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Skalp: Ein OWL-Krimi
Skalp: Ein OWL-Krimi
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eBook533 Seiten6 Stunden

Skalp: Ein OWL-Krimi

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Über dieses E-Book

Während KHK Weber vom PP OWL mit der Aufbereitung seines letzten Falles beschäftigt ist, stellt eine neue Mordserie die Ermittler vor große Probleme.
An verschiedenen Orten in OWL werden Skalpe gefunden. Doch wo sind die Opfer?
Zeitgleich wird Weber von seiner Vergangenheit eingeholt. Doch wer kann von seinem dunklen Geheimnis wissen? Um die Sache zu Ende zu bringen, muss Weber nach Wien reisen. Dort kommt es zum Showdown.....
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Sept. 2020
ISBN9783347083196
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    Buchvorschau

    Skalp - Michael Giezek

    Skalp Weber

    Sonntag, 11.10.2015, 9:25 Uhr

    Heiner Kuhl ging regelmäßig am Sonntagmorgen mit seinem Border Collie Leo spazieren. Dabei ließ er sich viel Zeit, weil er in der Woche lange arbeitete und die Gassirunden mithin dann kürzer ausfallen mussten.

    Der glatzköpfige Kuhl lebte allein mit seinem Hund in einer großen Wohnung in der „Graf-von-Galen-Straße" in Bielefeld. Von hier aus ging er immer durch den nahegelegenen Park, vorbei am Teich und dem Wirtshaus, unterquerte die Kurt-Schumacher-Straße durch einen Rad- und Fußgängertunnel und folgte auf der anderen Seite dem Weg zur Voltmannstraße, überquerte sie an einer weiteren Ampel und marschierte strammen Schritts voran. In der Morgenbreede passierte das Duo die Studentenwohnungen, und der schmächtige Kuhl drehte mit dem Tier noch eine Runde durch den Park.

    „Was, Leo? Ein herrliches Wetter, gut für einige Extrameter", sprach er zu seinem Hund, der kurz aufblickte und diese Ansprache mit einem leichten Wedeln quittierte.

    Die Beiden spazierten am Fitnessstudio vorbei und schlugen die Richtung zur Fakultät für Chemie ein. Leo blieb ständig stehen, schnüffelte sich fast die Seele aus dem Leib und markierte Strauch, Baum und Laternenpfahl. Plötzlich aber zog er kräftig in Richtung einer Mülltonne, die unscheinbar neben zwei Sitzbänken aus Metall vor dem Eingang zur Fakultät stand.

    „Na, wen willst Du da übertrumpfen?", sagte Kuhl leise, nicht ahnend, dass es dem Vierbeiner jetzt gar nicht mehr um die Duftzeichen anderer Rüden ging.

    Der Köper des Hundes war angespannt, die Ohren standen aufmerksam hoch und die Nase zitterte, als wäre ein Feldhase um die Ecke gekommen. Kuhl sah, dass der Mülleimer völlig überfüllt war. Als er sich näherte, bemerkte er einen Wischmopp, der obenauf lag. Dieser Wischmopp, oder was auch immer das Ding war, sah so aus, als ob jemand eine große Menge Ketchup oder rote Marmelade aufgewischt hätte.

    „Aber warum entsorgt man ihn hier draußen?", fragte sich Kuhl.

    „Es wird wohl kaum jemand vor der Bank Ketchup verschüttet und dann mit einem Mopp aufgewischt haben" rätselte er vor sich hin, derweil Leo kaum noch zu bremsen war.

    Kuhl stand mittlerweile so nah dran, dass er besser erkennen konnte, was da wirklich auf dem Mülleimer lag. Es war kein Wischmopp und es waren auch weder Ketchup noch Marmelade, was daran klebte. Kuhl schaute wie gebannt auf den Mülleimer, während Leo sich an einer Pfütze der roten Flüssigkeit gütlich tat, die sich auf dem Boden gebildet hatte.

    Als Kuhl endgültig ins Bewusstsein stieg, was er da vor sich hatte, zog er Leo hastig beiseite, drehte sich von dem Anblick weg und kotzte sich hinter einer der Bänke die Seele aus dem Leib.

    11:10 Uhr

    Kriminalhauptkommissar Heiko Windmann, von der A1 der Kriminalpolizei Bielefeld, stand vor dem Mülleimer an der Fakultät für Chemie und starrte auf das Etwas aus Haaren und Blut.

    Vor einer Stunde hatte er noch zu Hause am Frühstückstisch gesessen und mit seiner Frau Kaffee getrunken und Brötchen gegessen. Dann hatte ein Anruf der Kriminalwache ihn aus seiner Vorstellung von einem perfekten Sonntagmorgen gerissen. Die Feuerwehr hätte sich gemeldet, da sie zu einem merkwürdigen Einsatz gerufen worden sei, teilte der Kollege mit. Ein Spaziergänger habe auf einem Mülleimer auf dem Uni-Gelände Haare gefunden. Als die Sanitäter dort angekommen seien, hätten sie festgestellt, dass es sich offenbar um einen Skalp mit frischem Blut handeln würde. Der Meldung an die Leitstelle folgte direkt die Nachricht bei der Kriminalwache. Sofort machte sich eine Streifenbesatzung auf den Weg.

    „Die uniformierten Kollegen haben bestätigt, dass es sich sehr wahrscheinlich um echte Haare und echtes Blut handelt", erfuhr Windmann im Telefonat.

    Grund genug für ihn, sofort durchzustarten, auch wenn er dem Ganzen nicht traute und den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht anzweifelte. Windmann hatte den Kollegen noch gebeten, den anderen Mitgliedern der MK-Bereitschaft zu sagen, dass sie direkt zur Uni kommen sollten.

    Und nun also stand auch der Ermittler vor dem Mülleimer und starrte auf den ominösen Fund.

    „Wie lange liegt der Skalp wohl schon hier?", fragte Windmann die Sanitäter, die aber keine genauen Angaben machen konnten.

    „Das lässt sich nicht wirklich sagen, antworteten sie, „aber da das Blut noch heruntergetropft ist, müssen die Haare direkt nachdem sie vom Kopf abgetrennt wurden, hier hingelegt worden sein. Da das Blut noch nicht geronnen ist, tippe ich auf 30 bis 45 Minuten.

    Windmann nahm die Haare genauer unter die Lupe. Sie waren dunkelbraun, durchzogen von einigen grauen Strähnen. Der Kommissar fragte sich, was nun zu tun sei. Bei einer Leiche wäre das klar gewesen. Sie wäre in die Pathologie gebracht und dort obduziert worden. Aber bei einem Skalp? Als Windmann mit seinen Gedanken an diesem Punkt angekommen war, trafen die ersten Mitglieder der Bereitschaft ein.

    Roman Schäfer und Andreas Haar waren für diesen Sonntag als Ermittlerteam eingeteilt - ausgerechnet. Windmann konnte sich die Anspielung nicht verkneifen, dass es wohl für diesen Fall keinen passenderen Kollegen als Haar hätte geben können. Er informierte kurz zum Sachstand, als auch schon die Spurensicherung anrückte. Viel konnte sie allerdings nicht tun. Es gab nicht viel, was hätte gesichert werden können. Lediglich ein paar Fotos zur Auffindesituation und Blutproben – auffallend war, dass es nur die Blutlache direkt vor dem Mülleimer gab. Aber keinerlei Tropfspuren.

    Und das ließ den Rückschluss zu, dass die Haare in einem irgendeinem Behältnis zum Mülleiner gebracht und erst dort daraus entnommen worden waren. Windmann konnte nicht ausschließen, dass in anderen Abfalleimern auf dem Unigelände noch weitere „Körperteile" lagen. Deshalb ließ er die Kollegen der Spurensicherung diese Behälter kontrollieren und bat sie auch, in die umliegenden Büsche zu schauen. Nachdem auch das erledigt war, musste sich Windmann um den Abtransport der Haare kümmern. Bei einer Leiche hätte er ein Bestattungsunternehmen angerufen und dieses beauftragt, den Körper zur Pathologie zu transportieren, wo dann die Autopsie stattfinden sollte.

    Aber in diesem Fall?

    Der Ermittler beriet sich mit den Sanitätern, die er gebeten hatte, am Fundort zu bleiben. Zudem rief er seinen Chef in der A1, Oskar Schwarzbach, an und beriet sich auch mit ihm. Man einigte sich darauf, dass die Sanitäter den Skalp mitnehmen und zum Krankenhaus Gilead I bringen würden. Dort sollten die Haare in einer Kühlkammer gelagert werden bis entschieden war, was weiter mit ihnen passieren sollte.

    Das Krankenhaus war einverstanden.

    Bis diese Entscheidung gefallen war dauerte es allerdings fast zwei Stunden und es hatte sich bereits eine größere Menge an Schaulustigen eingefunden. Auch die Journaille war natürlich vor Ort. Windmann hatte über die K-Wache den Vertreter der Pressestelle, der Bereitschaft hatte, verständigen lassen. Dieser war umgehend am Fundort erschienen und würde sich nun um die Medienmeute kümmern. Zudem hatte Windmann um Verstärkung durch uniformierte Kollegen gebeten, die nach ihrem Eintreffen den Fundort sofort weiträumig abgesperrt hatten.

    Der Finder war zwischenzeitlich durch Schäfer und Haar vernommen worden. Die Befragung hatte jedoch nichts Brauchbares ergeben. Herr Kuhl hatte sich nicht daran erinnern können, eine Person in der Nähe des Mülleimers gesehen zu haben. Auch sonst war ihm niemand besonders aufgefallen. Windmann war die ganze Zeit vor Ort geblieben und hatte sich dagegen entschieden ins Büro zu fahren. Dort hätte er eh nicht viel mehr erreicht. Telefonieren konnte er auch mit dem Handy. So hatte er auch mit der zuständigen Staatsanwältin Jaqueline Fähr gesprochen. Sie hatten vereinbart, für den nächsten Tag die Pathologen aus Münster anzufordern. Zuständig war Professor Stefan Ullrich, der versprach gleich um 8 Uhr mit seinen Kollegen im Krankenhaus zu sein.

    Letztlich nahmen die Sanitäter die Haare vom Mülleimer und legten sie in eine Box mit Eiswürfeln, die sonst dem Transport von abgetrennten Körperteilen diente. Die Spurensicherer nahmen sich sofort den weiteren Inhalt des Mülleimers vor. Doch sie fanden weiter nichts, was ihnen bei ihren Ermittlungen weiterhelfen konnte.

    Ein weiteres Telefonat mit der Staatsanwältin brachte diese auf den neuesten Stand.

    Die Presse sollte am Montagnachmittag mehr erfahren.

    Montag 12.10.2015; 9 Uhr

    Windmann stand im Autopsieraum der Klinik und schaute den Pathologen bei der Arbeit zu. Er war schon bei der einen oder anderen Untersuchung dieser Art dabei gewesen und kannte daher die Experten. Professor Stefan Ullrich und seine Assistenten Dr. Hannes Schultenburg und Dr. Peter Haupt hatten als Team schon einige Termine in Bielefeld durchgeführt. So erfahren Prof. Ullrich durchaus war, einen Skalp hatte auch er noch nicht auf dem Seziertisch gehabt.

    „Tja", sagte er nun.

    „Viel können wir nicht machen und viele Informationen werden wir ihnen auch nicht geben können. Was ich sagen kann ist, dass die Kopfhaut mit einem sehr scharfen Gegenstand abgetrennt wurde, vielleicht mit einem Skalpell. Der Schnitt erfolgte allerdings nicht professionell, wenn ich das mal so sagen darf. Die Schnittstellen sehen sehr ruppig aus und teilweise hängt viel Gewebe an den Haaren."

    Ullrich hatte den Skalp bei seinen Worten umgedreht, so dass die haften gebliebene Kopfhaut zu erkennen war. Er zeigte die Stellen, die er meinte.

    „Die Haare selbst sind stark mit Blut durchtränkt. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass ihr ehemaliger Besitzer noch am Leben war, als ihm Haar und Haut genommen wurden.

    Wäre er schon tot gewesen, hätte er nicht mehr so stark geblutet."

    „Rund um den Mülleimer, in dem die Haare gefunden wurden, war viel Blut verteilt", sagte Windmann.

    „Hmmm", machte Ullrich.

    „Das hätte ich nicht erwartet".

    „Warum?" fragte Windmann.

    Statt Ullrich antwortete Dr. Haupt:

    „Weil der Skalp selber nicht so stark nachgeblutet haben kann. Er enthält keine Blutgefäße. Nur die Kopfhaut verfügt darüber."

    „Wo kann das ganze Blut dann herkommen?" fragte Windmann.

    „Das herauszufinden dürfte ihre Aufgabe sein, antwortete Ullrich. „Was können sie mir sonst noch sagen?

    „Ich denke, dass die Haare von einem Mann stammen. Zwar gibt es keine wesentlichen Unterscheidungen bei den Haaren von Mann und Frau, aber da die Haare kurz geschnitten und nicht so dicht sind, wie es bei Frauen häufiger vorkommt, tippe ich auf Männerhaare. Aufgrund der Graufärbung schätze ich das Alter auf 40-50 Jahre", informierte der Experte aus Münster.

    „Kann der „Besitzer der Haare das Skalpieren überlebt haben? hakte Windmann nach.

    Ullrich überlegte einen Moment:

    „Wenn er direkt danch ärztlich versorgt wurde, ja. Falls nicht, könnte es sehr eng für ihn geworden sein. Wenn er irgendwo alleine zurückgelassen wurde, gehe ich davon aus, dass er es nicht überlebt hat."

    „Ich würde an ihrer Stelle die Krankenhäuser und Bielefeld und Umgebung abklappern und fragen, ob dort ein Skalpierter aufgetaucht ist, oder eingeliefert wurde", ergänzte Dr. Haupt und fragte:

    „Was werden sie jetzt mit den Haaren machen?"

    „Wenn ich das mal wüsste", antwortete Windmann.

    „Erstmal werden sie hier in der Kühlkammer bleiben, solange das Krankenaus eine frei hat. Vielleicht meldet sich ja zwischenzeitlich jemand, der seine Haare vermisst", kommentierte der Kommissar mit einem schiefen Grinsen.

    Mittwoch, 14.10.2014; 08:05 Uhr

    Peter „Pete" Schönherr sah auf seine Armbanduhr.

    Noch 10 Minuten bis zum Zugriff.

    In Gedanken ging er den Einsatz erneut durch und suchte zum wiederholten Male nach Schwachstellen, fand jedoch keine. Trotzdem blieb ein ungutes Gefühl in ihm zurück. Vor zwei Monaten hatte er einen Einsatz geleitet, bei dem ein Kripobeamter angeschossen und schwer verletzt worden war. Schönherr und seine Leute hatten den Auftrag gehabt einen Bauernhof zu stürmen, in dem sich Kinder und Jugendliche aufhielten, die an Pädophile verkauft werden sollten. Da nicht bekannt war, wie viele Täter sich ebenfalls in dem Bauernhaus befinden würden, zog man zahlreiche Kräfte zu dem Einsatz heran.

    Die Stürmung des Hauses war seinerzeit ohne Probleme abgelaufen und eine ganze Reihe Personen konnten verhaftet werden. Dabei hatten die Einsatzkräfte allerdings einen Täter übersehen, der von den Kollegen der Kripo aufgespürt wurde und sofort das Feuer eröffnet hatte. Ein Beamter erlitt dabei schwere Schussverletzungen im Oberkörper und konnte nur durch eine Notoperation gerettet werden. Schönherr fiel ein, dass er sich schon seit längerer Zeit nicht mehr nach dem Zustand des Kollegen erkundigt hatte.

    Er wusste, dass dieser die Operation überlebt hatte und ins künstliche Koma versetzt worden war. Deshalb nahm er sich vor, sich nach diesem Einsatz über dessen Gesundheitszustand zu informieren. Der Täter war von einem anderen Kripobeamten erschossen worden.

    Schönherr und die vier Kollegen, die den Dachboden kontrolliert und dabei den Täter übersehen hatten, waren zwei Tage nach dem Einsatz suspendiert worden. In der entsprechenden gründlichen Untersuchung waren ihnen keine Fehler nachzuweisen. Und so konnten alle wieder ihren Dienst antreten.

    Warum der Schütze übersehen worden war, blieb ungeklärt.

    Der heutige Einsatz war Schönherrs erster, nachdem seine Suspendierung aufgehoben worden war. Deshalb war er nervöser als sonst. Auch seine beiden entlasteten Kollegen waren an dem Einsatz beteiligt. Der war nicht so groß wie jener auf dem Bauernhof, entsprechend weniger Kräfte waren vor Ort. Ein Einfamilienhaus im Bielefelder Süden stand im Fokus.

    Schönherr wusste, dass in dem Gebäude eine Familie mit drei Kindern wohnte. Der Mann arbeitete als Psychologe und hatte seine Praxis im Haus. Die Kinder waren mit der Mutter auf dem Weg zur Schule. Anschließend würde sie selber zur ihrer Arbeitsstelle als Rechtsanwältin fahren. Das Zielobjekt war der Mann, der sich nun allein im Haus befand.

    Der Anlass des Einsatzes allerdings war der Gleiche, wie seinerzeit auf dem Bauernhof. Und der Kollege von der Kripo, der den Fall bearbeitete, war derjenige, der in dem Bauernhaus den einen Täter erschossen hatte. Schönherr sah noch einmal auf die Uhr, dann schaute er zu Kriminalhauptkommissar Marc-Andre „Brett" Weber hinüber und nickte ihm zu. Der Einsatz konnte starten. Schönherr gab den Befehl an sein Team weiter.

    11:25 Uhr

    Marc-Andre Weber von der Kripo Bielefeld saß in seinem neuen Büro in der Abteilung 1 der Kriminalpolizei des Polizeipräsidiums OWL und sah auf den Mann, der neben seinem Schreibtisch auf dem Besucherstuhl hockte.

    An dem anderen Schreibtisch im Büro saß Chiara Bültmann, mit der sich Weber den Raum teilte.

    „Also bleiben sie dabei, fragte Weber den Mann, „dass sie hier keine Aussage machen wollen?

    „Ich möchte zuerst mit meinem Anwalt sprechen", entgegnete dieser.

    „Soll ich ihre Frau anrufen?" konnte Weber sich nicht verkneifen zu fragen.

    Der Mann schaute ihn wütend an.

    „Herr Archer, welchen Anwalt sollen wir für sie anrufen?", hakte Weber nach.

    „Herrn Buck", antwortete Archer kurz angebunden.

    „Friedhelm Buck?" fragte Weber nach.

    Archer nickte.

    „Ok", sagte Weber.

    „Ich werde für sie wählen, dann können sie mit ihm sprechen.

    Aber sie sollten es sich nochmal genau überlegen, ob sie nicht jetzt und hier ihr Gewissen erleichtern wollen", versuchte der Kripobeamte letztmalig, sein Gegenüber umzustimmen und zu einer Aussage zu bewegen.

    Archer war am Vormittag vom SEK festgenommen worden, da er im Verdacht stand, einen 12-jährigen unbegleiteten Flüchtling „gekauft" zu haben.

    „Wo ist der Junge, Archer?" fragte Weber und spürte, wie die Wut wieder in ihm hochkochte.

    Bis jetzt hatte er sich beherrschen können, aber je länger er diesem miesen Schwein gegenüber saß, desto schwerer fiel es ihm.

    „Machen sie es nicht noch schlimmer als es ohnehin schon ist. Sagen sie uns wo der Junge ist und ich werde sehen, ob ich etwas für sie tun kann."

    Bei den letzten Worten wurde Weber fast schlecht als er sie aussprach. Natürlich würde er sich für den Kerl nicht einsetzen. Er war froh, wenn Archer im Gefängnis saß und dort auf Typen traf, die wussten wie man mit perversen Schweinen umging.

    „Sie kommen aus der Nummer eh nicht raus. Die Beweise, die gegen sie vorliegen sind eindeutig. Sie wandern in den Knast, da führt kein Weg dran vorbei und auch ihr Anwalt wird ihnen da nicht helfen können. Also sagen sie, was sie wissen und sie werden im Gefängnis in eine Einzelzelle kommen."

    Bei den Worten sah Archer auf, der den Blick bis jetzt starr auf den Boden gerichtet hatte. Ihm schien mit einem Mal bewusst zu sein, was mit ihm passieren könnte, wenn er eingesperrt würde.

    Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und seine Hände fingen an zu zittern.

    „Es gibt einige Jungs im Knast, die sich schon darauf freuen, jemanden wie sie kennenzulernen", setzte Chiara ergänzend hinzu.

    Weber musste innerlich grinsen. Seine Kollegin war eine zierliche junge Frau von 28 Jahren und eine solche verbale Gemeinheit traute man ihr nicht zu. Gerade deswegen aber freute sich Weber, dass er mit ihr bei den Ermittlungen zusammen arbeiten durfte.

    „Die schweren Jungs werden sie herzlich begrüßen und sich dann ganz intensiv um sie kümmern", machte Chiara weiter.

    „So wie sie sich um den Jungen gekümmert haben", setzte sie leise hinzu.

    Archer liefen nun Tränen über die Wangen. Weber hasste diese Typen, die auf der einen Seite Kinder missbrauchten, auf der anderen aber hier saßen und heulten.

    „Wir haben ein Wochenendhaus im Harz", sagte Archer endlich.

    Er nannte ihnen den Ort und die Adresse. Chiara griff sofort zum Telefon und gab die Infos an den Leiter der A 1 weiter. Oskar Schwarzbach versprach, sich ohne Zögern um die Befreiung des Jungen zu kümmern.

    „Es tut mir so leid", begann Archer nun zu wimmern.

    Nicht das jetzt, dachte Weber.

    „Halten sie die Fresse", fuhr er ihn an.

    „Sie kotzen mich an. Ruf seinen Anwalt an, " sagte Weber zu Chiara. Dann stand er auf und verließ das Büro.

    Er brauchte frische Luft.

    13:55 Uhr

    Weber legte den Telefonhörer auf die Gabel und sah zu Chiara herüber.

    „Sie haben den Jungen gefunden", sagte er.

    „Das war der Kollege aus Niedersachsen, der den Einsatz geleitet hat. Das Kind war im Keller des Hauses eingesperrt. Zudem hatte es eine Kette am Bein, die an einem Haken im Boden verankert war. Die Kette sei so lang gewesen, dass er alles habe erreichen können. Er hatte dort unten was zu essen und zu trinken und ein kleines Bad. Außerdem gab es ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und ein Regal mit Büchern. Übrigens alle in deutscher Sprache. Ich weiß gar nicht, ob der Junge da was mit anfangen konnte. Nach den ersten Untersuchungen durch den Notarzt scheint er wenigstens körperlich soweit fit zu sein. Genauere Untersuchungen werden in der Kinderklinik in Osnabrück gemacht, in die er gerade gebracht wird."

    „Was wird weiter mit dem Jungen geschehen?" fragte Chiara.

    „Das Gleiche wie mit den anderen Jungen auch, die wir bis jetzt befreien konnten. Wenn sie gesund sind, werden sie aus dem Krankenhaus entlassen und dem Jugendamt übergeben. Dann werden sie wohl wieder in einem Heim landen.

    Aber diesmal in einem richtigen."

    Weber fragte sich, während er das sagte, allerdings, ob die Jugendlichen nach den gemachten Erfahrungen je wieder unbeschwert in einem Heim leben konnten, soweit das für Flüchtlingskinder überhaupt möglich war. Von einer Vermittlung in eine Pflegefamilie ganz zu schweigen.

    Seit etwas über einem Monat gab es jetzt die EK Eckendorf in der Weber zusammen mit Chiara arbeitete. Sie war das Ergebnis eines anderen Falles, an dem Weber und Chiara zuvor gearbeitet hatten. Dabei war es um einen Mord an einem Kfz-Händler aus Bielefeld gegangen.

    Im Rahmen der Ermittlungen waren Verbindungen zwischen dem Toten und dem Chef eines großen Unternehmens bekannt geworden. Es hatte sich herausgestellt, dass der Tote in den Handel mit Pkw verstrickt war, die in Deutschland als Totalschaden geführt, in Polen für wenig Geld aufbereitet und dann wieder in Deutschland als unfallfreie Gebrauchtwagen verkauft wurden.

    Der Transport der Fahrzeuge von Polen nach Deutschland war zudem für den Schmuggel von Drogen im großen Umfang genutzt worden. Das Opfer hatte sich jedoch einen Teil einer Lieferung Drogen unter den Nagel gerissen und als dies bekannt geworden war, hatte ihn der Unternehmer ermorden lassen. Die schmutzigen Geschäfte des Unternehmers waren nach und nach ans Licht gekommen. Dazu gehörte auch der „Handel" mit unbegleiteten Flüchtlingskindern.

    Dieser Unternehmer, Georg Renner, hatte zusammen mit einem Geschäftspartner mehrere Heime für Flüchtlingskinder eröffnet und zahlreiche Mädchen und Jungen aufgenommen. Dann hatten sie die Kinder und Jugendlichen an Pädophile verkauft. Einer von Renners Leuten war damit nicht einverstanden gewesen und hatte heimlich sämtliche Daten zu den „Käufern" von Renners Laptops auf einen USB-Stick überspielt. Er hatte gehofft, so sich und seine Freundin vor Renner schützen zu können. Was aber nicht gelungen war. Sowohl er als auch seine Freundin wurden in der Folge ermordet.

    Die Frau hatte den Stick vor ihrer Ermordung noch bei ihren Eltern verstecken können. Diese wohnten in der Ukraine. Weber hatte sich mit einem Kollegen auf den Weg dorthin gemacht und die Daten abgeholt. Mit genau diesen Informationen war es dann letztendlich gelungen, Renner und einen Teil seiner sogenannten Geschäftspartner zu verhaften.

    Die Ermittlung der „Kunden erwies sich als sehr schwierig. Zwar ließ sich anhand der aufgefundenen Daten sehr gut nachvollziehen, wann welche „Geschäfte abgeschlossen worden waren. Fast alle weiteren Infos aber hatten die Verbrecher gut verschlüsselt. Bis jetzt war es den IT-Experten nur gelungen, drei Kunden zu ermitteln. Und das auch nur, weil deren Daten, aus welchem Grund auch immer, nicht verschlüsselt worden waren. Es wurde mit Hochdruck weiter gearbeitet, und es waren sogar Experten vom LKA und BKA mit der Entschlüsselung beauftragt worden.

    Aber es gab eine Vielzahl an Computern, Tabletts und anderen Speichermedien, die sichergestellt worden waren, so dass noch nicht alle hatten ausgewertet werden können. Man hoffte allgemein, dass sich auch auf einem dieser Speichermedien der Entschlüsselungscode befand - und nicht nur in Renners Kopf. Denn dass Renner der Polizei helfen würde, um möglicherweise eine Hafterleichterung zu erhalten, war absolut nicht zu erwarten. Einer der „unverschlüsselten Käufer", war Klaus-Otto Archer gewesen.

    Einen anderen hatten sie letzte Woche verhaften können, die Festnahme eines weiteren wurde gerade vorbereitet. Der, den man letzte Woche verhaftet hatte, hatte ebenfalls einen Jungen „gekauft, der mit ihm in seinem Haus, eingesperrt in einem Zimmer, „gelebt hatte. Ärztliche Untersuchungen hatten ergeben, dass das Kind während dieser Gefangenschaft wiederholt geschlagen und sexuell missbraucht worden war. Der Täter hatte sich im Gegensatz zu Archer bei der Verhaftung gewehrt, was ihm nicht so gut bekommen war.

    Er würde wahrscheinlich am Ende der Woche aus dem Krankenhaus entlassen und dann in Untersuchungshaft gebracht werden. Weber hoffte nur, dass sich der polizeiliche Aufwand auch lohnte und die Täter angemessen bestraft würden, ohne dass eine schwere Kindheit, oder ein eigener Missbrauch als Ausrede geltend gemacht und anerkannt werden könnten. Zuviel Leid war im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu Tage gekommen.

    Dabei musste er automatisch an seinen Kollegen Laschek denken. Weber und Laschek hatten sich im Rahmen der Ermittlungen zum Fall Renner kennengelernt. Sie waren ein Team gewesen und hatten sich sehr gut verstanden. Laschek, der in einem Haus im Bielefelder Rotlichtviertel wohnte, war bei der Befreiung eines Heims angeschossen und schwer verletzt worden. Er hatte mehrere Schüsse in den Oberkörper abbekommen. Eine Kugel war nahe der Wirbelsäule in den Körper eingedrungen und hatte dafür gesorgt, dass Webers Kollege querschnittsgelähmt bleiben würde und wohl den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen musste. Laschek hatte nach der Not-OP drei Wochen im künstlichen Koma gelegen, bevor sich sein Zustand soweit verbessert hatte, dass ihn die Ärzte wieder aufwecken konnten. Mittlerweile war er aus dem Krankenhaus entlassen worden und befand sich zu einer Reha in Bad Oeynhausen. Weber nahm sich vor ihn zeitnah zu besuchen und ihm von ihrem neuen Erfolg zu berichten.

    Er tippte seinen Bericht zu Ende und wandte sich dann an Chiara.

    „Ok", sagte er dann zu ihr.

    „Zwei hätten wir jetzt."

    Weber hatte herausgefunden, dass ein Großteil der Kunden von Renners Geschäftspartner „Freddy" Krüger vermittelt worden waren. Krüger saß ebenfalls in U-Haft und wartete auf seinen Prozess. Urs Fischer, einer von Renners engsten Mitarbeitern, war immer noch auf der Flucht und wurde per internationalem Haftbefehl gesucht.

    Die Presse hatte sich aasgeierartig auf den Fall gestürzt. Er war wochenlang der Aufhänger der örtlichen, aber auch der überörtlichen Medien aller Art gewesen. Olaf Herbst, der die Ermittlungen geleitet hatte, war von einer Pressekonferenz zur nächsten geeilt. Weber war noch immer froh, dass er damit nichts zu tun hatte. Die Einrichtung der EK war geheim gehalten worden. Man hatte der Presse lediglich gesagt, dass die Geschäfte von Renner und Krüger so weit wie möglich aufgeklärt werden würden. Dass den Ermittlern dabei zahlreiche Unterlagen in die Hände gefallen waren, wurde nicht gesagt.

    Allerdings reichte die Verhaftung von Renner und Krüger möglicherweise bei einigen ihrer Kunden schon aus, um diese in Panik zu versetzen und Maßnahmen zu treffen, um ihre Beteiligung zu verwischen. Weber hoffte inständig, dass sich Renners Kunden nicht zu überstürzten Handlungen gegen die Kinder und Jugendlichen verleiten ließen. Außerdem war noch ein weiterer von Renners engsten Vertrauten, Peter Craig, auf der Flucht. Auch er konnte durchaus andere gewarnt haben.

    Craig hatte sich vor den Verhaftungen abgesetzt und war untergetaucht. Trotz intensiver Fahndungen, konnte er bis jetzt nicht aufgespürt werden. Allgemein wurde vermutet, dass er sich ins Ausland abgesetzt hatte. Derzeit wurde versucht ausländische Konten aufzuspüren, die von ihm angelegt worden waren, um Geld zu verschieben.

    Doch bis jetzt ohne Erfolg.

    16:30 Uhr

    Weber belohnte sich für die erfolgreiche Festnahme Archers mit einem ausnahmsweise pünktlichen Feierabend. Schon um halb vier setzte er sich auf sein Rennrad und startete durch. Das Wetter war noch gut und er freute sich über die Bewegung nach einem Nachmittag vor dem PC.

    Als er zu Hause ankam sah er gerade noch, wie seine Frau mit den Kindern im Auto wegfuhr. Na prima, dachte er. Soviel zu einem schönen Nachmittag mit der Familie. Als er sein Rad in die Garage schob fiel ihm ein, dass sein Sohn Yannik heute Basketballtraining hatte. Dahin waren sie also unterwegs.

    „Hätte ich mal vorher angerufen", dachte Weber.

    Donnerstag, 15.10.2014

    Den ganzen Donnerstagmorgen verbrachte Weber damit den Vorführbericht für Archer zu verfassen. Der entsprechende Termin beim Haftrichter war auf 14 Uhr festgelegt worden. Weber telefonierte noch mit Jaqueline Fähr, man hatte sich bei der Staatsanwaltschaft darauf verständigt, einen festen Ansprechpartner für die Polizei zu benennen. Das machte es einfacher, wenn es um die Zustimmung zu Anträgen für Beschlüsse ging, die für Ermittlungen der EK benötigt wurden. Dies war in den vorliegenden Fällen zwar nur eine Formsache, aber eine die unbedingt eingehalten werden musste, wollte man der Verteidigung keine Angriffsfläche bieten.

    Fähr gab ihre Zustimmung zur Vorführung und Weber vermerkte dies in seinem Bericht. Er las sich das Schriftwerk nochmals durch, druckte es aus und schickte es vorab per Mail an den Haftrichter.

    Um 16 Uhr waren Weber und Chiara wieder zurück im Präsidium und berichteten Schwarzbach von dem Termin. Es war alles ohne Probleme abgelaufen und Archer landete in Untersuchungshaft.

    Eine Aussage hatte er auf Anraten seines Anwalts nicht gemacht, was auch nicht zu erwarten gewesen war. Der Haftrichter hatte bei der Verkündung des Haftbefehls betont, wie abscheulich er die Tat fände und dass Archer keine Chance haben würde gegen Zahlung einer Kaution auf freien Fuß zu kommen. Außerdem ordnete er an, dass Archer in Einzelhaft kommen sollte, um Übergriffe von anderen Gefangenen zu vermeiden. Kinderschänder waren nicht nur im Fernsehen bei den Mitgefangenen unbeliebt, sondern auch im wirklichen Leben. Schwarzbach war sehr zufrieden mit dem Ergebnis und das würden seine Vorgesetzten auch sein.

    Nach dem Gespräch machten Weber und Chiara Feierabend. Sie gingen auf ein Bier in eine Kneipe in der Nähe des Präsidiums. Das hatten sie auch nach der ersten Verhaftung getan und wollten eine Tradition daraus machen. Platz fand das Duo an einem Tisch in einer Nische, beide bestellten Hefeweizen. Als das Bier kam prosteten sie sich zu und nahmen einen tiefen Schluck.

    „Wie geht es eigentlich Leon?" fragte Chiara.

    Sie hatten sich darauf geeinigt beim gemeinsamen Bier nicht über die Arbeit zu sprechen.

    „Es geht ihm soweit ganz gut", antwortete Weber. „Seit dem letzten Anfall ist nichts weiter passiert.

    Er macht sich gut und manchmal habe ich das Gefühl, dass er sich nach jedem Anfall etwas weiter entwickelt. Aber ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zum nächsten Anfall kommt."

    „Und die Ärzte können nichts machen?" fragte Chiara besorgt.

    Weber schüttelte den Kopf.

    „Sie haben ihn jetzt schon mehrfach auf den Kopf gestellt, ohne etwas zu finden."

    Webers jüngster Sohn war mit dem Down Syndrom auf die Welt gekommen. In letzter Zeit hatte er einige Krampfanfälle erlitten, für die die Ärzte keine Ursache zu finden vermochten.

    „Zumindest konnten sie ausschließen, dass es etwas Neurologisches ist."

    Freitag, 16.10.2014; 9:30 Uhr

    Weber und Chiara saßen wieder mit Oskar Schwarzbach zusammen und besprachen das weitere Vorgehen. Schwarzbach wollte über jeden ihrer Schritte genau informiert werden, da er selber diese Infos unmittelbar an den Leiter der Kriminalabteilung 1, Kriminaloberrat Meindl, weitergeben musste, der wiederum den Polizeipräsidenten unterrichtete, welcher selber direkt Bericht beim Innenministerium erstatten musste.

    Der Fall Renner hatte so hohe Wellen in der Öffentlichkeit geschlagen, dass das IM über jeden Schritt Bescheid wissen wollte, um auf Presseanfragen reagieren zu können. Der Innenminister selber wurde an den Pranger gestellt und musste sich unangenehmen Diskussionen stellen. Auch der Bundesinnenminister geriet unter Druck. Das gesamte Verfahren im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wurde in Frage gestellt und sogar die Kanzlerin kam in der Presse nicht mehr gut weg. Man versprach drastische Änderungen, damit so etwas nicht wieder passieren konnte.

    Mehrere Talkshows im Fernsehen, wie „Hart aber Fair und „Maischberger, befassten sich mit dem Thema. Es gab einige Demonstrationen, in denen die Teilnehmer forderten, minderjährige Flüchtlinge und insbesondere Kinder, ohne große Formalitäten aufzunehmen und auf keinen Fall mehr in Heimen unterzubringen. Bis jetzt waren noch keine konkreten Maßnahmen getroffen worden außer der, die Heime und die dortigen Verantwortlichen genauer zu kontrollieren. Beim LKA behielt man sich vor, Maßnahmen gegen Kunden von Renner selbst durchzuführen, sollte sich herausstellen, dass es sich um Leute handelte, die in der Öffentlichkeit stünden. Man wollte im IM nicht riskieren, dass irgendwelche Polizisten aus Bielefeld mit wenig Fingerspitzengefühl an diese Personen herantreten und damit einen noch größeren Wirbel in der Öffentlichkeit auslösen würden, als eh schon geschehen war. Nicht auszuschließen, dass sich auch das IM dann unangenehmen Fragen stellten musste, wie etwa, warum man dieser oder jener Person nicht eher auf die Spur gekommen war und ob nicht sogar etwas vertuscht werden sollte.

    Der Alptraum wäre natürlich, wenn ein Mitarbeiter des IM, oder eine andere bekannte Person aus der Politik, Kunde bei Renner war. Weber hatte sogar eine Zeitlang damit gerechnet, dass das LKA selber die Recherchen übernehmen würde. Aber anscheinend hatte man keine Handhabe gefunden, die Ermittlungen nach Düsseldorf zu ziehen und sich deshalb mit dem Meldeweg zufrieden gegeben. Weber wusste, dass Schwarzbach deswegen stark unter Druck stand. Auch er selbst und Chiara befanden sich im Fokus. Ihm war klar, dass schon ein klitzekleiner Fehler ihn seine Karriere kosten könnte und er dann womöglich nur noch die Fälle ohne Ermittlungsansatz bearbeiten durfte.

    „Was haben wir gegen Welle in der Hand?" fragte Schwarzbach.

    „Welle ist der dritte Kunde von Renner, dessen Daten nicht verschlüsselt waren", antwortete Chiara.

    „Welle hat sich im Januar dieses Jahres ein Mädchen bei Renner „gekauft".

    Chiara malte bei dem Wort gekauft mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft.

    „Es handelt sich um eine 16-jährige, die aus Syrien nach Deutschland geflüchtet war. Welle hat für das Mädchen 25.000 Euro gezahlt. Der Kerl ist 54 Jahre alt, seit drei Jahren geschieden, drei Kinder, alles Mädchen im Alter von 23,20 und 18 Jahren.

    Er lebt allein in einem kleinen Einfamilienhaus am Senner Hellweg. Seine Ex-Frau und die Kinder wohnen in einem Bungalow in Senne. Soweit wir feststellen konnten, hat er derzeit keine feste Freundin. Welle ist Mitinhaber einer Firma, die Spezialkabel unter anderem für den Bau von Flugzeugen und Schiffen herstellt. Zu seinen Finanzen haben wir noch nichts. Die Finanzermittler sind aber an der Sache dran."

    „Welle ist nicht vorbestraft", übernahm Weber.

    „Er wohnt seit 15 Jahren in dem Haus am Senner Hellweg. Vorher haben alle zusammen in einem kleineren Haus in Heepen gewohnt. Das Haus gehört ihm noch immer. Derzeit wohnt dort eine Familie mit einem Kind. Hinweise auf ein weiteres Haus, oder eine weitere Immobilie haben wir derzeit nicht."

    „Gibt es Hinweise, wo er das Mädchen hingebracht haben könnte?" fragte Schwarzbach.

    „Wie heißt sie überhaupt?"

    „Jasina Al Haj", antwortete Chiara.

    „Sie kam Mitte letzten Jahres nach Deutschland und landete im Januar diesen Jahres in Bielefeld."

    „Und wir wissen nicht, wo sie sich derzeit aufhalten könnte", beantwortete Weber Schwarzbachs erste Frage.

    „Dass sie sich in seinem Haus am Senner Hellweg befindet, ist mehr als unwahrscheinlich. Das Gleiche gilt natürlich für sein anderes Haus in Heepen. Wir hoffen, bei der Durchsuchung etwas zu finden was uns zu dem Mädchen führt."

    „Jasina", sagte Schwarzbach.

    „Was?" fragte Weber.

    „Das Mädchen hat einen Namen", keifte Schwarzbach.

    „Sie heißt Jasina. Ich möchte, dass wir die Jungen und Mädchen bei den Vornamen nennen, " sagte Schwarzbach.

    „Diese Schweine haben den Kindern schon ihre Identität genommen. Ich will nicht, dass wir das auch tun."

    Weber und Chiara nickten. Sie kannten Schwarzbach schon seit vielen Jahren, auch wenn er nie ihr direkter Chef gewesen war. Aber so emotional hatten sie ihn noch nie erlebt. Der ganze Fall schien ihm an die Nieren zu gehen.

    „Wie wollt ihr weiter vorgehen?" fragte Schwarzbach nun nach einer kurzen Pause.

    „Wir werden wie abgesprochen das MEK auf Welle ansetzen. Sie sollen ihn ab heute Abend aufnehmen und die nächsten Tage

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