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Die Welt hinter dem Licht
Die Welt hinter dem Licht
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eBook520 Seiten7 Stunden

Die Welt hinter dem Licht

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Über dieses E-Book

Benjamin führt ein ganz normales Leben. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem er nach einem Streit mit seinen Eltern im Wald verunglückt. Als der Junge nach seinem Sturz vom Fahrrad erwacht, findet er sich nicht nur außerhalb seines Körpers, sondern auch in der Welt der Naturgeister wieder.
Schnell schließt Benjamin Freundschaft mit dem Zwergenjungen Tirai und der kleinen, grünen Elfe Elvora. Zusammen mit seinen neuen Freunden begibt sich auf die Suche nach den "Regenbogensteinen". Denn nur die Heilkraft dieser Steine kann ihn wieder in seinen Körper und in die Menschenwelt zurückbringen!
Auf seiner Reise durch die "Welt hinter dem Licht" erlebt der Junge spannende Abenteuer und trifft viele sonderbare Wesen. Wird es Benjamin gelingen, seinen Weg nach Hause zu finden und dabei auch noch dem Volk der grauen Bergzwerge zu helfen?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Sept. 2014
ISBN9783849583408
Die Welt hinter dem Licht
Autor

Thorsten Hegemann

Thorsten Hegemann wurde 1962 in Kiel geboren. Im Anschluss an sein Studium arbeitete er zunächst im Marketing, später im Vertrieb. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Heute lebt er in Rendsburg. Nach dem Tod seines Sohnes (2003) beschäftigte der Autor sich intensiv mit Meditationstechniken, Medialer Arbeit, Reiki, Schamanismus und Reinkarnations-Wissenschaften. Gleichzeitig entdeckte er das Schreiben für sich. Mit seinem Erstlingswerk „Die Welt hinter dem Licht“ möchte der Autor Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene ansprechen, die sich ihre Fantasie und Neugier für die Geheimnisse der Welt bewahrt haben. Auf humorvolle Weise wird die Leserin / der Leser dabei in die spannende Welt der Naturwesen entführt.

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    Buchvorschau

    Die Welt hinter dem Licht - Thorsten Hegemann

    Der Unfall

    Es geschah am ersten Morgen des Monats „Vernunft".

    Tirai und seine Schwester Acer liefen den Weg hinunter zum Fluss des Vergessens. Das Licht flutete durch die Blätter des Waldes und beleuchtete die strahlenden Gesichter der Kinder. Sich gegenseitig neckend, rannten die zwei barfuß über das glänzende Moos und sprangen lachend über den weichen Waldboden, der ihre Sprünge verschluckte wie eine Nebelwand.

    Der Junge war als Erster unten am Fluss und schlenderte mit seinen Füßen durchs seichte Wasser. Dabei bewunderte er die wunderschönen Lichtspiele, die diesen Fluss so einzigartig machten. Mit dem Strom des Wassers floss weißes Licht, das an verschiedenen Stellen langsam aus dem Wasser heraussickerte und Lichtwölkchen bildete, die in kleinen oder größeren Ansammlungen auf dem Wasser trieben.

    In Gedanken versunken betrachtete Tirai eine Weile lang die Wölkchen aus Licht, die sich auf dem Wasser kräuselten und in allen Regenbogenfarben schimmerten. Dann schüttelte der Junge den Kopf und wandte seinen Blick von dem faszinierenden Farbenspiel ab. Er stakste mit seinen dürren Beinen, die aus einer Blätterhose hervorlugten, durch das Wasser auf die größte Lichtwolke zu. Geschickt begann er, aus ihr kleine Lichtgestalten zu formen. Innerhalb kürzester Zeit hatte Tirai eine Glühqualle mit langen Lichttentakeln erschaffen, setzte sie aufs Wasser und blies sie hinüber zu seiner Schwester Acer, die ehrfürchtig am Ufer stehen geblieben war.

    Acer beobachtete, wie die Glühqualle übers Wasser auf sie zu glitt. Dabei fingen die sich leicht drehenden Tentakel immer wieder die Lichtstrahlen der Sonne ein und leuchteten perlmuttfarben auf. Staunend sah das kleine Mädchen, wie die Glühqualle zuerst violett erstrahlte, um im nächsten Moment grün und danach blau zu schimmern. Genau in dem Augenblick, als die Glühqualle das am Ufer wartende Kind erreicht hatte, verpuffte die Lichtfigur und rieselte in kleinen, glänzenden Sternchen zurück aufs Wasser. Die Sternchen tanzten noch einen Moment auf der Wasseroberfläche, dann lösten sie sich auf.

    Das Mädchen bewunderte auch an diesem Tag die Geschicklichkeit ihres Bruders. Immer wieder schuf er aus den Lichtwolken neue Gestalten. Acer konnte ihm dabei stundenlang zusehen. Jetzt hatte er einen kleinen Kobold geformt, den er wie einen flachen Fluppschi-Stein übers Wasser sausen ließ. Die Koboldfigur schoss zunächst in großen Sprüngen übers Wasser, verlor dann aber an Geschwindigkeit und kippte schließlich leicht zur Seite. Die lange Nase des Kobolds bremste die Fahrt dann endgültig ab. Langsam versank die Figur in der Strömung des Flusses.

    Ohne, dass die beiden Kinder es bemerkt hatten, war aus der Lichtwolke, die sich einige Meter hinter Tirai angesammelt hatte, wie von Zauberhand ein weißer Pferdekörper entsprungen. Nun stand das Pferd mit seiner leuchtenden Mähne hinter Tirai. Bei diesem Pferd handelte es sich nicht um ein normales Pferd. Nein! Dieses Pferd hatte ein gedrehtes Horn auf der Stirn!

    Acer hatte das Auftauchen des Einhorns mit großen Augen verfolgt und begann, aufgeregt mit ihren Armen zu fuchteln, um die Aufmerksamkeit ihres Bruders auf das Wesen hinter ihm zu lenken. Doch der Junge war damit beschäftigt, Wölkchen zu sammeln, die er zur Formung einer Lichtschildkröte verwenden wollte. Schließlich stürzte Acer ins Wasser, wedelte wild mit den Armen und rief ihrem Bruder zu: „Tirai, sieh nur! Hinter dir!"

    Tirai drehte sich um und erschrak, als er dem Einhorn Auge in Auge gegenüber stand.

    „Willkommen im Fluss des Vergessens, sprach das Einhorn und neigte seinen Kopf vor dem Jungen. „Ich bin Amra, die Hüterin dieses Flusses.

    Tirais Mund klappte weit auf. Er sah aus wie ein Fisch, der vergessen hatte zu atmen. Seine Stimme stockte leicht, als er antwortete: „Wir wollten hier nur ein wenig spielen. Wir haben nichts Schlimmes getan!"

    „Das habe ich gesehen! Ihr seid aus kindlicher Neugier hierhergekommen und deshalb heiße ich euch auch im Fluss des Vergessens willkommen", antwortete das Einhorn mit weicher Stimme.

    Acer hatte sich inzwischen näher herangewagt und streckte zögernd ihre kleine Hand aus, um die leuchtende Mähne am Hals des Einhorns zu streicheln.

    „Nur zu!, forderte Amra die Kleine auf. „Ich beiße nicht.

    Das ließ Acer sich nicht zweimal sagen und begann sofort, das Einhorn zärtlich am Hals zu streicheln. Dabei suchten ihre Hände die Strähnen der Mähne, in denen immer wieder kleine Lichtpunkte aufleuchteten, die an ihren Fingern kribbelten. Das Einhorn senkte seinen Hals tiefer herab, sodass die feinen Haare der Mähne nun auch noch im Gesicht des Mädchens kitzelten.

    Tirai stand unentschlossen daneben.

    Der Junge konnte sich nicht dazu durchringen, das Einhorn auch zu streicheln. Stattdessen bewunderte er das Horn, das auf Amras Stirn saß. Es war in sich gedreht, so, wie bei manchen Muscheln, die er am Strand gesammelt hatte. Doch das Merkwürdige daran war, dass um dieses Horn immer wieder eine Kugel aus blauem Licht herumlief. Diese blaue Lichtkugel wuchs aus der Stirn des Pferdes, oberhalb des Hornes, heraus. Erst war es nur eine kleine Kugel; doch mit der Zeit wurde sie größer und größer. Sobald sie eine bestimmte Größe erreicht hatte, setzte die blaue Lichtkugel sich in Bewegung und sauste um die Windungen herum, bis zur Spitze des Hornes. Dort hielt sie einen Moment inne und verschwand dann spurlos. Im selben Moment bildete sich jedoch auf der Stirn des Einhorns eine neue Kugel aus blauem Licht, die denselben Weg nahm.

    Amra bemerkte den bewundernden Blick des Jungen: „Das ist das blaue Licht der Heilung! Wir Einhörner benutzen unser Horn nicht, um damit andere Lebewesen zu verletzen. Im Gegenteil! Wir setzen unser Horn nur dafür ein, um mit diesem blauen Licht anderen Lebewesen zu helfen."

    Tirai hatte schon viel über die Kraft und den Zauber von Einhörnern gehört, doch ihm war bisher noch nie ein Einhorn begegnet. Er wusste aber aus den Erzählungen der Alten, dass Einhörner sehr scheu waren und sich nur selten den Zwergen zeigten. „Es ist wie ein Wunder, dachte der Junge, „dass gerade ich heute einem Einhorn begegnen darf!

    Doch plötzlich hob Amra den Kopf, blähte ihre Nüstern kurz auf und verschwand mit einem eleganten Sprung in der nächsten Lichtwolke, die auf dem Wasser trieb. Es war, als wäre das Einhorn nie da gewesen! Amra war einfach in die Lichtwolke hineingesprungen und in diese eingetaucht, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen.

    Tirai und Acer blickten verwirrt auf die Stelle, an der sie das Einhorn zuletzt gesehen hatten. Dann schauten die zwei Zwergenkinder sich an.

    „Was ist passiert?, fragte Acer. „Wo ist das Einhorn hin? Haben wir etwas falsch gemacht?

    Tirai hob achselzuckend die Schultern.

    Im nächsten Moment hörten die beiden Kinder herannahende Schritte. Es waren ohne Zweifel die Schritte ihres Vaters Aldeban; ihr Vater war immer schon von weitem zu hören. Seine schweren Stiefel ließen die Äste und Zweige knacken, über die er mit wuchtigen Schritten hinweg stampfte. Aldeban war ganz anders als die meisten Zwerge. Normalerweise huschten Zwerge lautlos durch den Wald und tauchten plötzlich hier oder dort auf, ohne dass man sie jemals gehört hätte. Nicht so Aldeban!

    Er hatte sich mit Absicht einen schweren und lauten Gang angeeignet, damit alle auf seine Füße, eigentlich vielmehr auf seine Stiefel, schauten. Aldeban war unendlich stolz auf seine Stiefel, denn er war der einzige Zwerg, der solche Stiefel besaß. Jedem zeigte er seine Stiefel, die so glänzend aufpoliert waren, dass man sie als Spiegel benutzen konnte. Tirai und Acer wussten, dass ihre Mutter die Stiefel auch genau dazu benutzte, wenn sie morgens ihre Haare aufsteckte. Natürlich heimlich! Das durfte ihr Vater auf keinen Fall wissen!

    Wenig später hatte Aldeban das Flussufer erreicht und sah zu seinen beiden Kindern hinüber, die immer noch reglos im Wasser standen und ihren Blick nicht von der Stelle lassen konnten, an der das Einhorn in der Lichtwolke entschwunden war.

    „Hi, Paps!, begrüßte Acer ihren Vater. „Weißt du was? Wir haben ein richtiges Einhorn gesehen und ich durfte es sogar anfassen!

    „Papperlapapp, antwortete Aldeban. „Einhörner lassen sich von niemandem anfassen. Ich glaube eher, dein Bruder hat aus den Lichtwolken ein Einhorn geformt und dich damit an der Nase herumgeführt.

    „Nein! Das stimmt nicht! Hier war ein richtiges Einhorn!, stieß Acer bockig hervor. „Und es hat gesagt, dass es Amra heißt.

    Aldeban wollte jedoch nichts mehr von dem Einhorn hören und verbot seiner Tochter, weiterhin solchen Unsinn zu reden. Dann drehte er sich zu Tirai um und rollte mit den Augen: „Du sollst deine Schwester nicht immer in solche Traumwelten versetzen. Hier, in unserem Zwergenland, haben wir seit mindestens zweihundert Wintern keine Einhörner mehr gesehen. Ich persönlich glaube, dass all diese Geschichten von Einhörnern sowieso nur erfunden sind. Und nun gebt Ruhe!"

    Schweigend schlichen Tirai und seine Schwester hinter ihrem Vater her, der auf dem Rückweg ins Zwergendorf mit seinen Stiefeln so laut auftrat, als wenn er alle Nachtfünkchen aufwecken wollte. Keiner der drei sagte auch nur ein Wort, bis sie ihr Dorf „Baum beschütze mich" erreicht hatten.

    „Tirai! Ab mit dir in die Schule!", befahl Aldeban barsch, bevor er mit Acer zwischen den Wurzeln der alten Eiche verschwand, unter der sie alle wohnten.

    „Nun geht das wieder los! Steinkunde hoch und runter", seufzte Tirai leise. In der Zwergenschule nahmen sie gerade die verschiedenen Eigenschaften der Steine durch. Er konnte es nicht mehr hören! Tirai hasste die Schule. Er streifte lieber durch verschlungene Pfade im Wald, kletterte auf Bäume oder erforschte Höhlen. Außerdem liebte er es, stundenlang den Waldelfen zuzuschauen, wie sie die Pflanzen pflegten. Stattdessen musste er nun wieder Steinkunde lernen: Was unterscheidet einen blauen Saphir von einem blauen Opal? In welchen Böden findet man Kraftsteine? Mit welchen Hacken arbeitet man sich als Zwerg durch welche Gesteinsschichten? Blablablabla… Dem Zwergenjungen grauste es, wenn er nur daran dachte, was er noch alles zu lernen hatte und vor allem, wie er das alles in seinem Kopf behalten sollte.

    *

    Benjamin Sörensen saß am Fenster und blickte hinaus auf den Rasen vor dem Haus. Er war tief in Gedanken versunken. Obwohl sein Blick starr in den Garten gerichtet war, nahm er nichts um sich herum wahr. Er saß einfach nur da und starrte nach draußen. Schmetterlinge flogen auf und ab und setzten sich auf die verschiedenen Blüten im Beet unterhalb des Fensters. Doch auch das bemerkte er nicht.

    „Ist doch sowieso alles egal …", murmelte der Junge vor sich hin und starrte weiter durch die Scheibe, als wenn er durch das Starren den Zauberbann lösen könnte, der ihn derzeit umgab. Benjamin spürte nur diese große Niedergeschlagenheit. Sein Kopf war benommen und leer! Da waren keine Ideen, keine Gedanken und vor allem keine Freude. Nichts konnte im Augenblick seine Aufmerksamkeit wecken. Schuld daran war der Streit mit seinen Eltern heute Morgen. Es hatte schon vor dem Aufstehen mit der ständigen Quengelei angefangen, die seine Eltern inzwischen fast jeden Morgen an den Tag legten, weil sie immer im Stress waren. Nur ungern erinnerte er sich:

    „Hey, du Faulpelz, steh endlich auf! Beeil dich! Das Bad ist jetzt frei." In diesem Ton hatte seine Mutter Ingeborg ihn geweckt und gleichzeitig die Lampe angeknipst. Das Licht hatte ihn selbst durch die geschlossenen Augen geblendet und er wäre gerne noch liegen geblieben.

    „Hier, dein Brot für die Pause! Zum Frühstücken haben wir jetzt keine Zeit mehr! Beeil dich, dein Vater wartet schon im Auto! Dass du immer so herumtrödeln musst! Und zieh die Jacke an! Es ist noch kalt draußen." So war es weitergegangen, bis Benjamin endlich im Auto gesessen hatte.

    Dann waren alle drei in Richtung Schule gefahren. Kurz bevor sie diese erreicht hatten, bemerkte Benjamin, dass er seine Schultasche im Flur liegengelassen hatte. „Oh je! Jetzt geht’s erst richtig los!", waren noch seine Gedanken gewesen.

    Wie hätte es auch anders sein können, musste seine Mutter natürlich bemerken, dass er ohne diese blöde Tasche ausstieg. Nimm deine Schultasche mit!, hatte sie aus der halb geöffneten Autotür gerufen.

    „Wenn ich eine Tasche dabei hätte!", hatte Benjamin noch gedacht und in das ungläubige Gesicht seiner Mutter gesehen.

    „Nein, das glaube ich nicht!, hatte sie ihn angeschrien. „Weißt du, dass dein Vater und ich jetzt zu spät zur Arbeit kommen werden, weil unser lieber Sohn nicht einmal, nicht ein einziges Mal, seine Gedanken zusammenhalten kann? Steig sofort wieder ins Auto ein!

    Das Gezeter und Geschimpfe, das sich dann auf der Fahrt nach Hause abgespielt hatte, war unerträglich gewesen. Wieder zu Hause angekommen, war Ingeborg Sörensen ins Haus geeilt, hatte die Schultasche geholt und sie zu Benjamin hinten auf den Rücksitz geknallt.

    Auf der nun folgenden zweiten Fahrt zur Schule, hatte Benjamins Vater seinen Ärger nicht mehr unterdrücken können. Wie ein Rohrspatz hatte er auf den Fahrer geflucht, der vor ihm in Zeitlupentempo über die Straße schlich. Mehrmals hatte er zum Überholen angesetzt, musste aber immer wieder hinter dem „Volltrottel", wie sein Vater den anderen Fahrer beschimpfte, einscheren.

    Benjamin hatte deutlich spüren können, dass sein Vater innerlich kochte. Er hatte auch erkannt, dass es in diesem Moment besser war, wenn er gar nichts sagte. Am besten wäre es sicherlich gewesen, wenn er sich unsichtbar gemacht hätte.

    Das große Finale war dann kurz vor der Schule gekommen: „Also, mein lieber Sohn. Über deine ständige Verantwortungslosigkeit werden wir heute Abend noch sprechen! Das lasse ich mir von dir nicht mehr gefallen!, hatte sein Vater mit eisiger Miene festgestellt und ihn dabei mit bohrenden Blicken durch den Rückspiegel beobachtet. „Die Übernachtung bei Jan am Wochenende ist natürlich für dich gestrichen!, waren seine Schlussworte gewesen.

    Dann hatte der Wagen gehalten. Benjamin war hinausgesprungen und in Richtung Schuleingang geeilt, ohne noch einmal zu seinen Eltern zurückzuschauen. Atemlos war er durch die leeren Gänge in Richtung Klassenzimmer gerannt. Die Stunde bei Frau Glückstein hatte bereits angefangen, als Benjamin ins Klassenzimmer kam.

    „Das Auto von meinem Vater ist nicht angesprungen, hatte er als Entschuldigung gemurmelt und war mit gesenktem Kopf an Frau Glückstein vorbeigehastet. Schnell hatte er sich auf den Platz neben Jan, seinem besten Freund, gesetzt. Dieser hatte ihn fragend angesehen. „Nur Ärger heute!, hatte Benjamin hinter vorgehaltener Hand geflüstert. „Ich habe meine Schultasche zu Hause liegengelassen. Du kennst doch meine Eltern. Sie sind völlig ausgerastet und haben im Auto ein riesiges Affentheater veranstaltet."

    Frau Glückstein hatte im selben Moment mit strafendem Blick bemerkt: „Nicht nur, dass du zu spät kommst! Jetzt störst du auch noch den Unterricht!"

    Benjamin hatte daraufhin den Kopf gesenkt und gedacht: „Irgendwie ist das heute nicht mein Tag! "

    *

    Während Benjamin trübsinnig aus dem Fenster starrte, saß Tirai in der Zwergenschule und kämpfte mit den Rezepturen, die für die Pflanzenpflege wichtig waren.

    „Mische zwei Zwiebeln mit fein geriebener Kohle, fünf Bucheckern und vertrocknetem Eichenlaub. Trockne diese Mischung zwanzig Tage über dem Feuer und zermahle dann alle Bestandteile zwischen zwei Graphitsteinen. Dieses Pulver streue dann bei zunehmendem Halbmond unter die Erdbeerpflanzen und die Erdbeeren werden im Sommer prächtig gedeihen. Ihr werdet sehen, dass ihr noch nie so große und leckere Erdbeeren gegessen habt." Begeistert ratterte der alte Zwergenlehrer Perrisch eine Rezeptur nach der anderen herunter.

    Verwundert sah Tirai den Alten an. Wie konnte ein Zwerg nur alle diese Mischungen, Bestandteile und Zeitangaben behalten? Im Kopf vom alten Perrisch schien es hunderte, ja tausende von Anweisungen und Mixturen zu geben. „Das werde ich wohl nie lernen", stöhnte Tirai leise. Es war nicht so, dass ihn die Pflanzenkunde nicht interessierte. Oh nein! Er liebte den Wald, die Pflanzen und vor allem die leckeren Früchte. Doch eigentlich liebte er es vielmehr, durch den Wald zu streunen und die Tiere und Pflanzen zu beobachten. Am liebsten beobachtete er natürlich die Waldelfen! Vor sich hin träumend ließ der Zwergenjunge seine Gedanken schweifen. Er sah sich im weichen Moos liegen, spürte wie die Sonne sein Gesicht wärmte und auch das leise Klingeln der Elfenflügel konnte er schon in seinen Ohren hören.

    „Hey, Tirai! Träum nicht! Erzähl uns lieber, wie du einen kleinen Tannenzögling, der umgeweht wurde, wieder aufrichten kannst?" Der Zwergenlehrer Perrisch holte den Jungen mit seiner knorrigen Stimme aus den schönsten Fantasien.

    Tirai blinzelte einige Male mit den Augen und versuchte, seinen Tagtraum abzuschütteln. Jetzt musste er sich erst einmal darauf konzentrieren, was der Alte eigentlich von ihm wollte. „Also …, stotterte der Zwergenjunge. „Ich würde eine Elfe bitten, dass sie mit ihrem Elfenstaub versucht, das Bäumchen wieder aufzurichten.

    „So eine Antwort kann natürlich nur von dir kommen!, entgegnete sein Lehrer. „Es war mir schon immer klar, dass du lieber andere für dich arbeiten lässt, anstatt selber etwas zu tun! Aus zusammengekniffenen Augen starrte Perrisch den Zwergenjungen an. Tirai hatte gehofft, mit dieser Antwort seine Ruhe zu haben. Doch weit gefehlt! Jetzt ging es erst richtig los! Der alte Lehrer wollte nun auch noch von ihm wissen: „Und wie stärkst du die Wurzeln, damit der Tannenzögling wieder seine Standfestigkeit gewinnt?"

    Fieberhaft begann Tirai zu überlegen: „War es jetzt ein roter Stein, oder einer von den gelben Steinen, die man unter die Wurzeln graben musste. Oder war es …? Mist! Er konnte sich das alles einfach nicht merken!"

    „Ich glaube, hier muss jemand heute Nachmittag noch einmal die Wirkung der Wachstums- und Kraftsteine üben." Perrisch war sichtlich verärgert und baute sich drohend vor Tirai auf. Dabei schaute der Alte dem Zwergenjungen so fest in die Augen, dass dieser dunkelrot anlief und nicht mehr wusste, wohin er seinen Blick noch wenden sollte. Tirai fing an, auf seinem Hocker herumzurutschen. Doch die Augen des Alten schienen an ihm zu kleben … so, als wenn sie Löcher in seinen Körper brennen wollten! Ohne auch nur ein Wort zu sagen, starrte Perrisch den Zwergenjungen unentwegt an.

    Schließlich hielt Tirai es nicht mehr aus! Der Zwergenjunge sprang von seinem Platz auf und hastete zur Tür hinaus. Dann rannte er über den Marktplatz und flüchtete in den Wald. Dabei sprang er über Steine und Stöcke, als würde er von einer wilden Horde Kobolde verfolgt werden. Tirai rannte weiter und weiter. Erst als der Zwergenjunge an der umgestürzten Buche angekommen war, hielt er keuchend an. Völlig außer Atem holte er mehrmals tief Luft und schaute sich um. Ohne groß nachzudenken, war er zu seinem Lieblingsplatz gestürmt.

    Für Tirai gab es nichts Schöneres, als auf diesem alten Buchenstamm herumzuklettern. Dieser Baum war beim letzten Sturm nicht bis auf den Boden gestürzt, sondern hatte sich zwischen zwei anderen Bäumen verfangen und hing nun schräg in der Luft fest. Das hatte den Vorteil, dass Tirai auf dem Stamm bis hoch in die Spitzen der angrenzenden Baumkronen balancieren konnte. Dort oben gab es wunderschöne Plätze, von denen aus er stundenlang das Treiben im Wald beobachten konnte.

    Auch heute hatte ihn die alte Buche wieder magisch angezogen. Geschickt sprang der Zwergenjunge auf eine der untersten Wurzeln und kletterte dann am Wurzelwerk hoch auf den Stamm. Von dort aus begann er, in Richtung der Baumkrone zu marschieren. Tirai war noch nicht weit gekommen, als er ein leises Klingeln neben sich in der Luft hörte, das ihm sehr bekannt vorkam.

    „Elvora, mach dich sichtbar!, rief der Zwergenjunge. „Ich habe dich bereits gehört. Das Klingeln schien weiter um seinen Kopf zu kreisen. Immer noch war niemand zu sehen. „Nur weil du dich unsichtbar machen kannst, Elvora, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht weiß, wo du bist." Blitzschnell griff Tirai in die Luft vor sich. Im nächsten Moment wurde die zierliche Gestalt einer grünlich schimmernden Waldelfe sichtbar, die Tirai mit festem Griff an ihren Beinen festhielt.

    „Du mit deinem Zwergengehör! Du hörst ja besser als ein Maulwurf", jammerte die kleine Waldelfe und versuchte, sich aus dem Griff des Zwergenjungen zu befreien.

    „Ja, und das, obwohl ich keine so spitzen Ohren wie du habe", neckte Tirai die kleine Elfe und gab sie wieder frei. Auf sein gutes Gehör war Tirai schon immer stolz gewesen. Er konnte das leise Klingeln von Elfenflügeln schon auf eine Entfernung von acht Baumlängen hören. Während der Zwergenjunge sich auf die Borke des Baumstammes hockte, ließ Elvora sich im Schneidersitz auf seinem Knie nieder und faltete ihre fast durchsichtigen, in verschiedenen Grüntönen schimmernden Flügel auf ihrem Rücken zusammen.

    „Solltest du nicht in der Schule beim alten Perrisch sein?" fragte Elvora scheinheilig und konnte dabei kaum ein Schmunzeln unterdrücken.

    „Oh nein! In diesem Wald lässt sich nichts, aber auch gar nichts geheim halten!, stieß Tirai hervor und rollte mit den Augen. „Woher weißt du das?

    „Och, die Säuselwürmer haben es mir berichtet. Außerdem bist du gerade wie ein Kugelblitz durch den Wald gejagt", antwortete Elvora und schaute ihn dabei neckisch an.

    Während Tirai sich mit seiner grünen Elfenfreundin unterhielt, bemerkte er, dass der gesamte Ärger, den er kurz zuvor noch verspürte hatte, mehr und mehr verschwand. Der Zwergenjunge strich mit seinem Zeigefinger leicht über die kleinen Füße des Elfenmädchens. „Weißt du was?, begann er. „Immer wenn ich dich sehe, Elvora, dann geht es mir auf einmal gut. Eben bin ich noch verärgert durch den Wald gerannt, dann kommst du und plötzlich bin ich wieder glücklich. Ich habe schon überlegt, ob du mich nicht manchmal mit deinem Elfenstaub verzauberst?

    „Vielleicht mache ich das ja auch? Elvora verzog schelmisch ihr Gesicht. „Du weißt doch, dass wir Elfen Freude und Glück verbreiten, wenn wir uns anderen Wesen nähern. Diese Eigenschaft wurde uns geschenkt, um die Welt aufzuhellen und alle Lebewesen aufzumuntern, wenn sie betrübt oder verärgert sind.

    „Also bist du doch eine Zauberelfe, stellte Tirai lächelnd fest und schaute ihr ins Gesicht. „Wahrscheinlich verzauberst du mich gerade mit deinen Augen, die heute wie grüne Smaragde schimmern.

    Elvoras Gesicht lief dunkelgrün an. Tirais Worte waren ihr peinlich. Rasch sprang sie auf und fing an, den Zwergenjungen zu kitzeln.

    *

    Benjamin hatte es satt, aus dem dämlichen Fenster in den dämlichen Garten zu schauen und die dämliche Zeit mit Warten zu verbringen. Warum sollte er darauf warten, dass seine Eltern endlich nach Hause kamen? Damit sie ihre Strafpredigt an ihm auslassen konnten? Sie würden doch nur den ganzen Abend mit ihm meckern! Kurz entschlossen sprang der Junge von der Fensterbank herunter, rannte zur Tür und knallte diese beim Hinausgehen noch einmal ordentlich hinter sich zu. Grantig zog er sein Fahrrad neben der Mülltonne hervor und raste den Schotterweg entlang in Richtung Kuhwiese. Am Gatter standen die Kühe und glotzten ihn an, als er dicht vor ihnen eine erstklassige Bremsspur hinlegte.

    Und jetzt?, dachte der Junge. „Nun stehe ich hier vor diesen Kühen, die mich blöd anstieren. Wohin soll ich bloß fahren? Der Junge sah sich um. „Egal, einfach drauf los! Voll Power!", spornte Benjamin sich selber an und trat erneut in die Pedale. Und schon jagte er mit seinem Fahrrad den Weg hinunter zum Fluss. Hier raste er mit so viel Schwung über die alte Brücke, dass die Bretter ächzten und knackten. Weiter ging es am Rapsfeld vorbei und den nächsten Hügel wieder hoch. Oben angekommen, sah Benjamin den Wald vor sich.

    „Ja, das ist genau das Richtige! Ich mache heute eine Wald-Rallye. Dort finde ich bestimmt auch Hügel zum Springen." Benjamin trat erneut in die Pedalen und hielt erst vor der großen, alten Eiche an, die am Rande des Waldes stand, als wenn sie alle Besucher empfangen wollte.

    „Nun geht es los! Jetzt kommt der beste Waldhügelspringer der Welt!" Und schon jagte Benjamin den schmalen Waldweg entlang. Er sprang mit seinem Rad über Baumwurzeln und kleine Hügel. Dabei brüllte der Junge seinen ganzen Ärger hinaus. Immer tiefer fuhr er in den Wald und vergaß alle Sorgen.

    *

    Tirai versuchte immer noch, dem Kitzeln der kleinen Elfe zu entgehen, als er plötzlich ein Schreien und Johlen hörte, dass näher und näher kam. Elvora, die diesen Lärm ebenfalls gehört hatte, ließ von ihrem Freund ab und wandte sich in Richtung des herannahenden Krachmachers. Schon im nächsten Moment erblickten die beiden Naturgeister den Verursacher. Gebannt starrten sie auf einen Menschenjungen, der wie ein Wilder durch den Wald raste und dabei laut herumschrie.

    Der fremde Junge saß auf so einem seltsamen Gerät, wie es nur die Menschen benutzten und vollführte damit tollkühne Sprünge. In einem Moment sahen die zwei ihn noch mit einem riesigen Satz über einen Hügel fliegen, im nächsten Moment raste der Menschenjunge schreiend durch einen Busch, überschlug sich und verschwand dahinter. Plötzlich war Ruhe im Wald! Es war kein Ton, kein Laut mehr von ihm zu hören. Diese Ruhe verhieß nichts Gutes.

    „Schnell! Lass uns nachschauen, ob ihm irgendetwas passiert ist!", rief Tirai und rannte den Baumstamm hinab. Am Wurzelwerk hüpfte er geschickt ins Gras und lief in Richtung des Busches, hinter dem der Menschenjunge verschwunden war.

    Auch Elvora hatte längst ihre Flügel ausgebreitet und war in dieselbe Richtung geflogen. Schnell hatte sie den Menschenjungen entdeckt. Er lag mit ausgestreckten Armen auf dem Waldboden, während seine Beine sich in diesem seltsamen Metallgefährt verfangen hatten. Fröstelnd betrachtete Elvora den Jungen. Eben noch war dieser wie ein Wirbelwind durch den Wald gejagt und hatte ein lautes Geschrei veranstaltet. Jetzt lag er völlig stumm und regungslos vor ihr. Aus einer Wunde am Kopf sickerte Blut. Unentschlossen schwebte die Elfe über dem Menschenjungen und sah sich erschrocken zu Tirai um, der herangerannt kam. „Er ist verletzt, stammelte sie. „Wir müssen ihm helfen!

    Der Zwergenjunge blickte abwechselnd auf den Menschenjungen und auf seine kleine Freundin. „Ich habe keine Ahnung, wie wir ihm helfen können", entgegnete er mit ernstem Gesicht.

    Elvora hatte sich inzwischen dem am Boden liegenden Jungen genähert und betrachtete dessen blutende Wunde am Kopf. Ohne weiter nachzudenken, ließ sie Elfenstaub aus ihren Händen in Richtung der Verletzung fließen. Dabei strömten viele kleine Glitzersternchen aus ihren Handflächen.

    Schon immer hatte Tirai seiner Elfenfreundin bewundernd zugesehen, wie sie bei der täglichen Arbeit an den kranken Pflanzen und Tieren des Waldes ihren Elfenstaub einsetzte, um diese zu heilen. Jetzt konnte er verfolgen, wie sich ihr Elfenstaub als glitzernde Wolke um den Kopf des Jungen legte. Aus Elvoras Händen floss dabei unentwegt ein Strom von Elfenstaubsternchen. Diese hüllten den gesamten Körper des Jungen nach und nach in eine funkelnde Wolke.

    Während die Elfe ihren Heilstaub auf den Menschenjungen rieseln ließ, nutzte Tirai die Gelegenheit und betrachtete diesen genauer. Noch nie war er einem Menschen so nah gewesen. Der Junge war groß, mindestens vier Zwergenlängen größer als er selber. Im Gegensatz zu dem gewohnten Anblick von Zwergengesichtern hatte der Menschenjunge weiche Gesichtszüge, fast so wie die der Elfen. Auffällig waren auch die blonde Haare, die irgendwie geordnet, fast wie in Reih und Glied, auf dem Kopf lagen. Alle Zwergenjungen in seinem Dorf hatten dunkle Haare, diese waren ständig strubbelig und standen weit vom Kopf ab. Außerdem war das Gesicht des verunglückten Jungen ziemlich blass. Noch blasser als er es sonst von den Menschen gewohnt war.

    „Er bewegt sich immer noch nicht!" Die Stimme des Elfenmädchens riss Tirai aus seiner Betrachtung.

    „Ich glaube, es ist genug. Mehr kann ich nicht für ihn tun. Elvora sah ihren Zwergenfreund mit sorgenvollem Gesicht an. „Der Strom meines Heilstaubes versiegt!

    Ein Blick auf Elvoras Hände zeigte Tirai, dass die Elfe recht hatte. Der Strom aus Elfenstaubsternchen, der bisher aus ihren Handflächen geflossen war, wurde dünner und dünner. Schließlich riss er ganz ab.

    „Hoffentlich habe ich das Richtige getan, denn eigentlich dürfen wir Elfen unseren Heilstaub bei Menschen nicht einsetzen!, stieß Elvora unruhig aus. „Aber es sah so schrecklich aus, wie der Junge aus seiner Wunde am Kopf geblutet hat. Ich musste ihm einfach helfen! Mir ist so schnell nichts anderes eingefallen, als ihn in Elfenstaub zu hüllen. Das war doch richtig, oder? Die kleine Elfe zitterte bei diesen Worten am ganzen Körper. „Ich hoffe nur, dass mein Heilstaub bei dem Menschenjungen wirkt!"

    Unschlüssig stand Tirai neben seiner Freundin. Auch ihm war beim Anblick dieses Jungen, der immer noch regungslos vor ihnen lag, nicht wohl. Schließlich setzte er Elvora sanft auf seine Handfläche und hockte sich mit ihr neben dem Jungen ins Gras. Stumm verfolgten die beiden Naturgeister, wie die Wolke aus Elfenstaub sich nach und nach auf den Jungen legte, bis dessen ganzer Körper mit einer funkelnden Schicht bedeckt war.

    Der Zwergenjunge wusste nur zu gut, dass es die Lebensaufgabe des Elfenvolkes war, mit ihrem Heilstaub den Pflanzen und Tieren des Waldes zu helfen. Häufig genug hatte er die Elfen dabei beobachtet, wie sie Tiere heilten und aus welken Blümchen oder fast vertrockneten Gräsern wieder wunderschöne Pflanzen machten. Es war ihm stets wie ein Wunder vorgekommen, wenn die kranken Pflanzen durch die Behandlung mit dem Elfenstaub zu neuem Leben erweckt wurden und anschließend wieder in den schönsten Farben leuchteten.

    Nach einer Weile bemerkte Tirai, dass kein Blut mehr aus der Kopfwunde floss. Anscheinend hatte die Wirkung des Elfenstaubes schon eingesetzt. Als er die hässliche Wunde näher betrachtete, stellte Tirai mit Erstaunen fest, dass diese sich zu schließen begann. Zudem bekam das blasse Gesicht des Menschenjungen immer mehr Farbe.

    „Sieh nur! Mutter Erde sei Dank! Mein Elfenstaub wirkt also doch bei ihm", flüsterte Elvora und atmete erleichtert auf.

    *

    Benjamin hatte das Gefühl, aus einem Traum zu erwachen. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass sein Vorderrad kurz an dieser blöden Baumwurzel hängen geblieben war. Dadurch hatte er die Kontrolle verloren und sich mit dem Fahrrad überschlagen. Dann war alles dunkel geworden.

    Stöhnend sah der Junge sich um und traute seinen Augen nicht! Die Welt um ihn herum schien auf einmal zu glitzern. Egal wohin er auch schaute, überall sah er glitzernde Sternchen. „Oh Mann! Da hat es mich aber ganz schön erwischt", murmelte Benjamin und schloss die Augen. Dann fühlte er in seinen Körper hinein. Tat es irgendwo weh? Nein, im Gegenteil! Irgendwie fühlte sich sein Körper sogar wunderbar leicht an.

    „Gott sei Dank! Ich habe meinen Sturz gut überstanden. Also auf ein Neues!" Der Junge öffnete zum zweiten Mal die Augen. Der Glitzerschleier war immer noch da, doch er war schon weniger geworden. Mühsam versuchte der Junge sich aufzurichten, doch das wollte ihm nicht gelingen. Er hatte das Gefühl, als wenn Gummibänder an seinem Rücken befestigt wären, die ihn immer wieder zurückzogen. Alle Versuche aufzustehen, blieben erfolglos.

    „Jetzt reicht‘s!", rief er und schnellte mit einem kräftigen Ruck hoch. Im selben Moment hatte er das Gefühl, als würden die Gummibänder an seinem Rücken abreißen. Da ihm nichts wehtat, machte Benjamin sich keine weiteren Sorgen. Für ihn war nur wichtig, dass er sich endlich aufsetzen konnte.

    „Nun muss ich nur noch meine Beine aus diesem blöden Fahrrad befrei… ", stieß er hervor und verstummte abrupt. Aus den Augenwinkeln hatte er eine Gestalt neben sich bemerkt.

    Schnell drehte Benjamin sich um und erstarrte. Vor ihm stand ein kleiner Junge wie aus einem Bilderbuch. Und auf der Schulter dieses Jungen saß ein noch viel kleineres Wesen. Mit offenem Mund starrte Benjamin die zwei an. Der Junge hatte zottelige Haare, dünne Beinchen und knorrige Ärmchen. Zudem trug er eine Art Blätterhose und ein buntes Hemd voller Blüten. Und klein war der Junge! Er ging ihm höchstens bis zu den Knien! Noch wunderlicher war die winzige Gestalt, die auf der Schulter des strubbeligen Jungen saß. Bei näherer Betrachtung konnte Benjamin erkennen, dass es sich um ein Mädchen handelte, das nicht größer als seine Hand war. Dieses Mädchen besaß grüne Haare, sogar die Haut schimmerte leicht grünlich, und sie hatte … spitze Ohren! Als der Menschenjunge dann noch entdeckte, dass das kleine Wesen auf dem Rücken Flügel hatte, die in wechselnden Grüntönen schimmerten, kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wo kamen diese zwei sonderbaren Gestalten her und was machten sie hier?

    „Hey! Ihr beide seht aber seltsam aus!, rutschte es Benjamin heraus. „Was seid ihr denn für welche?

    Verschreckt sahen die zwei Wesen ihn an.

    Im nächsten Augenblick drehte sich der kleine Junge blitzschnell um und rannte dann weg. Auch das winzige Mädchen sauste davon.

    Als Benjamin den zwei nachsah, hätte er schwören können, dass das Mädchen nicht gelaufen, sondern geflogen war. Das Letzte, was er von diesen sonderbaren Wesen sah, war, dass sie hinter einem Busch verschwanden.

    Tirai hatte das Aufwachen des Menschenjungen genau verfolgt. Doch das, was er gesehen hatte, war irgendwie ungewöhnlich gewesen. Sogar sehr ungewöhnlich! Bei dem Versuch, sich aufzusetzen, war der Körper des Jungen immer wieder unscharf geworden. Es war so, als würde man schielen und eine Person zweimal sehen. Tirai hatte den Eindruck gehabt, als wenn der Menschenjunge auf einmal aus zwei Körpern bestehen würde.

    Je länger Tirai den Jungen betrachtet hatte, desto sicherer war er sich gewesen, dass dies tatsächlich so war! Während der eine Körper des Menschenjungen sich immer wieder abgemüht hatte aufzustehen, war der zweite Körper bewegungslos auf der Erde liegen geblieben. Verwirrt hatte Tirai die vergeblichen Anstrengungen des Menschenjungen verfolgt. Dabei hatte er irgendwann bemerkt, dass zwischen den beiden Körpern des Jungen Lichtbänder aufblitzten, die verschiedene Farben hatten. Tirai hatte deutlich sehen können, dass diese Lichtbänder beide Körper miteinander verbanden. Beim Aufrichten dehnten diese sich wie Gummibänder und hinderten den Jungen daran aufzustehen. Wieder und wieder war der Junge von den farbigen Bändern zu dem am Boden liegenden Körper zurückgezogen worden.

    Doch dann passierte es!

    Mit einem kräftigen Ruck hatte sich der fremde Menschenjunge aufgesetzt. Dabei hatten die farbigen Lichtbänder sich erst ausgedehnt und waren dann plötzlich abgerissen.

    Benjamin schüttelte seinen Kopf. Vielleicht war er noch nicht richtig wach? Irgendetwas stimmte hier nicht! Erst diese Sternchen, die er immer noch sah und dann dieser sonderbare Junge, der wie ein Zwerg durch den Wald sprang. Nicht zu vergessen das winzige Mädchen mit den Flügeln auf dem Rücken. Was war hier nur los? Es war sicherlich das Beste, wenn er sich jetzt schnellstens auf den Heimweg machte. Hastig zog Benjamin seine Beine unter dem Fahrrad hervor und richtete sich auf. Neugierig eilte der Menschenjunge kurz auf die Stelle zu, an der die beiden sonderbaren Wesen entschwunden waren, stoppte dann jedoch seine Schritte. „Was soll‘s, seufzte er. „Die zwei sind sicherlich schon über alle Berge!

    Entmutigt drehte Benjamin sich zu seinem Rad um und murmelte dabei: „Hoffentlich ist nichts verbogen! Wenn ich jetzt auch noch mit einem kaputten Fahrrad nach Hause komme, dann sieht es heute Abend schlecht für mich aus."

    Kaum hatte der Junge einen Blick auf sein Fahrrad geworfen, bekam er den nächsten Schrecken: „Da ist ja noch jemand! Wieso habe ich das nicht mitbekommen?" Plötzlich fröstelte es Benjamin. Was war das für eine Gestalt, die dort unter seinem Rad lag? Diese Gestalt sah ziemlich unheimlich aus, denn sie war durchsichtig wie ein Geist!

    Nervös hielt Benjamin Abstand und beobachtete aus sicherer Entfernung die ganze Situation. Was sollte er jetzt machen? Irgendwie musste er an sein Fahrrad kommen! Schließlich nahm der Junge seinen ganzen Mut zusammen und trat vorsichtig näher. Dabei schaute er argwöhnisch auf die geisterhafte Gestalt, die immer noch völlig regungslos unter seinem Rad lag. Als er sich über die fremde Gestalt beugte, merkte er, dass es ihm plötzlich kalt den Rücken herunter lief.

    „Nein, das kann doch nicht wahr sein! Dieser Geist sieht aus wie … ich! Auf einmal wollten ihn seine Beine nicht mehr tragen. Kraftlos sackte Benjamin neben dem Fahrrad ins Gras. Dabei konnte er seinen Blick nicht mehr von der durchsichtigen Gestalt abwenden. „Wieso hat dieser Geist mein Gesicht? Was ist hier nur los?, jammerte der Junge und fing in seiner Verzweiflung an zu weinen. Sein ganzer Körper erbebte plötzlich vor Schluchzen. In dieser tiefen Verzweiflung spürte er auf einmal eine Hand auf seinem Arm, drehte sich zur Seite und sah in das Gesicht des kleinen Waldjungen, der ihn mit großen Augen anschaute und den Mund zu einem Lächeln verzogen hatte.

    „Hey, Menschenjunge! Ich helfe dir! Bitte weine nicht mehr", bat ihn der kleine Waldjunge.

    „Wer … bist … du?", stammelte Benjamin und konnte vor Schluchzen kaum diese drei Worte herausbringen.

    „Ich heiße Tirai und habe gesehen, wie du mit deinem seltsamen Drehdingsdabumsda gestürzt bist. Das wundert mich gar nicht! Ihr Menschen habt so viele sonderbare und gefährliche Geräte, die euch durch die Gegend tragen. Am Schlimmsten sind die großen Blechdosen, in die ihr euch setzt. Die machen immer einen fürchterlichen Krach und stinken noch schlimmer als Pupse."

    Benjamin hörte dem kleinen Wicht mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund zu. „Das gibt es doch nicht!, dachte er. „Der kleine Kerl kennt noch nicht einmal ein Fahrrad. Das alleine reichte schon, dass der Junge seine Verzweiflung vergaß. Was hatte der Waldjunge noch gesagt? Sein Fahrrad sei ein Drehdingsdabumsda und Autos seien große Blechdosen? Plötzlich fing Benjamin an, lauthals zu lachen: „So etwas habe ich noch nie gehört, ein Drehdingsdabumsda!"

    Erleichtert sah Tirai, dass der fremde Junge mit dem Weinen aufgehört hatte und jetzt lachte. Dieses Lachen war so ansteckend, dass der kleine Zwerg vergnügt mit einstimmte. Nachdem sich die zwei Jungen ausgiebig amüsiert hatten und aus ihrem Gelächter nur noch ein leises Kichern geworden war, betrachteten sie sich gegenseitig voller Neugier.

    „Wieso bist du so klein?", wollte Benjamin schließlich wissen und brach damit als Erster das Schweigen zwischen ihnen.

    „Hey, ich bin doch nicht klein! Von den Zwergenjungen in meiner Klasse bin ich der Größte", antwortete Tirai entrüstet.

    „Du … du … du bist ein Zwerg?", stammelte Benjamin.

    „Ja klar! Hast du denn noch nie einen Zwerg gesehen?" Im selben Moment, in dem Tirai diesen Satz ausgesprochen hatte, fiel ihm ein, dass die meisten Menschen keine Zwerge sehen konnten. Sein Vater Aldeban hatte ihm das und vieles mehr über die Menschen erzählt. Damals, als er zum ersten Mal Menschen im Wald begegnet war. Obwohl es schon lange her war, konnte Tirai sich immer noch ganz deutlich an jenen Tag erinnern:

    Er war mit seinem Vater zum Waldsee unterwegs gewesen. Plötzlich waren ihnen mehrere Menschen entgegengekommen. Alle hatten lange Stöcke in den Händen und rammten diese beim Gehen in den Boden, sodass überall kleine Löcher auf dem Weg entstanden. Außerdem machten diese Stöcke ziemlich laute Klack-Geräusche. Später hatte Tirai noch lange darüber nachgedacht, warum die Menschen so schnell durch den Wald liefen und überall Löcher in den Boden piekten, doch er hatte den Grund

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