Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Corona - Deutschlands digitales Desaster: Wie ein Land seine Zukunft verspielt
Corona - Deutschlands digitales Desaster: Wie ein Land seine Zukunft verspielt
Corona - Deutschlands digitales Desaster: Wie ein Land seine Zukunft verspielt
eBook383 Seiten4 Stunden

Corona - Deutschlands digitales Desaster: Wie ein Land seine Zukunft verspielt

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Zettel, Stift und Faxgerät - Deutschlands schärfste Waffen gegen die größte Gesundheitskatastrophe der Nachkriegsgeschichte. Schulen ohne Netz, Lehrer ohne Rechner, monatelanges Homeschooling auf dem Handy. Und dazu eine Verwaltung, die in Abläufen und Ausstattung im längst vergangenen Jahrhundert stecken geblieben war. Die Pandemie zerstörte in wenigen Wochen Deutschlands Selbstbild eines gut organisierten, modernen Staates. Corona machte das digitale Desaster plötzlich in voller Breite sichtbar. Jahrzehntelange Verantwortungsdiffussion, Innovationsfeindlichkeit und Reformangst hatten sich über Nacht zu einem lebensbedrohlichen Gemisch vermengt. Das lässt viele Menschen in Deutschland an ihrem Staat zweifeln.

"Corona - Deutschlands digitales Desaster" zeichnet hochaktuell die Covid-19-Krise aus der Perspektive der Digitalisierung nach, arbeitet teils jahrzehntelange Gründe für das digitale Scheitern des Staates und gravierende Fehlentscheidungen im Pandemiemanagement auf. Welche Lehren sind zu ziehen und was muss jetzt getan werden? Damit Deutschland endlich digital wird.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Okt. 2021
ISBN9783347407862
Corona - Deutschlands digitales Desaster: Wie ein Land seine Zukunft verspielt

Ähnlich wie Corona - Deutschlands digitales Desaster

Ähnliche E-Books

Technik & Ingenieurwesen für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Corona - Deutschlands digitales Desaster

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Corona - Deutschlands digitales Desaster - Henrik Tesch

    Die Autoren

    Hartwig von Saß, Jahrgang 1966, volontierte nach seinem Studium der Politikwissenschaften und Geschichte bei der Deutschen Presse-Agentur und arbeitete dort insgesamt acht Jahre, zuletzt als Wirtschaftskorrespondent. Dann wechselte er in den PR-Bereich, zunächst drei Jahre im Volkswagen-Konzern, später bei der Deutschen Messe. Bis zu ihrer Einstellung war er verantwortlich für die Kommunikation der weltweit größten IT-Messe CEBIT. Foto: Kai-Uwe Knoth

    Henrik Tesch, Jahrgang 1963, Politikwissenschaftler, Regierungsdirektor a.D. begann seine berufliche Laufbahn Anfang der 1990er Jahre in der öffentlichen Verwaltung. Ab 1999 verantwortete er die Regierungskontakte und politische Kommunikation bei Cisco und später bei Microsoft. Bis 2016 leitete er die Berliner Niederlassung von Microsoft. Heute arbeitet er als selbständiger Politikberater in Berlin. Foto: Alex Schelbert

    Einleitung

    „Bereite dich auf das Schlimmste vor, erwarte das Beste und nimm es, wie es kommt."(Hannah Arendt)

    Deutschland hatte anfangs gehofft, es bliebe verschont. Und als die Pandemie kam, musste das Land sie nehmen, wie sie kam. Zwar existierten Notfallpläne, und auch Übungen hatte es gegeben, aber wirklich gut vorbereitet war das Land nicht, als mit Sars-CoV-2 die größte Gesundheitskrise seit rund 100 Jahren über die Welt hereinbrach.

    Einem Brennglas gleich machte die Pandemie schon in der ersten Welle im Frühjahr 2020 die Probleme eines Landes sichtbar, das sich im Selbstverständnis als Weltmeister des Organisierens und der Lösungsorientierung verstand. So geballt wie im März und April 2020 hatten sich die Probleme noch nie gezeigt. Ausgerechnet im Land der Erfinder und Ingenieure mit dem Qualitätssiegel „Made in Germany" offenbarte sich ein dramatisch schlechter Stand der Digitalisierung. Geradeso, als seien Innovationen in den vergangenen Jahrzehnten an zentralen Bereichen folgenlos vorbeigegangen, an den Verwaltungen, an den Gesundheitsämtern, an den Schulen.

    Ohne Zweifel, es gibt viele Länder, die deutlich schlechter durch die Pandemie gekommen sind als Deutschland. Insgesamt haben sich bis Ende September 4,186 Millionen Menschen in Deutschland mit dem Virus infiziert. 93.750 Menschen sind an oder mit Corona gestorben. Grundsätzlich zeigt sich im zweiten Corona-Sommer, dass die Stimmung viel schlechter ist als die tatsächliche Lage. Es rächen sich hier auch die gravierenden Schwächen der Krisenkommunikation des Staates und die vielen vollmundigen, ohne Not gegebenen Versprechen, die nicht gehalten wurden.

    Auf die Einwohnerzahl bezogen beklagen viele Länder mehr Todesopfer, etwa Schweden, Frankreich, die USA, das Vereinigte Königreich, Italien, Brasilien oder Peru. Deutschland profitierte vom guten Netz der Krankenhäuser, einer Spitzenmedizin und allem voran Beschäftigten, die bereit waren, weit über die Grenze zu gehen. Aber es gibt auch Nationen mit deutlich geringerer Sterblichkeit. Auf 100.000 Einwohner bezogen starben in Deutschland 112,7 Menschen, was unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Japan aber hat auf 100.000 Einwohner 13,8 Todesfälle gezählt, in Taiwan waren es nur 3,5 und Singapur lediglich 1,2. Vermutlich sind für diese niedrigen Todeszahlen eine ganze Reihe Maßnahmen gemeinsam verantwortlich, nicht nur die Digitalisierung – aber die Korrelation zwischen geringen Zahlen einerseits und einem höheren Grad an Digitalisierung der Länder andererseits ist schon auffällig.

    Eineinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie wird immer deutlicher, dass Corona die soziale Schere in Deutschland weiter spreizt. In den Schulen sind die leistungsstärkeren Kinder einigermaßen durchgekommen, bei den Schwachen zeigen sich eklatante Lernlücken. Vor allem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in besser bezahlten Berufen konnten sich ins Homeoffice zurückziehen und mussten sich nicht, wie etwa als Kassiererin an der Supermarktkasse oder als Mitarbeiter in der Fleischproduktion, den Gefahren einer Infektion aussetzen. In Regionen, in denen Menschen überproportional an Armut leiden, ist das Risiko um 50 bis 70 Prozent höher, an Corona zu sterben. Auch der Zugang zu Impfungen, insbesondere in den ersten Monaten, war für sozial Schwache schwieriger. Schnell kommt die Frage auf, wer genau die Schuld trägt für Verwaltungen, in der die Papierakte noch immer Standard ist, für unzureichende digitale Infrastrukturen oder für ein Bildungssystem, das in großen Teilen noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen ist. Wer ist verantwortlich dafür, dass die öffentliche Gesundheitsverwaltung in die Bedeutungslosigkeit rutschte und mit technischen Hilfsmitteln des 19. Jahrhunderts einer weltweiten Pandemie begegnen musste?

    Die Corona-Pandemie lässt sich nicht ausschließlich aus einer digitalen Perspektive betrachten oder gar bewerten. Digitalisierung hat immer eine Rückkopplung mit menschlichen Entscheidungen. Deshalb verstehen wir Digitalisierung nicht nur als technologisches Phänomen, sondern auch als eine Form von digitalem Mindset. Dazu gehört auch ein Führungsverständnis, das die Macht der Daten und die Stärken von Offenheit, Transparenz und Kollaboration fördert. So wird etwa völlig fehlendes digitales Mindsets deutlich, wenn der gemeinsame Krisenstab von Bundesgesundheits- und Bundesinnenministerium die Möglichkeit verstreichen ließ, das Momentum der Krise für den Einsatz neuer digitaler Tools zu nutzen. Auch die Chance, für wichtige Entscheidungen eine möglichst breite Datenbasis zu nutzen, wurde nicht erkannt.

    Und auch wenn in diesem obersten Krisenstab die enge operative Einbindung der Länder unterblieb, hat das mit Digitalisierung im engeren Sinne wenig zu tun. Diese Entscheidung gegen Transparenz und Kollaboration aber hatte die fatale Folge, dass sich ein anderes Gremium mit dem operativen Kleinklein des Pandemiemanagements beschäftigen musste. Und sich darin verlor. Die Konferenz der Ministerpräsidentinnen und der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin. Hier verstrickte man sich immer tiefer in eine detailversessene Diskussion um Infektionskurven, Inzidenzwerte, Maskenpflicht oder die Gefahr beim Friseur oder der Fußpflege.

    Das sieht auch der langjährige Bundesinnenminister Thomas de Maizière so, der im Tagesspiegel-Interview monierte, dass „heute selbst die Quadratmeterzahlen für die Ladenöffnung von der Ministerpräsidenten-Runde beschlossen (würden). So was sollte aber nicht Teil von politischen Leitungsentscheidungen sein, die Mikrosteuerung gehört in einen Krisenstab."¹ Die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) verwaltete. Micro-Management im Kampf gegen die Pandemie. Operative Geschäftigkeit versus strategischer Weitblick. So blieb keine Zeit für Strategien, die über 14 Tage hinausgingen. Weder Bund noch Länder zeigten Leadership. Verordnung folgte auf Verordnung. Wohl noch stärker als im Krisenstab wurden in den Konferenzen der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin die strategischen Chancen für das Land nicht genutzt.

    Dabei hätte das Land – insbesondere in der ersten Welle und womöglich auch in der zweiten – vermutlich strategischen Weitblick und selbst klare Ansagen durchaus goutiert. Das zeigen die zeitweise rasant gestiegenen Beliebtheitswerte von Markus Söder, der sich immer besser in der Rolle des starken Ansagers gefiel, so sehr, dass er sich anschickte, Kanzlerkandidat der CDU/CSU für die Bundestagswahl werden zu wollen. Wie wenig ausgeprägt das digitale Mindset ist, offenbart sich auch beim Blick ins gemeinsame Wahlprogramm von CDU/ CSU. Wohlklingende Versprechen und Ideen werden dort gegeben, tatsächlich verstecken sich hinter den Zeilen an verschiedenen Stellen eine weitere Regulierung des Fortschritts und der Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen zur Überwachung von Vermittlungsdiensten. Die Partei will nach der Bundestagswahl ein Modernisierungsjahrzehnt für den Staat. „Wir stellen die Abläufe auf allen Ebenen auf den Prüfstand, damit unser Staat auf der Höhe der Zeit ist."

    Auf der Höhe der Zeit der Digitalisierung war Deutschland weder in Verwaltung, in Gesundheitsämtern noch in den Schulen. Es ist eine Mischung aus organisierter Verantwortungsdiffusion des Föderalismus, arroganter Schläfrigkeit einer Nation sowie einer ausgeprägten Innovationsfeindlichkeit, die dazu führt, dass es keine digitalen Bildungskonzepte gibt, die Kontaktnachverfolgung mit Abreißblock funktioniert und die Berliner Verwaltung lächerliche 2.500 VPN Zugänge für die 100.000 Beschäftigten hat.

    Es mangelt bei Führungskräften in Verwaltung und in der Politik erheblich an digitalem Sachverstand. Und dabei geht es nicht um komplizierte technische Zusammenhänge oder ums Programmieren. Klar ist aber auch: Wer einen Tweet veröffentlicht oder Instagram-Bildchen postet, ist noch lange kein Digitalexperte.

    Es stellt sich die Frage, woran wir den Fortschritt bei der Digitalisierung messen. Was bedeutet Erfolg? Geben wir uns damit zufrieden, dass man inzwischen Behördentermine zur Beantragung von Dokumenten online vereinbaren kann? Dann ist Berlin ganz vorn mit dabei, denn voller Stolz berichtete der Senat Anfang Juli 2021, 50.000 neue Termine in den Bürgerämtern freizugeben.²

    Oder misst man Erfolg daran, ob es gelingt, die Verwaltungsprozesse Ende-zu-Ende zu digitalisieren und zu automatisieren, behördenübergreifende Vorgänge online abzuwickeln und so beispielsweise die mehr als 250.000 Vorgänge, die sich in der Hauptstadt während der Pandemie angestaut haben, abzubauen? Nach 18 Monaten Corona in Deutschland stellt sich die Frage, wer die schnelle Digitalisierung des Staates und seiner Funktionen treiben kann? Der Bürger wird kaum für eine schnellere Kfz-Anmeldung oder einen digitalen Bürgerservice auf die Straße gehen, zumal er weniger als zweimal pro Jahr mit dem Staat in Berührung kommt. Dennoch hat er ein Recht darauf, dass seine Steuern möglichst effizient und wirkungsvoll eingesetzt werden und nicht in endlos analogen Verwaltungsakten zwischen Aktendeckeln versanden. Das gigantische Loch in den öffentlichen Kassen, das Corona und die Flutkatastrophe hinterlassen haben, könnte ein Treiber sein. Denn mit umfassender Digitalisierung lassen sich die Kosten von Verwaltung reduzieren.

    Nur in einem digital modernen Land lässt sich der Wohlstand erhalten, der sich in Deutschland bislang vor allem auf Technologien von gestern stützt. Das mag auch der Grund sein, warum es mit der digitalen Souveränität Deutschlands und Europas nicht weit her ist. Denn Politik hat sich Jahrzehnte auf die Stärkung dieser Technologien fokussiert – Stichwort Abwrackprämie – und eine zukunftsgewandte Digitalpolitik allzu oft als restriktive Datenschutzpolitik fehlinterpretiert. Wer jahrelang politischen Fokus auf die Verhandlungen für eine Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) legt, muss sich nicht wundern, dass Europa kein eigenes Google oder Apple an den Start bringt.

    Im Nachhinein ist es immer einfach, Entscheidungen zu bewerten, und das einmal mehr, wenn man selbst keine Verantwortung trägt. Über die Corona-Politik ist schon viel geschrieben worden. Dieses Thema wird auch Gegenstand langfristiger Aufarbeitung sein, zumal die Pandemie in allen Bereichen der Gesellschaft Prozesse in Gang gesetzt hat, die in ihrer Komplexität auch nach eineinhalb Jahren noch nicht ansatzweise verstanden sind. Wir wollen uns in diesem Buch darauf konzentrieren, die Schwachstellen der Digitalisierung in den Bereichen Schule, Verwaltung und Gesundheitsämter herauszuarbeiten. Wir wollen Ursachen dafür analysieren und mögliche Lösungsbeispiele aufzeigen.

    „Die Deutschen sehnen sich nach einem Staat, der seine in der Pandemie gezeigte Dysfunktionalität überwindet", meint Gabor Steingart.³ Gleichzeitig glauben aber nur 18,5 % der Bevölkerung, dass die Corona-Pandemie einen Digitalisierungsschub auslösen wird. 44 % befürchten, dass so weiter gearbeitet wird wie bisher, auch weil das Geld für die notwendigen Investitionen fehlt (40 % der Befragten).

    Für die Autoren indes steht fest, dass wir einen massiven digitalen Ruck brauchen. Eine ambitionierte Digitalisierung ist jetzt genauso wichtig wie eine gute Klimapolitik. Denn eine schnelle Digitalisierung des Staates und all seiner Prozesse sowie ein neues digitales Mindset schaffen neue Spielräume für politisches Handeln. Für unsere Zukunft.

    Hannover/Berlin im September 2021.

    TEIL EINS

    Dezember 2019 - Am Anfang steht die Nachricht

    Die Corona-Pandemie erreicht Deutschland am 31. Dezember 2019, vormittags um 10.31 Uhr. Während sich Berlin gerade auf die traditionelle Silvesterparty am Brandenburger Tor vorbereitet, wird im zentralen Großraumbüro der Deutschen Presse-Agentur dpa in der Markgrafenstraße eine 32-Zeilen-Meldung aus China verarbeitet. Der Leiter des Büros in Peking, Andreas Landwehr, beschreibt unter der Überschrift „Mysteriöse Lungenkrankheit in Zentralchina ausgebrochen", die Gesundheitsbehörde in Wuhan habe 27 Erkrankte identifiziert. Viele der Infektionen würden auf den Huanan-Fischmarkt zurückgeführt. Die Krankheit wird als virale Lungenentzündung behandelt. Sieben der Infizierten seien in ernstem Zustand.

    Corona kommt nach Deutschland: Die dpa berichtet am 31. Dezember 2019 aus China

    Bei den internationalen Nachrichtenagenturen gibt es für Meldungen grundsätzlich sechs Prioritäten, so auch bei der dpa: Je höher die Zahl, desto unwichtiger die Meldung. Die Stufen 5 und 6 werden seit gut 30 Jahren so gut wie nicht mehr verwendet. Die Meldung von Landwehr aus China bekommt routinemäßig die Priorität 4. Auch wenn die Meldung damit zu den Kellerkindern der Nachrichtenwelt gehört, wird sie auf vielen Online-Portalen automatisiert ausgespielt; vom Weser Kurierbis zur Süddeutschen Zeitung, selbst Neue Zürcher Zeitung und österreichische Medien übernehmen die Nachricht aufihren Online-Seiten.

    Davon völlig unbeeindruckt wollen Deutschland und ganz Europa unbeschwert den Jahreswechsel feiern, das neue Jahrzehnt, die sogenannten „Neuen Goldenen Zwanziger" einläuten. Auch Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zeigt sich in ihrer am Abend ausgestrahlten Neujahrsanspracheoptimistisch: „Ein neues Jahrzehnt liegt vor uns. Die 20er Jahre können gute Jahre werden. Überraschen wir uns einmal mehr damit, was wir können. Veränderungen zum Guten sind möglich, wenn wir uns offen und entschlossen auf Neues einlassen."

    Während Merkel ihre Rede beendet, wird in der Nähe des Kanzleramts schon getanzt. Am Brandenburger Tor kommen zu einer der größten Partys Europas mehrere hunderttausende Menschen zusammen. Was zu der Zeit keiner der Feiernden in Berlin weiß: Es wird für sehr lange Zeit die letzte große Sause im Herzen Deutschlands sein.

    In den ersten Tagen des neuen Jahrzehnts interessiert sich niemand in Deutschland für das neuartige Corona-Virus, das sich derweil unter den elf Millionen Einwohnern in Wuhan ausbreitet. Niemand schert sich um die Lungenkrankheit, niemand in Deutschland sucht etwa auf Google in den ersten Wochen nach „Corona oder „COVID.

    Die Fernsehzuschauer in Deutschland treffen am 20. Januar 2020 das erste Mal auf das Coronavirus.Barbara Hahlweg, Moderatorin der ZDF-Nachrichtensendung heute, spricht über „eine neue Atemwegserkrankung, die über Viren verursacht wird und nicht ungefährlich ist. (…) Hier in Deutschland sehen Experten keinen Grund zur Panik."

    Im folgenden Bericht zucken Blaulichter von Rettungswagen durch das nächtliche Wuhan. Menschen, mit weißer Schutzkleidung und Schutzbrillen huschen durchs Bild. Die Lage sei ziemlich ernst, erklärt Reporter Ulf Röller. Das sei daran zu erkennen, dass ein Fahrzeug der Straßenreinigung die Einfahrt zum Wuhan Medical Treatment Center mit Hochdruckstrahl desinfiziere. Die Zahl der Erkrankten sei dramatisch schnell gestiegen. Fernseh-Deutschland lernt Prof.

    Zhong Nanshan von Chinas Nationaler Gesundheitskommission kennen: Es handele sich um eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung, erklärt er. In dem Beitrag kommt auch Prof. Lothar Wieler, Leiter des Robert Koch-Institutes (RKI), zu Wort. Er beschwichtigt eher die Bilder aus dem fernen Wuhan, denn bislang seien nur wenige Fälle außerhalb Chinas bekannt geworden.

    Auch die Zuschauer der 20: 00-Uhr-Tagesschauam selben Abend werden über das neuartige Virus informiert. In mehr als 200 Fällen sei das Virus inzwischen bestätigt, drei Menschen gestorben. Die meisten Infizierten seien aber „nicht schwer krank". Die Behörden vermuten als Quelle den Huanan-Markt, auf dem auch wild gefangene Tiere verkauft wurden. Der Markt sei inzwischen geschlossen, heißt es.

    Während sowohl heute als auch Tagesschau erst in der zweiten Hälfte der Sendung das Thema aufgreifen, wird Corona bei Caren Miosga in den Tagesthemen vom 20. Januar zum Topthema auf Platz eins. Das Virus wecke Erinnerungen an SARS, sagt Miosga. Und: „Die Sorge wächst, dass sich auch dieses Virus seinen Weg rund um den Globus bahnt." Welch bittere Wahrheit Miosga an diesem Abend noch recht gelassen ausspricht, wusste damals niemand. Von diesem Tag an hat das neuartige Coronavirus seinen festen Platz in den Nachrichtensendungen.

    Coronavirus, COVID-19, Sars-CoV-2?

    Coronavirus, Coronaviren gehören zu einer Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom „neuartigen Coronavirus".

    Sars-CoV-2 Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen „Sars-CoV-2 („Severe Acute Respiratory Syndrome-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.

    COVID-19

    Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde „CO-VID-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. COVID-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.

    Deutsche Experten kommen in den nächsten Tagen in nahezu allen Medien zu Worte. Sie sollen die Gefahr für Deutschland einschätzen. Während Corona erneut die Spitzenmeldung der Tagesthemen am 22. Januar 2020¹⁰ ist, vergehen in der Hauptnachrichtensendung des chinesischen Staatsfernsehens ganze 20 Minuten, bis über die neue Viruskrankheit berichtet wird. Die Weltgesundheitsorganisation prüft, ob sie eine internationale Notlage ausruft. In den USA wird der erste Fall registriert, auch Russland meldet Verdachtsfälle.

    Prof. Christian Drosten von der Berliner Charité wird live in die Tagesthemen geschaltet, nachdem er schon wenige Stunden zuvor im ZDF-Beitrag¹¹ zu Wort gekommen war. Drosten gilt als einer der weltweit profiliertesten Wissenschaftler in Sachen Corona. Er genießt in der Welt der Virologen den Ruf einer echten Autorität. Schon 2003 hatte er den SARS-CoV-1-Virus entdeckt und wenige Tage später den weltweit ersten diagnostischen Test entwickelt. Science zählt ihn zu den weltweit führenden Experten mit Blick auf Coronaviren. Und seine Bekanntheit wird in den nächsten Monaten auch außerhalb der Fachwelt enorm steigen. Drosten rät in den Tagesthemen, insbesondere in den asiatischen Großstädten auf die sogenannte „Kontaktverfolgung zu setzen. Man müsse die „gesamte Kontaktumgebung untersuchen. Mit Blick auf die Infektionswege habe man „eine Situation wie bei fast allen Erkältungserkrankungen". Auch er hinterlässt bei den Zuschauern einen beruhigenden Eindruck.

    Während Drosten den Fernsehzuschauern Corona erklärt, bereitet sich im bayerischen Landkreis Starnberg eine chinesische Mitarbeiterin des Automobilzulieferers Webasto gerade auf ihre Heimreise vor. Seit dem 19. Januar hatte die Frau aus Shanghai am Hauptsitz ihres Arbeitgebers im Gautinger Ortsteil Stockdorf eine Mitarbeiterschulung geleitet. Am nächsten Tag, dem 23. Januar 2020, wird die Frau zurück nach China fliegen. Auf dem Rückflug bemerkt die Frau erste Krankheitssymptome. Sie wird nach ihrer Ankunft in China positiv getestet. Angesteckt hatte sie sich, als ihre Eltern aus Wuhan sie vor ihrer Reise nach Deutschland besucht hatten.

    27.1.20 Infizierte: 1 Tot: 0

    An der Schulung in Bayern hatte auch ein 33-jähriger Kollege aus dem Landkreis Landsberg am Lech teilgenommen. Er hatte sich Tage später angeschlagen gefühlt, sich für zwei Tage krankgemeldet, war dann aber wieder zur Arbeit gekommen. Er fühlte sich besser. Dieser Webasto-Mitarbeiter wird am 27. Januar 2020 im Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in München positiv getestet. Er wird Deutschlands Corona-Patient Nummer 1. Kurz vor Mitternacht an diesem Montagabend informiert das Gesundheitsamt die Öffentlichkeit. Der Mann kommt im Krankenhaus München Schwabing auf die Isolierstation.

    Es hatte schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie in unterschiedlichen Ländern immer wieder Erfahrungen in der Bekämpfung von derartigen, hochansteckenden und sich rasant verbreitenden Krankheiten gegeben. Gerade asiatische Länder hatten über verschiedene Pandemien hinlängliches Know-how aufgebaut. Dabei hatten sich im Wesentlichen zwei zusammenhängende Maßnahmen als am effektivsten erwiesen. Zum einen müssen Infizierte möglichst schnell isoliert werden, entweder durch Quarantäneauflagen oder in speziell ausgestatteten Isolierstationen in Krankenhäusern. Die zweite Maßnahme: die Kontaktverfolgung, sprich: Ermittlung, wo und wann sich die Person infizierte und mit welchen anderen Menschen die Person vor der Isolation Kontakt hatte. Es ist oftmals für die Behörden eine Art Detektivarbeit. Gemeinsam mit den Erkrankten – sofern möglich – werden für die Tage der Inkubationszeit rückwärts die Kontakte ermittelt. Es ist eine Arbeit, die sehr an polizeiliche Ermittlungen erinnert, aber sie hatte sich in der Vergangenheit als mächtigstes Instrument im Kampf gegen tödliche Viruserkrankungen gezeigt. Die „Kontaktpersonen-Nachverfolgung", wie es in der Fachsprache des Robert Koch-Institutes heißt, soll die Infektionsketten unterbrechen und Ausbrüche eindämmen¹².

    Konkret für COVID-19-Fälle bedeutet das laut RKI:

    • Zeitnahe Identifizierung von Kontaktpersonen, bei denen die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie von einem bestätigten COVID-19-Fall („Quellfall") angesteckt wurden

    • Nach Möglichkeit umgehende Quarantänisierung enger Kontaktpersonen, um weitere Infektionen zu verhindern

    • Schnelle Erkennung und Isolierung weiterer COVID-19-Fälle

    • Prioritäre Verhinderung der Ausbreitung in Risikogruppen und bei medizinischem Personal (Reduktion schwerer bzw. tödlich verlaufender Erkrankungen)¹³

    In Bayern fühlt man sich derweil bestens auf die neue Situation eingestellt. Auf einer Pressekonferenz am Tag nach der ersten COVID-19-Diagnose in Deutschland betont Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml: „Bayern ist (…) gut vorbereitet. So haben wir bereits seit Jahren eine Spezialeinheit für solche Fälle – die ‚Task Force Infektiologie‘ am Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL). Diese Spezialeinheit ist jederzeit einsatzbereit. Und der TaskForce-Leiter, Dr. Martin Hoch, ergänzt: „Nach Einschätzung der ,Task Force Infektiologie‘ ist das Infektionsrisiko für die Bevölkerung durch dieses Virus nach derzeitigem Kenntnisstand gering. Gleichwohl wird zu den üblichen Vorsichtsmaßnahmen geraten – etwa zu einem gründlichen Händewaschen nach einer Fahrt mit dem Bus oder der U-Bahn.¹⁴ Und Bayern tut das, was Behörden in einer Krisensituation immer machen: Man schaltet eine Hotline. Natürlich, der Freistaat ist bestens gerüstet.

    Währenddessen taucht Corona langsam, aber sicher rund um den Globus auf, in mehreren Ländern Asiens. Aber auch in den USA gibt es die ersten fünf infizierten Patienten und mehr als 100 Verdachtsfälle. In China schnellen die Zahl der Infizierten und Toten rasant nach oben. Schon Ende Januar wird in vielen Ländern vor Reisen nach China gewarnt. In Frankreich starten Flugzeuge in Richtung China, um Franzosen aus Wuhan zurückzuholen in die Heimat. Es wird nicht die einzige Rückholaktion bleiben.

    Am 29. Januar meldet Bild-Online um 15.41 Uhr: Lufthansa streicht alle Flüge nach China.¹⁵ Vorerst bis zum 9. Februar. Zuvor hatte British Airways sich für den Flugstopp entschieden. Zu diesem Zeitpunkt gibt es in Deutschland vier bestätigte Fälle, die sich alle auf den Webasto-Fall zurückverfolgen lassen. In Nürnberg startet die Internationale Spielwarenmesse mit 2.843 Ausstellern aus 70 Ländern. 62.357 Menschen aus 136 Nationen besuchen die Veranstaltung, die bis zum 2. Februar dauern wird. 360 Aussteller aus China sind auch vor Ort. Chinas Staatsfernsehen meldet mehr als 6.000 Infizierte und 132 Tote. Volkswagen schickt seine Mitarbeiter in Peking ins Homeoffice. Toyota stellt die komplette Produktion in China ein, zunächst bis zum 9. Februar. Da sich in der betroffenen Region Wuhan auch Zulieferer für Apple-Produkte befinden, zeigen sich erste Folgen in der Apple-Lieferkette.

    Derweil plant die Bundesregierung, mit dem Luftwaffen-Airbus „Kurt Schumacher" knapp 100 Bundesbürger nach Deutschland zu holen, die sich in den Tagen zuvor auf der Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amtes hatten registrieren lassen. Es wird entschieden, dass die Menschen nach ihrer Rückkehr sofort für 14 Tage in Quarantäne müssen.

    Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erklärt, dass bislang sehr wenig über das neuartige Virus bekannt sei. Ein Impfstoff sei frühestens in drei bis fünf Monaten verfügbar.

    Der Webasto-Fall zieht Kreise. Am 30. Januar müssen rund 90 Menschen aus dem Umfeld der Infizierten zuhause bleiben. Das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittel ordnet Quarantäne an. Das Gesundheitsamt will die Betroffenen anrufen und nachfragen, ob sie sich auch zuhause aufhalten und ob sie Fieber haben.

    Russland schließt seine Grenze zu China, Ikea hat 30 Filialen mit gut 14.000 Beschäftigten in China geschlossen, auch H&M schließt 74 Läden. Derweil legt Amazon Zahlen für das vierte Quartal vor. Der Umsatz steigt um 21 Prozent auf 87 Milliarden Dollar. Die Aktienkurse reagieren mit einem Sprung nach oben: Amazon ist jetzt mehr als eine Billion

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1