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Mensch ohne Schatten: Ein Arzt packt aus
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Mensch ohne Schatten: Ein Arzt packt aus
eBook414 Seiten5 Stunden

Mensch ohne Schatten: Ein Arzt packt aus

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Über dieses E-Book

Zur falschen Zeit am falschen Ort erleidet ein Arzt einen schweren Unfall, den er dank glücklicher Umstände überlebt. Er wechselt die Seiten und wird zum Patienten im Rollstuhl. Eindrucksvoll beschreibt er Pfusch und Inkompetenz seiner Kollegen, menschenunwürdige Krankenpflege, Hospitalinfektionen mit multiresistenten Keimen, Verwechslung der Medikamente. Auf die Parallelwelten im künstlichen Koma der Intensivstation folgen die Qualen der Rehabilitation und die Entlassung in das Leben eines behinderten Menschen im Rollstuhl.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Juli 2013
ISBN9783849551490
Mensch ohne Schatten: Ein Arzt packt aus

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    Buchvorschau

    Mensch ohne Schatten - Jürgen Kuhl

    Der Unfall

    Da stand sie nun vor mir, leicht zur Seite geneigt und funkelte mich an. Das Licht der warmen Nachmittagssonne funkelte durch die schaukelnden Blätter der uralten Platane über uns und ließ sie in einem Glanz erscheinen, als sei sie mit Tausenden von Diamanten besetzt. Ich ging um sie herum und hörte jenes feine Knistern, wie man es manchmal hören kann, wenn ein Kuchenblech im heißen Ofen backt.

    Der Duft, den sie verströmte, war betörend. Er betäubte und reizte meine Sinne gleichzeitig. Ich fühlte, wie sich mein Puls beschleunigte und mein Herz im Hals klopfte. In der Magengegend verspürte ich jenen sanften Druck, den ich noch aus meiner Kindheit kannte. Er trat immer am Heiligabend auf, bevor sich die Tür zum Zimmer mit dem Weihnachtsbaum öffnete, wo die Überraschungen warteten.

    Ich ging um sie herum und betrachtete sie noch einmal von allen Seiten. Ich blickte ihr mitten ins Gesicht und nahm ihr verhaltenes Lächeln wahr, das um die Scheinwerfer spielte. Ich hockte mich vor sie, um mit ihr auf einer Höhe zu sein. Täuschte ich mich? Nein, sie hatte drei Nasenlöcher, die sie frech nach vorne stülpte.

    Mein Blick fiel in den Ausschnitt ihrer Verkleidung, bis tief hinein in ihre Eingeweide. Es sah aus, als sei sie einem Piquadero entkommen. Von der Seite betrachtet, hatte man den Eindruck, dass der Spieß sie ihren Rücken aufbäumen ließ. Ich war versucht, den Spieß zu entfernen, ihr zu Hilfe zu kommen. Doch dann schien es mir besser, alles so zu lassen, wie es war. Bei dem Spieß handelte es sich nämlich um den Lenkungsdämpfer meines Motorrades. Und der hatte natürlich einen anderen Sinn. Mein Blick glitt an der Seite der schweren Maschine entlang. Wie eine silberne Brosche am Kleid einer vornehmen Dame war das Auspuffrohr nach hinten hochgezogen.

    Ihr Herz schlug weiter drinnen hinter der Verkleidung. An einer Stelle konnte man eine Ecke des Motorblocks sehen, der die Verkleidung zu sprengen schien. Endlich hatten die Bayern eingesehen, dass ein Motorrad mit Verkleidung auch schön aussehen kann. Zu früheren Zeiten hat man die „K der „Backsteinfraktion zugerechnet, weil ihr Motorblock wie ein Backstein unter dem Fahrgestell hing. Wer damals die ABS-Bremshilfe haben wollte, erhielt einen weiteren Backstein an die linke Seite gepackt. Zu allem Überfluss stand auf diesem auch noch in großen, verchromten Buchstaben „ABS" zu lesen. Die filigranen Bremsleitungen aus grün lackiertem Aluminiumrohr zogen sich wie Krampfadern durch das Fahrwerk.

    Da war der Blick in das Cockpit schon aufregender. Hier hatte die Moderne bereits Einzug gehalten, in das – wie viele behaupteten – sicherste Motorrad der Welt. So an die zwanzig Kontrollleuchten informierten über den inneren Zustand der Maschine. Das ABS schnurrte immer etwas länger, bis die Umdrehung der Räder fünf Stundenkilometer Geschwindigkeit erreichte. Dann sprang das Geräusch vom Trommelfell ab wie eine Katze vom Sofa, wenn sie genug geschnurrt hatte. Nachdem der Anlasser zwei, drei Mal sich mühelos gedreht hatte, wurde der Sound kerniger. Ein leichter Zug am Gas ließ sofort die geballte Kraft ahnen, die durch die Katalysatoren und Schalldämpfer auf die gesetzlichen Normen gebracht wurde. Jedesmal, wenn die Oberschenkel über den Tank Kontakt zu der Maschine aufnahmen, stellte sich spontan ein Gefühl der Sicherheit ein. Die Reifen vermittelten nicht nur den Straßenzustand, sondern gaben auch jenes sichere Gefühl an das „Popometer" zurück.

    Ich wachte auf. Es war Sonnabend. Mit einem Ruck saß ich auf der Bettkante und blinzelte in die Morgensonne, die im Osten aufgehend, mich geweckt hatte. Tatsächlich, ich hatte von meinem Motorrad geträumt. Ein Traum war in der Tat in Erfüllung gegangen. Mein letztes Motorrad, das ich anschaffen wollte, sollte eine BMW sein. In Bikerkreisen das Synonym für „Beste Motorrad Ware". Neben Kardanantrieb, Katalysator und ABS sollten auch Fahrwerk und Design auf dem neuesten Stand sein. Reichlich Drehmoment und PS würden gern in Kauf genommen. Schließlich wollte ich gemütliches Fahren mit Kraftreserven verbunden wissen.

    Die bauchigen Transportkoffer aus schlagfestem Kunststoff und Einschlüssel-Technik, mit einem Handgriff rechts und links rüttelfest zu montieren, waren eine Freude für sich. Nach meinem Test mit dem Gartenschlauch erwiesen sie sich auch als wasserdicht. Des Öfteren wurde ich schon gefragt, warum die BMW-Fahrer immer ihren Hausrat in den Koffern spazieren fahren: Wahrscheinlich ist die einfache Handhabung ein Grund dafür. In den vier Monaten, die ich diese Maschine fuhr, habe ich nur wenige Male die Koffer benutzt, umso mehr Pläne habe ich geschmiedet, wo sie zum Einsatz kommen sollten. Zum Beispiel die Fahrt flussaufwärts zur Elbquelle, durch die Tschechoslowakei zur Schneekoppe. Eine andere Tour sollte sich auf den Spuren der Ottonen bewegen. Besonderer Höhepunkt war der Gedanke, sich eines Tages mit dem Motorrad durch die Alpen zu schlängeln. So wie damals, als wir noch mit den Choppern unterwegs waren.

    Ich stand vollends auf und ging unter die warme Dusche. Ich machte keinen Hehl daraus, zu den Warmduschern zu gehören. Schließlich war ich keine dreißig mehr.

    Im Geiste ließ ich den heutigen Tag mit meiner Planung ablaufen. Da war die Fahrt zum Getränkemann, dann zur Tankstelle, Autowaschen und auf dem Rückweg noch ein paar Sachen für das Wochenende einkaufen. In einer Woche wollte ich meinen Geburtstag feiern. Insgeheim freute ich mich darauf, denn ich wollte groß feiern. Aber es sollte nicht mehr dazu kommen.

    Beim Mittagessen besprachen meine Partnerin Birgitt und ich, wer unbedingt auf die Gästeliste gehörte. Ich wünschte mir wie immer eine Basilikumtorte von ihr, weil sie die meisterhaft zubereiten konnte. Neben Basilikum und Knoblauch werden Frischkäse und Greyerzer Käse verwendet. Beim Gedanken daran konnte ich schon die Komposition schmecken. Wir hatten uns darauf verständigt, dass wir zwanzig Personen werden würden. Wir wollten unsere Gäste mit einem Glas Prosecco begrüßen und dann einige italienische Speisen reichen. Zur Auswahl an Getränken hatten wir neben einem Chianti classico, Wasser, alkoholfreies und richtiges Bier vorgesehen. Falls Kinder mitgebracht würden, wollten wir Limonade und Coca-Cola bereithalten.

    Die Sonne schien immer noch und hatte den beginnenden Herbst mit goldenen Strahlen eingeleitet. Ich ging auf die Terrasse hinaus und blinzelte ihr durch die schaukelnden Blätter der Rotbuche entgegen. Aus dem Garten stieg schon die würzige Luft des kommenden Herbstes herauf. Ich beschloss, diese friedliche Stimmung, die mich überkam, noch eine Weile auf mich wirken zu lassen. Ich sog die Luft tief in meine Lungen. Dann verließ ich den Garten und betrat das Haus durch die Garage.

    Da stand sie nun, meine neue BMW. Auf dem Mittelständler aufgebockt, streckte sie ihr Hinterteil keck in die Höhe. Im Dämmerlicht der Garage schimmerte die Blaumetalliclackierung der K 1200 RS verlockend. Der schräg nach oben ragende Auspuff erschien jetzt wie ein gestreckter Zeigefinger, der sagen wollte: „Hallo, hier bin ich. Zieh dich um, und dann kann es losgehen." Dieser Verlockung konnte ich nicht widerstehen. Ich betrachtete meine Maschine von allen Seiten, prüfte, ob ich mit ihr losfahren könnte. In früheren Zeiten, als noch Chopper angesagt war, wurde viel Wert auf sauber poliertes Chrom gelegt. Hier gab es, vom Auspuff abgesehen, nur die nostalgischen Zierringe aus Chrom um die Instrumente. Und die waren immer sauber. Dass es Tote gab, dafür sorgte die Windschutzscheibe. Hier schlugen nämlich die Insekten zu Tausenden ein und hinterließen bizarre Formen, wenn ihre zerplatzten Körper ihr Inneres freigaben. Der Verschmutzungsgrad hielt sich heute in Grenzen, sodass eine Reinigung nicht notwendig erschien. Viel wichtiger war es, das Helmvisier frei von den Insektenleichen zu halten. Es schien eine magische Anziehungskraft von ihm auszugehen, denn im Sommer war nach wenigen Kilometern bereits eine Zwischenreinigung notwendig, wollte man den Durchblick behalten.

    Es war noch früh am Nachmittag in diesem September 2001. Meine Pflichten hatte ich alle erfüllt, und so war es naheliegend, meine Sicherheitskleidung anzulegen und noch eine gemütliche Runde mit dem Motorrad zu fahren. Mich einfach mit dieser herbstlichen Stimmung in der Sonne treiben zu lassen. Nicht zu rasen, sondern genussvoll diese Hightechmaschine zwischen den Knien durch die Landschaft zu dirigieren. Jeder Biker braucht ein Ziel. Das war schon immer so. Und so beschloss ich, die Hamburg-Harburg-Nordheide-Tour zu nehmen. Das Reizvolle an dieser Strecke ist die Mischung aus Stadtgebiet, Autobahn, Landstraßen sowie Straßen der zweiten Kategorie mit kleinen Ortsdurchfahrten.

    Auf den Elbbrücken ordnete ich mich in der mittleren Spur ein. Die Fahrbahn hatte durch den regen Lkw-Verkehr Spurrinnen. Und so konzentrierte ich mich darauf, nicht in diese Rinnen zu fahren, sondern dazwischen zu bleiben und nicht auf den Ölflecken auszurutschen. Da ich mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielt, wurde ich rechts und links von den Lkw überholt. Bei denen war oft mehr kaputt als nur die Tachowelle. Manchmal wurde mir angst und bange, wenn die riesigen Reifen immer näherkamen. Als ob sie mich in ihrem rasenden Wirbel mitreißen, auf den Asphalt schmettern und mit den folgenden Rädern festwalzen wollten. Deutlicher konnte einem die eigene, schwächere Position kaum demonstriert werden. Die Tipps aus dem Sicherheitstraining traten mir ins Bewusstsein. Abstand halten!

    Die Fahrt über die Elbbrücken hatte für mich immer eine doppelte Bedeutung. Verlässt man über sie die Hafenstadt, so ist es, als sei man einer Umklammerung entronnen. In umgekehrter Richtung hatte ich jedes Mal das Gefühl, nach Hause zu kommen, mit offenen Armen empfangen zu werden, flankiert von den hohen Stahlbögen der Brückenkonstruktion. Rechts und links der Autobahn das Hafenpanorama, besonders nachts durch die vielen Lichter reizvoll anzusehen. Hier herrscht Leben. Hier atmet die Stadt im Rhythmus einer Metropole. Aus der Ferne fast filigran anmutend, die Köhlbrandbrücke, die den gleichnamigen Seitenarm der Elbe überspannt und die Trasse schwebend in den Freihafen führt.

    Nach fünfzehn Minuten Autobahnfahrt hatte ich die Ausfahrt Harburg erreicht. Hier verließ ich die „größte offene Psychiatrie", wie die Autobahn im Polizeijargon auch heißt. Nachdem ich Harburg hinter mir gelassen hatte, lenkte ich meine Maschine in die flache Landschaft. Die Straße schlängelte sich zwischen grünen Wiesen hindurch, durchschnitt kleine Dörfchen. Ich war in der Nordheide. Die Sonne schien warm auf meinen Rücken und zeichnete scharf begrenzte Schatten auf die Straße. Ich ließ mich treiben, ohne Hektik, mal in Richtung Lüneburg, mal in Richtung Winsen.

    Da war es wieder, dieses Gefühl im Bauch. In jeder Kurve war es da. Es begleitete mich und gab mir jenes angenehme Kribbeln, das ich als Kind oft verspürt hatte, wenn ich mich auf eine Sache ganz besonders freute. Wie damals, als ich mir das neue Fahrrad gewünscht hatte. Es war Ostern, und die Eltern hatten es im Hof hinter einem unserer Lkw versteckt. Dort habe ich es natürlich sofort entdeckt. Ich war ganz taumelig vor Freude, dass ich es tatsächlich bekommen sollte. An dieses Glücksgefühl erinnerte ich mich an jenem sonnigen Nachmittag im September. Außerdem wollte ich in einer Woche meinen vierundfünfzigsten Geburtstag feiern.

    Die Straße hob mich sanft über Hügel hinweg und leitete meinen Weg in ein Dörfchen, wo ich vorher noch nie war. Zu meiner Rechten erschien das Ortseingangsschild. Aus dem Augenwinkel nahm ich den Namen wahr und vergaß ihn sofort wieder. Ich hatte mir angewöhnt, am Ortseingang nicht nur das Gas wegzunehmen, sondern auch zwei Gänge herunterzuschalten. Die Vorteile dieser Maßnahmen lagen auf der Hand: Durch den jetzt hochtourig laufenden Motor hatte ich ein angemessenes Fahrgefühl und gleichzeitig eine Sicherheitsreserve durch die Beschleunigungsmöglichkeit. Über Motorräder kann man letztlich denken, was man möchte; sie sind nun einmal Beschleunigungsmaschinen, von null auf 100 Stundenkilometer in etwa drei Sekunden ist normal. Und das mit einem kleinen Dreh am Gasgriff. Das Herz schlägt in dieser Zeit zwei bis drei Mal.

    Zu meiner Rechten stellte ich fest, dass das Dorf sogar über eine Tankstelle verfügte, die das Benzin recht preiswert anbot. Ein kurzer Blick auf meine Tankanzeige lockte mir nur ein Grinsen ins Gesicht. In dem voluminösen Tank steckten noch einige Dutzend Kilometer. Dann kamen die ersten Häuser. Gleich das Erste vor der Kurve war ein Souvenirladen. Offenbar war seine Spezialität der Verkauf von Hartbrandwichteln in allen Formen, Größen und Ausführungen. Diese Dinger sind die Lieblinge vieler Deutscher. Sie stellen sie sich in den Garten oder sonstwo hin, weshalb sie auch Gartenzwerge genannt werden. Der Gedanke an all diese Wichtelliebhaber ließ mich unter dem geschlossenen Visier meines Motorradhelmes erneut grinsen.

    Im Scheitelpunkt der Kurve der Dorfstraße, die das Dorf nach rechts verließ, musste ich anhalten, weil vor mir ein Fahrzeug hielt, um nach links abzubiegen. Eigentlich wollte ich weiterfahren und überlegte, ob ich mich rechts zwischen Fahrzeug und Bordsteinkante vorbeischlängeln sollte. Es war aber zu eng, die Bordsteinkante war zu hoch und hätte einem Zweirad niemals erlaubt, sie im spitzen Winkel zu überrollen. Mit einem Auto hätte man das geschafft, mit einem Motorrad auf keinen Fall.

    Viele Motorradfahrer schlängeln sich allzu gerne zwischen den Fahrzeugen hindurch, oder an ihnen vorbei. Es gibt das Gefühl der Überlegenheit zurück, das einem sonst fehlt. Besonders im Stadtverkehr, wenn es zu eng wird, nimmt man als Motorradfahrer wahr, wie schutzlos man der Rücksichtslosigkeit seiner Umgebung ausgeliefert ist. Da wird geschnitten und ausgebremst, als ob es darum ginge, die Qualifikation für ein Formel-1-Rennen zu erreichen. Ich habe mir oft Gedanken gemacht, woher diese Rivalität kommen könnte. Die einzige Erklärung, die mir plausibel erschien, war der Neid auf die Beschleunigung der Motorräder. Selbst teure und teuerste Sportwagen träumen nur von dieser Beschleunigungsleistung, die ein Serienmotorrad so locker auf die Straße bringt. Was liegt da näher, als abzudrängen, auszubremsen, zu hupen, aus dem offenen Fenster zu spucken, oder Gegenstände hinauszuwerfen. Oft konnte ich beobachten, welche hämische Freude sich auf den Gesichtern von Autofahrern breitmachte, wenn sie den Motorradfahrer getroffen hatten. Auch mich traf einmal eine leere Bierdose an der Schulter. Kein Problem, wenn man mit einem Protektoranzug unterwegs ist. Trotzdem musste ich tief durchatmen, bis sich mein Adrenalinspiegel wieder normalisiert hatte.

    Ich hielt hinter dem Mercedes an. Mit seiner lindgrünen Lackierung aus den fünfziger Jahren war er irgendwie fehl am Platze. Sein Besitzer hatte ihn gut gepflegt und fürs Wochenende auf Hochglanz gebracht. Die Chromteile blitzten und funkelten in der Sonne, frei von blinden Stellen. Der Lack schien frisch poliert und glänzte aus der Tiefe heraus. Der Fahrer hatte sein Fahrzeug schräg über die Straße gestellt und stand ziemlich dicht an der Mittellinie. Den Gedanken, mich links an seinem Oldtimer vorbei zu mogeln, gab ich auf. Es hätte bedeutet, in den Gegenverkehr zu fahren, nur um als Erster in der Reihe zu stehen. Für ein solches Manöver war der Verkehr zu dicht. So blieb ich in der linken Hälfte der Fahrspur stehen. Das Gewicht der Maschine hatte ich auf dem rechten Bein abgefangen und den rechten Fuß auf der Straße abgestellt, während der linke Fuß auf der Raste darauf wartete, den ersten Gang einzulegen. Die Hitze knisterte im Motor und schickte mir jenes würzige Aroma nach oben, das für das Motorradfahren typisch ist.

    Die Sonne schien mir warm auf den Rücken. Ihre Wärme zog in meinen Körper und ließ in mir ein angenehmes Gefühl aufsteigen. Ihr Licht zeichnete meinen Schatten scharf vor mir auf die Straße, von der durch die Wärme Teergeruch aufstieg und sich mit dem Duft des nahen Herbstes vermischte. Ich genoss diesen Augenblick und sog die Luft durch die Nase ein. Um mein Stimmungsbild perfekt zu machen, fehlte nur noch das glitzernde Wasser der Elbe, das mich als silbernes Band oft auf meinen Fahrten begleitete. Das war höchster Genuss, das war Motorrad fahren, das war Bauchgefühl. Ich liebte diese gemütlichen Fahrten am Wasser entlang, weil die Seele im Fahrtwind baumeln konnte. Hier konnte ich meine Träume leben, während andere ihr Leben träumten.

    Am Fluss entlang hatte ich meine Rastpunkte, dicht am Wasser gelegen, sodass der leichte Wellenschlag zu hören war. Wenn ich am Ufer im Gras in der Sonne lag und auf das vorbeiströmende Wasser blickte, fühlte ich, wie meine Sorgen mit der Strömung wegschwammen.

    Es ist ein Ritual. Ich atme tief durch. Die Augen halb zu Schlitzen geschlossen, blinzele ich dem grellen Licht der Sonne entgegen, das Diamanten gleich auf dem Wasser glitzert. Das gegenüberliegende Ufer scheint sich im gleißenden Licht aufzulösen. Ich liege am Meer.. Schiffe ziehen in Sichtweite vorbei. Ich höre die Motoren stampfen. Eine Brise weht um die Nase und zerzaust die Haare. Es riecht nach Diesel. Manchmal kreisen Möwen. Ihr kreischen schrillt im Ohr. Es ist schön hier.

    Fuhr ich dann weiter, war ich immer erleichtert; mein Kopf war freier, meine Gedanken klarer und ich fühlte mich wohl. Wie hätte ich wissen sollen, dass ich diese Stimmung nie wieder erleben würde?

    Ich dachte, dass bei der Beleuchtung die Sicherheitsstreifen, die in die Jacke eingearbeitet waren, reflexhaft glitzern müssten in der Sonne. Außerdem hatten meine Stiefel Reflektoren im Fersenbereich. Wieso dachte ich jetzt zum ersten Mal daran? Es hatte mir immer genügt zu wissen, dass Rücklicht, Bremslicht, Blinker und Fahrlicht funktionieren. Natürlich musste auch der Luftdruck der Reifen stimmen und die anderen Dinge, die man überprüft, wenn man Motorrad fährt und wieder heil ankommen möchte. Aus welchem Grund gingen mir jetzt solche Gedanken durch den Kopf?

    Der Gegenverkehr hatte immer noch kein Weiterkommen zugelassen. Ich stand hinter dem grünen Mercedes und wartete darauf, nach ihm links abbiegen zu können. Ich hatte mich umentschieden und beschlossen, dem Wegweiser nach Hamburg zu folgen. Den rechten Fuß hatte ich etwas weiter nach außen abgestellt, um das Gewicht der schweren Maschine auszubalancieren und in der Sonne eine breitere Silhouette abzugeben. Ein Hintermann würde mich dann besser wahrnehmen können.

    In meinem ganzen Motorradfahrerleben hatte ich mir noch nie Gedanken um meinen Hintermann gemacht. Schließlich war ein Motorrad eine Beschleunigungsmaschine. 130 PS für knapp 500 kg einschließlich Fahrer mit Motorradbekleidung bedeuteten Kraft im Überfluss.

    Mir ging die Szene durch den Kopf, als bei meinem Pfingstausflug eine flotte BMW-Cabriofahrerin wissen wollte, wer von uns beiden schneller ist. Bei 250 km/h wurde sie elektronisch abgeriegelt, sodass ich spielend an ihr vorbeiziehen konnte. Solche Spielchen sind manchmal ganz lustig, machen aber nicht den Reiz des Motorradfahrens aus. Im Gegenteil: Je schneller man fährt, desto anstrengender wird die Fahrt. Der Wind pfeift unter dem Helm. Die Arme werden immer länger und der Kopf will auch gehalten werden.

    Ich konzentrierte mich auf den Gegenverkehr, um zu sehen, wann sich eine Lücke zum Abbiegen auftäte. An diesem wunderbaren Samstag schien es jedoch, als ob halb Deutschland durch den Ort fahren wollte. Ein Auto nach dem anderen kam und hinderte mich daran, endlich nach links abzubiegen. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass diese Abzweigung nicht ganz ungefährlich sei, weil sie sich direkt am Scheitelpunkt der Rechtskurve der Dorfstraße befand. Drüben links auf der anderen Seite der Kreuzung nahm ich kurz den Wegweiser wahr, auf dem stand: Hamburg 54 Kilometer. Das bedeutete für mich noch eine knappe Stunde Fahrzeit, denn ich hatte ja beschlossen, ganz entspannt und defensiv zu fahren. Ich wollte die Ortsdurchfahrten genießen, die Fachwerkhäuser rechts und links der Straße, die von riesigen, uralten Bäumen überspannt wurden. Die Kontraste zwischen Autobahn, Landstraße und Dorfstraßen, die durch beschauliche Ortschaften führten, waren es, die den Reiz dieser Fahrt ausmachten. Meine Gedanken waren schon fast zu Hause, bei der Gästeliste, meiner Geburtstagsfeier. Ich freute mich darauf, meine Freunde wiederzusehen, die größtenteils auch Motorrad fuhren und manchmal weite Touren machten. Da standen wieder eine ganze Reihe Benzingespräche und andere Themen an. Unsere Motorradgruppe bestand aus fünf Ehepaaren, Ärzte, Zahnärzte und leitende Angestellte. Wir trafen uns des Öfteren im Jahr zu gemeinsamen Ausfahrten oder an Treffpunkten für Biker, wo man ungestört über sein Hobby sprechen und Nachrichten und Erfahrungen austauschen konnte.

    Ein riesiger Sog erfasste mich und zog mich nach vorne; ich dachte, was ist jetzt schon wieder los?

    Der Lichterkranz, den ich wahrnahm, war so grell, dass ich die Augen schließen musste. Die Lichtstrahlen schossen hervor wie aus unzähligen Schweißbrennern mit weißen und blauen Flammen. Da bemerkte ich, dass die Helligkeit zum Zentrum hin abnahm, bis sich ein dunkler Raum wie ein Tunnel auftat. Dann sah ich mich. In Motorradfahrerhaltung schwebte ich auf den Tunnel zu. Ich blickte nach unten. Dort lag ein kleines friedliches Dörfchen, das von einer Landstraße durchzogen war. Auf der Landstraße standen Autos, statt zu fahren. Nichts bewegte sich, nur einige Menschen liefen hin und her. Offenbar hatte es dort einen Unfall gegeben, denn in beiden Fahrtrichtungen sah man Blaulichter von Krankenwagen und Polizeifahrzeugen blitzen. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, denn zwei Autolängen vor einem klobigen Geldtransporter lag in einer großen dunklen Pfütze ein Motorrad. Öl und Benzin waren ausgelaufen, und einige Meter davon entfernt lag ein Mensch.

    Ich! Und mein Motorrad!

    Dann blickten alle nach oben. Meine Verwunderung, ob sie mich hier oben sehen könnten, ging im Motorenlärm des Rettungshubschraubers unter, der sich einen Landeplatz auf der Kreuzung suchte.

    Auf einmal war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich in Motorradfahrerhaltung in das dunkle Zentrum schwebte. Meine Haltung hatte embryonale Form angenommen. So schwebte ich diesem Dunkel entgegen. Dieses nahm mich auf und umgab mich von allen Seiten. Nicht furchterregend, sondern auf eine unbekannte aber angenehme Art und Weise. Ich fühlte mich geborgen. Je weiter ich eindrang, desto mehr erkannte ich, dass ich mich in einem Tunnel befand; endlos, mit einem perlmuttartigen Schimmer am anderen Ende. Als ich dort ankam, spürte ich: Hier war alles friedlich, schmerzfrei, wohltuend, warm und schwebend leicht. Der Raum, in den ich gelangte, schien unendlich groß zu sein und dennoch hatte ich das Gefühl, hier nicht alleine zu sein. Ich versuchte herauszufinden, woher dieses Licht zu mir drang; ich konnte keine Stelle erkennen, von der dieser Schimmer hätte ausgehen können.

    Irgendwie durchströmte mich ein seltsames Gefühl von Glück, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte. So sehr mich dieses Gefühl beruhigte, so neugierig wurde ich auch, herauszufinden, was es mit dem Licht auf sich haben könnte. Dieses unbekannte Glücksgefühl machte mich ruhig und zufrieden; als müsste ich nie mehr Angst vor irgendetwas haben. Ich fühlte mich schwerelos und frei, aller irdischen Verbundenheit enthoben. Dann nahm dieses schwerelose Schweben Geschwindigkeit auf. Es wurde immer schneller, ohne bedrohlich auf mich zu wirken. Genauso wenig konnte ich eine Richtung ausmachen, in die ich mich bewegte. Ich hatte nur das Gefühl, dass meine Bewegung im Raum immer schneller wurde. Keine rasende Fahrt wie in der Achterbahn, sondern eine gleichförmige, stetige Bewegung. Zielgerichtet, jedoch ohne das Ziel zu erkennen – oder gar zu wissen, wo es sei.

    Als ich sehr viel später mit meinem Psychotherapeuten über dieses Erlebnis sprach, erklärte er mir, dass ähnliche Erlebnisberichte von Menschen vorliegen, die todesnahe Erlebnisse hatten.

    Vater im Himmel

    Raum und Zeit waren ineinander übergegangen. Ohne Konturen und ohne Überlappungen schienen sie deckungsgleich zu sein. Ich konnte mich schwerelos im Raum bewegen und hatte keine Empfindung für oben und unten. Meine Augen suchten nach etwas, das sie fixieren konnten, und fanden nichts. Ich war von Unendlichkeit umgeben.

    Plötzlich erregte ein schwarzer Punkt meine Aufmerksamkeit. War er doch die einzige Unregelmäßigkeit in der Weite des Raumes. Meine Augen saugten sich an ihm fest, um eine Identifikation bemüht. Es war ein aussichtsloses Unterfangen, weil der Punkt viel zu klein und viel zu weit entfernt war. Er wollte keine Kontur preisgeben. Meine Augen begannen zu tränen; und als ob sie das Licht mit größter Anstrengung brechen könnten, schienen sie mir mitteilen zu wollen, dass der Punkt seine Form verändert hatte. Und tatsächlich, die runde Kontur löste sich auf, wurde beim Näherkommen größer und gleichzeitig länger, bis mir klar wurde, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelte. Je näher die Gestalt kam, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass mir diese Gestalt nicht fremd sei. Noch wusste ich nicht warum. Die Entfernung war zu groß. Aber ich konnte deutlich sehen, dass es sich um eine männliche Gestalt handelte, die Schritt für Schritt auf mich zuging. So sehr ich mir auch Mühe gab, die Umgebung wahrzunehmen: Ich konnte nichts erkennen, nicht einmal den Untergrund, auf dem die Gestalt sich fortbewegte. Es war alles konturloser, heller Raum. Und dennoch schritt sie langsam und kontinuierlich, scheinbar schwerelos, mir entgegen.

    Die Gestalt hatte ein älteres, aber volles Gesicht, dunkle, gewellte Haare, die links gescheitelt und trotz Alters kaum gelichtet waren. Beim Näherkommen wurde meine Wahrnehmung deutlicher, und ich konnte sehen, dass es sich bei diesem Mann um einen leicht untersetzten, mittelgroßen Menschen handelte. Er trug Freizeitkleidung. Über dem Baumwollhemd mit großen roten Karos erkannte ich eine anthrazitfarbene Wolljacke, die einen Rollkragen hatte, wenn man sie mit dem Reißverschluss verschloss. Er trug weiche, bequeme Cordhosen und seine Füße steckten in hinten offenen Hausschuhen aus Leder.

    Obwohl die Gestalt immer näherkam, hatte das Gesicht noch keine Kontur angenommen und ließ mich im Zweifel über seine Identität. Ich schloss die Augen, um abzuwarten. Als ich sie wieder öffnete, hatte ich Klarheit: Ich blickte in das freundliche Gesicht meines Vaters. Er war stehen geblieben und lächelte mich an. So standen wir uns gegenüber und keiner sprach ein Wort. Die Zeit schien unendlich. Wir standen uns gegenüber, sahen uns an und sprachen kein Wort. Mit seiner Anwesenheit hatte ich am allerwenigsten gerechnet. Er war doch schon vor Jahren gestorben.

    Ich erinnerte mich genau an die Situation; damals, als meine Mutter mich anrief, um mir mitzuteilen, dass der Vater mit seinem zweiten Schlaganfall in die Klinik eingeliefert worden sei. Es ginge ihm aber soweit zufriedenstellend. Er sei bei Bewusstsein, könne aber nicht mehr sprechen. Infusionen und Dauerkatheter hatte er dennoch abgewehrt.

    Als ich mit der Morgensprechstunde in meiner Praxis fertig war, rief ich in der Klinik an, um mich nach dem Befinden meines Vaters zu erkundigen. Meine Mutter war bei ihm, und da gerade Visite war, ließ ich mir die Oberärztin ans Telefon geben. Als Kollegen tauschten wir medizinische Daten und Erkenntnisse aus. Bis ich im Hintergrund die Atmung meines Vaters hörte. Die Ärztin bestätigte mir, dass sich die Atmungsintervalle verlängerten und mein Vater mittlerweile das Bewusstsein verloren habe. Mehr brauchte ich nicht zu wissen und zu hören. Für den Rest des Tages sagte

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