund hört man leise Kinder tobend auf einem nicht weit entfernten Spielplatz lärmen. Auch wenn er es eigentlich nicht zugeben will:

    „Das ist ja echt genial. Hier könnte ich den ganzen Tag liegen bleiben."

    „Ich auch, fügt Simone hinzu, „An solchen Orten bin ich öfter und lade meine Energien wieder auf. Hier lässt sich auch einmalig für die Schule lernen. Hier hast du wenigstens deine Ruhe. Du siehst ja, wenn man nicht weiß wie es hier drinnen aussieht, geht man doch auch hier nicht rein, oder?

    Nach dieser Anmerkung muss Jan wieder an die Schule denken.

    „Nächste Woche ist ja die Klassenfahrt. Hab ja eigentlich keine Lust auf Museumstour zu gehen. Detmold, da ist ja mal gar nichts los. Da gibt es doch nur Wald. Will nicht hoffen, dass es wieder so langweilig wird wie das letzte Mal. Weißt du noch auf dem Wolfsberg bei Kleve? Nachtwanderung und Konsorten. Das war ja nicht so erbauend."

    „Wolfsberg war schon OK. Ihr Jungs habt euch allerdings auch ordentlich daneben benommen. Bist du nicht damals mit Daniel aus dem Zimmer geflogen?"

    „Ja, leider", antwortet Jan. „Aber sag nicht, dass bei euch alles gesittet

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