Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Lektionen der Wahrheit
Die Lektionen der Wahrheit
Die Lektionen der Wahrheit
eBook788 Seiten11 Stunden

Die Lektionen der Wahrheit

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wenn der Weg vorherbestimmt ist, treffen wir dann noch unsere eigenen Entscheidungen? Oder sind wir am Ende doch nur hilflose Marionetten?

Die Gefährten um Elaine und Nathan stehen nach dem Kampf bei Cair Ba'radyn einem schwerwiegenden Verrat gegenüber. Kann Nathan seinen Schwur, die Halbelfe zu beschützen, noch einhalten? Eine Reihe von Morden erschüttert die Freie Stadt Centhia. Ist es wirklich ein Monster, wie die Einheimischen vermuten? Was ist das für ein dunkler Pakt, der die Stadt gefangen hält? Und gibt es noch Hoffnung auf Frieden?
SpracheDeutsch
HerausgeberEisermann Verlag
Erscheinungsdatum25. Nov. 2022
ISBN9783961732050
Die Lektionen der Wahrheit

Mehr von Rolf S. Varol lesen

Ähnlich wie Die Lektionen der Wahrheit

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Lektionen der Wahrheit

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Lektionen der Wahrheit - Rolf S. Varol

    Die Lektionen der Wahrheit

    3

    Eisermann VerLag

    Für meine Leser – Niemals aufgeben, wenn es hart wird und nie den Mut verlieren, wenn es schwer ist. Danke euch!

    »Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse,

    aber nicht für jedermanns Gier.«

    — Mahatma Gandhi

    »Aber mein Leben, mein ganzes Leben, wie auch immer es sich äußerlich gestalten mag, jeder Augenblick meines Lebens wird jetzt nicht zwecklos sein wie bisher, sondern zu seinem alleinigen, bestimmten Zweck das Gute haben. Denn das liegt jetzt in meiner Macht: meinem Leben die Richtung auf das Gute zu geben.«

    — Lew N. Tolstoi

    Über Rolf Seyhan Varol

    Gebt ihm eine Tastatur und einen Computer und heraus kommen Welten voll magischer Fantasie, spannungsgeladenen Abenteuern und tiefgründigen Charakteren. Vorstellungskraft allein war nicht genug – Rolf musste schon mit zarten 10 Jahren alles aufschreiben, was ihm in den Sinn kam. Mit Sechzehn begann er seinen ersten Roman. Mit Ende Dreißig veröffentlichte er dann seine erste eigene Geschichte.

    Rolf ist ein Träumer, dessen Visionen sich in seinen Geschichten widerspiegeln. Auf der Grenze zwischen Fantasie und Realität wandelnd, schafft er immer wieder den Sprung von stereotyper Unterhaltung zu außergewöhnlicher Literatur, bei der es einem schwer fällt, sie in Schubladen zu stecken.

    Am Ende spiegelt sich der Autor in seine Büchern selbst wider, denn auch Rolf Varol hat ein bewegtes Leben hinter sich. Mittlerweile lebt und arbeitet er aber neben dem Schreiben als Grafikdesigner in Norderstedt, ist Technik-Freak, liebt gute Bücher, ist ein Film-Fan, kocht leidenschaftlich und wenn es seine Zeit noch zulässt zockt er auch mal das eine oder andere Game. Sein Wunsch ist, dass er mit seinen Geschichten den Leserinnen und Lesern nicht nur gute Unterhaltung liefern, sondern auch eine Welt voller Abenteuer und fantasievollen Erlebnissen geben kann, mit der sie sich nicht nur identifizieren, sondern auch eine spannende Zeit jenseits ihres Alltags erleben können.

    Impressum

    Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

    Print-ISBN: 978-3-96173-154-1

    E-Book-ISBN: 978-3-96173-205-0

    Copyright (2022) Eisermann Verlag

    Lektorat: Andreas März

    Buchsatz: Grit Richter, Eisermann Verlag

    Umschlaggestaltung: Rolf Seyhan Varol

    unter Verwendung von Bilder von

    pixabay.com und von freepix.com

    Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

    Eisermann Verlag

    ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

    Gröpelinger Heerstr. 149

    28237 Bremen

    Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

    Prolog

    Der Morgen war bereits angebrochen und dennoch blieb das Wetter unbeständig und trüb. Wolken hingen am Himmel und türmten sich zu wahren Ungetümen auf. Ein kalter, fast schon schneidender Wind brauste von der Bucht von Centhia herüber und ließ seine alten Knochen noch einmal erzittern.

    Alt? Nun, vielleicht doch etwas übertrieben. Innerlich lachte er kurz auf. Dennoch stimmte es schon, denn seine besten Jahre waren sicher schon weit hinter ihm. Eine Decke aus Ogaro-Wolle hatte er sich überwerfen müssen, um nicht so zu frieren. Es war ungewöhnlich frostig für den Beginn des Grifithon. Sie waren noch mitten im Herbst des Jahres und auf Cair Ba‘radyn fiel der erste Schnee nicht vor Ende des Lunorian. Etwas lag in der Luft. Man konnte es riechen und gleichzeitig wie einen eiskalten Griff um sich herum spüren. Schon seit Sonnenaufgang saß er hier draußen, lauschte dem Wind und dem Gezwitscher der Vögel, die sich allmählich auf ihre Reise gen Süden vorbereiteten. Es war gewiss nicht der erste Herbst, den er erlebte. Aber es war der Erste, bei dem er jetzt schon den Hauch des Winters in seinem Gesicht spürte.

    Seine Atmung ging dennoch ruhig und gleichmäßig. Vom Zustand der Meditation war er jedoch noch weit entfernt, oder er hatte ihn schon wieder hinter sich gelassen. Es war so viel Zeit vergangen, dass es eigentlich auch keine Rolle mehr spielte. Ein Stoßseufzer entfuhr ihm und seine Augen öffneten sich zum ersten Mal, seit er sich hierher begeben hatte. Etwas hatte ihn mitten in der Nacht wach werden und unruhig umherwälzen lassen. Daraufhin hatte er entschieden, dass eine Meditation auf einer der Aussichtstürme das Richtige sei, um seine Ruhe wiederzufinden. Doch diese Vorahnungen ließen ihm auch hier keine Ruhe und erzwangen sich immer wieder den Weg in seinen Geist hinein. Es war beinahe so, als wäre ihm jede Form der Gewalt über seinen Verstand entglitten und etwas Fremdes hätte sich seiner bemächtigt. Auch wenn es nur eine Vorahnung war – sie war mächtig.

    Die getrübten Augen auf den Horizont gerichtet, sah er, wie unruhig die Wellen auf dem Wasser der Bucht schlugen. Weißer Schaum bildete sich, der noch aus der Ferne gut zu sehen war. Seine Stirn legte sich bei dem Schauspiel der Natur in Falten. Auf einmal blies eine starke Böe in sein Gesicht und trieb den grauen Vollbart ein wenig auseinander. Ehe er sich aber versah, saß auf einmal ein kleiner Haussperling auf einer der Zinnen. Das feine Gefieder aus grauen und kastanienbraunen Akzenten leicht aufgeplustert, wirkte das Tier so verloren.

    Gavion wagte nicht, sich zu rühren, um den Vogel nicht zu verschrecken. Doch sein Blick war gefesselt. Der kleine Kerl wippte mit den Schwanzfedern auf und ab, neigte leicht den Kopf, und als er sich in seine Richtung wandte, deutete der Hexer ein dezent schiefes Grinsen an.

    »Na, kleiner Freund!«, begrüßte er den Vogel, als kenne er ihn bereits ewig. »Was hast du mir zu erzählen?«

    Natürlich konnte keine gesprochene Antwort folgen. Stattdessen gab es nur ein melodisches Gezwitscher und einen weiteren neugierigen Blick. »Ich verstehe«, erwiderte Gavion, als hätte der Vogel ihm eine Botschaft überbracht. »Hab Dank.«

    Der Haussperling hüpfte ein paar Schritte auf der Zinne umher, sah noch einmal zum Hexer herüber und dann breitete er in Windeseile die Flügel aus. Die Bewegung war zu schnell für das bloße Auge und schon war das Tier wieder in der Luft. Gavion konnte ihn nur noch davonfliegen sehen. Dann atmete der alte Hexer noch einmal tief ein und schloss erneut die Augenlider. Sein Geist schien zu schweben und dennoch lauschten seine Ohren aufmerksam dem Wind. Das ferne Heulen zwischen den Türmen und Zinnen war wie ein leises Flüstern in einem dunklen Flur. Gavion atmete immer schneller, je mehr er lauschte und je mehr er dabei in sich aufsog. Es war ihm, als hörte er ein fernes Donnern. So als würde ein Sturm aufziehen, den man noch nicht am Horizont sehen, aber dafür bereits hören konnte. Plötzlich blitzte da etwas vor seinem inneren Auge auf. Ein Zeichen, eine Flagge und … ein Ritter – war dies eine Vision? Oder war das eine Prophezeiung? Aufgeregt schreckte Gavion auf.

    Da hörte er auf einmal hastige Schritte auf dem steinernen Boden und wie mehrere Personen, die Stufen zu den Zinnen empor eilten. Gavion rührte sich nicht, sondern bemühte sich, in dem Chaos aus Geräuschen noch immer ein Ohr in den Wind zu halten und zu lauschen. Etwas musste jemanden ziemlich aufgebracht haben, dachte er sich.

    »Gavion!«, rief eine vertraute Stimme zu ihm hinauf und sorgte dafür, dass seine Mundwinkel etwas nach oben wanderten. »Da seid Ihr ja. Wir haben Euch schon überall gesucht.«

    Es war der Ordensführer, der mit drei weiteren Personen nun direkt neben ihm stand und auf den Meister-Hexer herabblickte. Hektisch wedelte er mit einem losen Stück Papier in seiner Hand vor Gavions Gesicht herum. »Lest das!«, beschwor er den Großmeister der Hexer eindringlich. Doch statt der Aufforderung nachzukommen, sog Gavion noch ein letztes Mal die morgendliche Luft in seine Lungen und erhob sich dann langsam von seinen Knien. Erst jetzt bemerkte er, wie steif seine Gelenke geworden waren – trotz des Trainings. Die Jahre schienen selbst vor einem Hexer keinen Halt zu machen.

    »Ich weiß, Holofernes«, erwiderte Gavion mit bemerkenswerter Ruhe in der Stimme. »Ich hörte es bereits.«

    Elmendorn sah ihn verwundert an. »Woher … ?«

    »Ein Vöglein hat es mir gezwitschert«, grinste Gavion entspannt und deutete mit einer Bewegung in die Luft. »Ihr wäret überrascht, was man alles hört, wenn man nur dem Wind lauscht.«

    Der Großmeister wirkte im gleichen Maße überrascht und ungehalten. Jetzt war nicht die Zeit für solche Scherze. Verärgert knitterte er das Blatt in der Hand zusammen und seine Stirn lag in tiefen Falten.

    »Gavion«, knurrte er missmutig, »wir haben wahrlich keine Zeit für so was. Die Lage ist ernst. Unsere Späher berichten, dass die rhevarische Armee gegen uns zieht. Sie sollen bereits die Passage bei Ronans Zwillingen durchquert haben und sich ihren Weg durch die Cyntrischen Wäldern bahnen. Bestenfalls noch ein paar Stunden, dann werden sie vor Cair Ba’radyn stehen.«

    Der Meister-Hexer nickte und faltete dabei seine Wolldecke zusammen. »Das ist bei Weitem nicht alles«, erklärte er lediglich beinahe schon beiläufig. »Über das Wasser kommen Schiffe mit weiteren Truppen aus Menareth. Sie bringen damit ihre Kriegsmaschinen hierher.«

    »Hat Euch das auch ein Vöglein verraten?«, erkundigte sich Elmendorn ironisch. Gavion sah hoch und wirkte dabei so kühl und nüchtern.

    »Nein, mein gesunder Menschenverstand«, erwiderte der Meister-Hexer unbeeindruckt. »Oder wie sonst würdet Ihr Katapulte oder Triböcke durch das Dickicht der Wälder schaffen? Es bleibt nur der Weg über das Wasser.«

    Elmendorn nickte anerkennend.

    »Beim Birkenlaub, ich kann immer noch nicht begreifen, warum Konstantins Armee uns angreifen will«, fasste Farindur – ein elfischer Geomant – seine Bestürzung in Worte. »Wir waren nicht schuld daran, was geschehen ist. Warum wollen sie uns zerstören?«

    »Elynia hatte recht«, warf Mediha dazwischen und in ihren Augen lag schiere Furcht vor dem Kommenden. »Sie hat uns gewarnt.«

    »Der Grund ist jetzt unerheblich«, unterband Elmendorn jeden weiteren Ausbruch von Angst. »Es gibt zurzeit wichtigere Dinge. Es leben hundertdreißig Gelehrte in Cair Ba’radyn – zum Teil sogar mit ihren Familien. Wenn es zum Kampf kommt, dann sind sie alle in Gefahr. Ihre Sicherheit muss unsere oberste Priorität sein.«

    »Wer führt den Zug an?«, fragte Gavion ernst. Elmendorn wandte sich um.

    »Unsere Späher berichteten, dass Paladin de Wittenberg die Armee anführt.«

    Gavion wirkte überrascht. »Vielleicht besteht ein wenig Hoffnung – obgleich es mich wundert, dass nicht General Ciaran Grimaldi den Angriff anführt«, erklärte der Meister-Hexer überrascht und zugleich erleichtert. »De Wittenberg bin ich vor Jahren schon einmal begegnet – ganz kurz. Er gilt als ein vernunftbegabter und offener Mann. Sicherlich wird er vernünftigen Argumenten Gehör schenken.«

    »Ihr wollt mit denen verhandeln?«, brach es aus Armand heraus. Der Quasiiri-Zauberer war ebenfalls Mitglied im Rat der Acht und der dritte von Elmendorns Begleitern. Vielen hielten ihn noch für zu jung, doch genoss er einen guten Ruf als talentierter Zauberer. Mit den dunklen, lockigen Haaren und dem tiefgebräunten Teint wirkte er nicht wie ein Mann des Geistes, eher wie ein Straßenjunge in feiner Kleidung. Erlebte man ihn jedoch in seinem Element oder hörte man die Weisheit in seinen Worten, würde nur ein Narr seine Fähigkeiten anzweifeln wollen. Gavion hatte trotz des großen Altersunterschieds zwischen ihnen einen großen Respekt vor dem jungen Mann.

    »Nun … wenn Ihr einen besseren Weg im Kampf seht …«, bot Gavion ihm das Gegenargument an und seine Stimme war dabei unheimlich ruhig. Armand schien ein Kommentar auf der Zunge zu brennen, aber er beließ es bei einem zerknirschten Gesichtsausdruck.

    »Gavion«, erweckte Elmendorn erneut seine Aufmerksamkeit, »ich habe nur eine Frage an Euch: Können Eure Hexer uns beschützen?«

    Der alte Großmeister ließ seinen Blick einmal durch die Reihe gehen, bevor er wieder zum Großmeister sah. »Gegen die halbe Armee Rhevars? Wir werden sehen.«

    »Das ist keine zufriedenstellende Antwort«, erwiderte Elmendorn ärgerlich und sein Bart bebte leicht.

    Doch Gavion sah stattdessen hinaus auf die See. »Es könnte der Moment kommen, an dem wir Cair Ba’radyn aufgeben müssen.« Mediha wirkte erschrocken über diese Aussage.

    »Das ist doch unser Zuhause. Holofernes, was sollen wir denn nur tun?«

    Aber Elmendorn nahm sie gar nicht wahr, sondern fixierte mit einem flackernden Blick Meister Gavion.

    »Es gibt jene, die bereit wären, für unseren Orden ihr Leben zu lassen, Großmeister«, brachte Farindur mit ein und in seinen elfischen Zügen war mehr als nur schiere Logik zu erkennen.

    »Der Tod ändert gar nichts«, ergänzte Armand schließlich besonnen. »Wir alle müssen uns der allmächtigen Schöpfung und dem Willen der Propheten eines Tages stellen. Doch warum dies für ein paar leblose Steine tun?«

    »Keiner wird hier sterben«, polterte Elmendorn auf einmal los. »Gavion hat seine Meinung geäußert, mehr nicht. Wir werden Cair Ba’radyn nicht so ohne Weiteres aufgeben. Solange wir noch Atem in der Brust haben, werden wir der Macht der Gewalt entgegenstehen.«

    Sein Blick ging endlich wieder zu den anderen. »Gewiss gibt es unter uns manche, die gerne ihre Fähigkeiten gegenüber der Armee von Rhevar messen wollen, Farindur. Aber ich ordne kein Massaker an. Nicht, wenn es Hoffnung auf eine friedvolle Verhandlung gibt.«

    »Und was, wenn unsere Feinde nicht verhandeln wollen?«, fragte Mediha besorgt.

    Elmendorn bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick und sah dann zu den beiden anderen herüber. Auch in ihren Gesichtern konnte er die gleiche Besorgnis ablesen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Seit fünfhundert Jahren hatten sie keine Schlachten geschlagen oder gar gegen irgendjemanden kämpfen müssen. Vor der Gründung des Ordens waren viele Zauberer auf den Schlachtfeldern anzutreffen, um die Truppen zu unterstützen. Doch nur wenige wagten sich heutzutage noch in solche Lagen – Hofzauberer ausgenommen. Würden die Mitglieder des Ordens kämpfen wollen? Und was war mit jenen, die kein Schwert halten oder sich nicht mit Angriffsmagie wehren konnten? Er trug die Verantwortung, für jene die Sicherheit zu gewähren. Konnte er das denn überhaupt noch? Sein unterschwellig wehmütiger Blick glitt auf den Burghof.

    »Trefft alle Vorbereitungen, um Cair Ba’radyn zu befestigen. Wir … ziehen in den Kampf.«

    Seine Worte schienen so hohl zu klingen. In Elmendorns Gesichtszügen blieb die Leere zurück, die er in sich fühlte. Doch Mediha hatte einen gewichtigen Punkt herausgestellt. Sie waren keine Krieger. Keiner von ihnen war das. Alles Männer und Frauen des Geistes – Zauberer, Forscher, Gelehrte … das und nichts anderes waren sie. Sie rannten nicht mit wehenden Bannern auf ein Schlachtfeld, die Waffe empor und den Kampfschrei wild auf den Lippen getragen. Keiner hier würde wahrhaftig einen heroischen Tod sterben wollen. Keiner würde sich freiwillig in ein Schwert stürzen wollen. Und doch würde er es von ihnen verlangen können, denn niemand wollte den Orden der Cen’darii untergehen sehen. Keiner wollte das. Keiner von ihnen.

    Kapitel 1

    Der Wink eines Schmetterlings

    Er hatte es wieder getan.

    All das Blut, es verklebte seine Hände und hinterließ einen unangenehmen Film auf seiner Haut – oder das, was er seine Haut nannte. Seine Finger fühlten sich taub an, so als wären sie abgestorben. Doch das war nur eine Illusion. So wie es eine Illusion war, dass ein Teil seiner selbst mit jedem weiteren Leben, das er auslöschte, absterben würde. Wie konnte etwas absterben, das bereits seit Jahren tot war? Wie sollte es denn etwas geben, das ihn noch erinnern würde, wie er früher einst gewesen war? Nichts war geblieben, nur der Schmerz, der Ekel und die Furcht vor dem nächsten Tag. Wenn die Sonne aufging, ruhte er, und wenn die Monde sich über den Horizont erhoben, wachte er auf. Es war kein Leben mehr. Tage vergingen und stumme Schreie erfüllten seine Stunden. Schreie nach noch mehr Vergeltung und noch mehr Blut, aber auch nach einem Ende von all dem Schrecken und dem Wunsch nach Frieden.

    Wieder hatte er es getan.

    Es war beinahe zu einfach gewesen. Sich zu verstecken und dann aus dem Hinterhalt zu hoffen, aus dem Versteck heraus zu töten und zuzusehen, wie das Leben aus der gepeinigten Seele entwich. Er hatte gewartet, bis niemand mehr da war und sich dann in einer Ecke versteckt. Keiner wusste um seine Anwesenheit, wie sollten sie. Er konnte sein, was er wollte und sich verkleiden, wie es ihm beliebte. Im Mantel der Nacht gehüllt, da wartete er und schuf für seine Feinde ein Grauen, das jenseits von dessen lag, was sie als Hölle bezeichneten.

    Warum auch nicht, denn sie hatten ihm alles genommen – alles!

    Sein Opfer war gekommen und wie der Wolf auf ein verirrtes Wild lossprang, so hatte er auf den rechten Moment gewartet, um seine Beute anzufallen. Sie hatte ihn erkannt. Sie hatte gewusst, wer er war. Der Schock in den weit aufgerissenen Augen und die ersten Worte der Verwunderung und der Irritation. Dann folgte der Schrei des Entsetzens, wenn ihnen klar wurde, was ihnen blühte. Und gleich darauf erhob sich der verzweifelte Ruf nach Hilfe, der in einem Meer aus Blut erstickte. Niemand würde kommen und noch helfen, niemand würde es wissen. Denn er kam wie die Nacht über die befleckten Seelen. Jene, die ihr Leid auf andere gossen und dann das andere Leben zerstörten, um ihr eigenes zu retten.

    Er war ein Rächer. Eine sagenhafte Heldengestalt, wie in den Märchen, welche er früher so geliebt hatte. Seine Leute kannten keine Geschichten und darum hatte er sie bei den Menschen so bewundert. All die wundersamen Legenden und die Mären über Abenteuer, Romantik und Freiheit – nichts bereitete ihm mehr Freude, als darüber zu lesen. Aber auch das hatten sie ihm genommen. Früher hätte er seinen Kindern etwas vorgelesen, doch wie sollte er denn? Denn wie sollte totes Fleisch noch hören? Wie sollten tote Augen sehen? Und wie sollten verblichene Seelen noch Freude empfinden? Seine Seele war auch schon verblichen. So fühlte es sich an. Es war ein Halbleben und hatte nur noch einen Zweck: Rache! Die pure Essenz dessen, was er war und was er von nun an nur noch sein würde, bis zum Ende der Zeit oder dem Ende seiner Rache. Aber … gab es dafür ein Ende? Würde er aufhören können, wenn der Moment gekommen sei, da alle seine Feinde im Jenseits ruhen würden? Tod führte zu noch mehr Tod, denn es würde niemals genug sein, niemals vorbei sein. Wenn man ihn finden würde, dann müsste er sein Leben schützen. Er müsste wieder und wieder töten, nur um sein Werk zu beenden. Doch dann würde es ein endloser Albtraum werden, denn wie gesagt: Tod führt immer wieder zu noch mehr Tod.

    Er schloss seine Augen – auch wenn er das eigentlich nicht tun musste – und vor seinem Geist erschienen die Bilder erneut. Er hoffte so sehr, dass, wenn er seine Augen wieder aufschlug, seine Tochter vor ihm stehen und ihn anlächeln würde – nur um dann mit ihm zum Takt einer Melodie zu tanzen. Aber was er sah, als er dann endlich wieder wagte, die Augen zu öffnen, waren nur nackte, dunkle, kalte Steinwände. Von oben drang spärliches Mondlicht herein. Die Drei-Neumond-Eklipse würde in einigen Tagen beginnen und alles Licht der drei Trabanten ersterben lassen. Aber es war auch eine Wiedergeburt – etwas, das aus der Asche der Vergangenheit heraufstieg und zu Neuem geboren wurde. Fast fühlte er sich, wie ein Teil davon. Doch für ihn würde es keine Wiedergeburt geben. Nicht für ihn. Nein.

    Für ihn würde es niemals eine Hoffnung mehr geben. Denn er hatte getötet und seine Seele damit befleckt. Niemals würde er sich selber vergeben können, auch wenn es nur aus dem Wunsch heraus entstanden war, einfach nur zu leben. Er wollte sein Leben zurück. All diese Toten würden das aber nicht hervorbringen können und somit blieb ihm nur, die Leere zu füllen mit dem einzigen, dass noch einen Sinn ergab: Rache!

    Sein Werk musste getan werden. Die Lektion, die ein jeder Mensch lernen musste und die ihnen endlich vor Augen führen sollte, wie verdorben ihre eigenen kleinen Seelen waren. Wie wenig sie das begriffen, was ihnen so Angst machte – nur weil es anders war als sie. Warum konnten sie nicht einfach verstehen? Warum nicht begreifen, was diese Welt war? Warum hatten sie ihn so werden lassen und warum ihm alles genommen, das ihm einen Sinn im Leben gab? Doch eine Antwort darauf gab es einfach nicht. Vielleicht würde es sie nie geben, vielleicht waren die Menschen einfach so erbärmlich, wie er sie einschätzte. Doch darum würde das Leid auch nicht weniger werden. Es würde nicht enden, bis eines Tages die Welt verstünde, was aus ihm geworden ist. Nur dann würde er seine Erlösung vielleicht erhalten, würde mit seiner Familie wiedervereint werden und endlich all das Blut und den Schrecken vergessen können. Aber was, wenn dieser Tag niemals kommen würde? Er seufzte noch einmal und erinnerte sich an das Bild, wie er von dem Hügel auf das Anwesen zurückgeschaut hatte. Bald schon würden sie sein Werk betrachten und dann abermals begreifen, dass es keinen Platz auf dieser Welt gab, an dem er nicht auf sie warten würde. Keinen Ort, wo er nicht sein kann. Keinen … nirgendwo.

    Sein Körper fühlte sich an, als hielte ihn eine unsichtbare Hand fest im Griff. Etwas presste seine Glieder eng an seinen Rumpf und verhinderte mit einer ungeheuren Kraft, dass er auch nur einen Muskel rühren konnte. Seine Augen waren dennoch in der Lage, trotz des immer spärlicher werdenden Lichts zu sehen. Verzweifelt hatte er mit ansehen müssen, wie man Elaine hinausgetragen hatte und wie sie nun begannen, die Öffnung zu verschließen, durch welche er und die anderen das Gewölbe unterhalb von Cair Ba‘radyn betreten hatten. Sein Herz pochte, und das trotz der Starre so heftig, dass es ihm beinahe die Brust zu zerreißen drohte. Er wollte ihnen folgen. Sie retten. Doch seine Beine wollten nicht gehorchen. Nur noch wenige Augenblicke und sie würden für die Ewigkeit in dieser kalten Gruft eingeschlossen werden.

    Doch auf einmal spürte er, dass wieder Leben in seine Glieder fuhr. Die Wirkung des Paralysezaubers ließ wohl nach, denn auch Connor und der Professor konnten sich wieder bewegen.

    »Schnell!«, rief der Hexer, als er auf die Knie gesunken war. »Wir müssen sofort hier raus.«

    Er sprang wieder auf die Beine und half noch schnell dem Professor hoch, dann eilten sie auch bereits in Richtung des Ausgangs. Je näher sie kamen, desto lauter wurde das Zischen der abbrennenden Lunten. Nathan spornte die beiden hinter sich an, dann sprang er auch schon durch den Zugang hindurch zurück in die Bibliothek. Der Aufprall auf dem Boden presste dem Hexer die Luft aus den Lungen. Hastig versuchte er, sich wieder aufzurappeln, und fuhr dann kniend herum. Er schlug die Handflächen zusammen und konzentrierte seine Macht darauf, einen arkanen Schild aufzubauen. Keinen Deut zu früh, denn genau in diesem Augenblick sprangen Connor und der Professor aus dem Zugang heraus. Mit einem letzten Satz eilten die beiden hinter den Hexer – schon zündeten die Fässer. Eine heiße Feuerwelle rauschte über die drei hinweg und riss dabei die halbe Bibliothek mit sich. Die bröckelige Wand dahinter zerbarst unter der Gewalt der Explosion. Überall brannte es – doch sie waren gerettet. Für den Moment, denn sofort richtete sich der Hexer wieder auf. Sein Blick ging herüber zum Eingang der Bibliothek. Gwen und der General konnten noch nicht weit weg sein.

    Als sie durch das eingefallene Tor des Bergfrieds rannten, bemerkten sie zu spät, dass noch eine Wache zurückgeblieben war. »Schnappt euch den Ketzer!«, brüllte er los und zeigte auf Nathan.

    Die übrigen Gardisten reagierten im gleichen Atemzug und rannten zurück auf den Burghof. Nathan wirbelte mit präziser Kraft sein Schwert herum. Connor hatte bereits angelegt und schoss zwei der Tempelgarde mit seinen Pfeilen in die Brust. Doch der Ansturm war zu groß und so fand sich der Hexer als erster in einem Schwertkampf wieder. Die anderen rannten auf Connor und den Professor zu und der Waldläufer warf sich sogleich vor den Gelehrten, um ihn zu schützen. Doch einer der Soldaten riss sich schließlich los und kam auf Nadeya zu. Der Professor wich erschrocken zurück und stieß gegen einige alte Waffenschilde, die an der Wand hingen. Sofort griff er geistesgegenwärtig nach einem und schmiss es auf den Mann, dann das zweite und noch ein drittes.

    Der Hexer konnte derweil mit seinem Schwert einen schweren Hieb abblocken und wirbelte in einer halben Drehung um den Arm des Gardisten. Irritiert wandte der Mann seinen Kopf herum und wurde auf einmal von Nathan geblendet, als dieser einen Lichtfunken über seine Klinge tanzen ließ. Mit einem gezielten Schlag ins Gesicht raubte er dem Geblendeten das Bewusstsein.

    Connor hatte die Kampftaktiken der Ankarii gut studiert und konnte zwei Gardisten auf einmal in Schach halten. Mit dem Lauf seines Gewehrs hielt er den Schlag des einen Schwerts ab, während er sich gleichzeitig hinkniete und mit dem Bein dem anderen die Füße wegzog. Der Gefallene versuchte, sich aufzurichten, wurde aber vom Hexer erwischt, als dieser ihm sein Schwert in die Brust rammte. Connor schaltete dessen Kameraden aus, indem er herumwirbelte, ihm den Fuß ins Genick trat und dann einen letzten Schuss aus seinem Gewehr abgab. Kaum hatten sich Nathan und Connor umgedreht, sahen sie, wie der Professor dem letzten Gardisten einen stattlichen Kinnhaken verpasste, sodass dieser unbeholfen zu Boden ging. Er blickte auf und schaute in die überraschten Gesichter von Nathan und Connor.

    »Habt ihr denn geglaubt, ich hätte meine Nase immer nur in Bücher gesteckt?«, sprang es amüsiert über Nadeyas Lippen, bevor es ihm wieder einfiel. »Elaine!«, rief er aufgeregt und rannte sofort los – gefolgt von Connor und dem Hexer.

    Sie erreichten wieder den Burghof. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie man Elaine im Innenhof aufgestellt hatte. Die drei sahen auch, dass General Morane und Gwenaelle in eine hitzige Diskussion verstrickt waren.

    »Verdammte Ausreden«, bellte er der Zauberin zu. »Wozu bist du nütze, wenn du uns nicht einmal hier wegbringen kannst? Ich will so schnell es geht nach Engerthal zurück.«

    »Und ich habe dir erklärt, dass es nicht so einfach geht«, giftete Gwenaelle zurück. »Ohne Portaltrajektor kann ich nun einmal kein Portal öffnen, das groß genug für uns alle wäre – schon gar nicht über eine solche Distanz.«

    Morane trat auf einmal dich an sie heran. »Dann frage ich mich, wofür wir dich noch brauchen, Hexe!«

    »Vorsicht, Morane«, betonte die Zauberin bissig, »ich helfe dir – doch das bedeutet nicht, dass ich mich herumkommandieren lasse, wie einer deiner Männer. Wenn du nicht als Echse zurück nach Engerthal reisen möchtest, dann werden wir diese Angelegenheit so regeln, wie ich es für richtig halte. Verstanden?«

    Doch der General schüttelte den Kopf und sein Auge flackerte leicht. »Nein, Lady Gwenaelle«, erklärte er dann gefasst, »es geschieht, wie ich es will. Und solltest du dich weiter verweigern, dann steht es dir frei das Schicksal von Nathan Cartwright zu teilen – falls das dein Wunsch ist.«

    Der Hexer kauerte sich hinter einem großen Stück abgebrochener Mauer, während er das Gespräch weiter belauschte. Seine Augen suchten die Umgebung ab und versuchten sich einen Überblick über die Anzahl der Gegner zu machen. Anscheinend hatte Connor sich geirrt, es mussten weit mehr als ein Dutzend hier sein. Denn mit denen, die sie eben in dem Bergfried ausgeschaltet hatten, waren hier noch mindestens vierzehn weitere. Ein offener Kampf würde ein erhebliches Risiko bergen, vor allem jetzt, da Morane eine Zauberin auf seiner Seite hatte. Und solange Gwenaelle den Fluch nicht von Elaine genommen hatte, war sie in Gefahr. Er musste sie irgendwie zwingen, sie zu befreien.

    »Worauf warten wir noch?«, zischte der Professor aufgeregt, als er seine Tochter erkannte.

    »Es ist zu gefährlich«, raunte Nathan zurück und beobachtete dabei weiter die Gardisten. »Wir müssen zunächst versuchen ungesehen näher heranzukommen und dann Gwen irgendwie dazu bringen, dass sie den Fluch von Elaine nimmt.«

    »Solange kann ich nicht warten«, rief Nadeya aufgeregt und sprang plötzlich auf. Nathan wollte ihn noch zurückhalten, doch es war bereits zu spät. Der Professor kam aus der Deckung hervor und der General und die Zauberin fuhren beide überrascht herum. Gwen sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen, doch Morane grinste nur gelassen – so als hätte er die Flucht irgendwie schon erwartet.

    »Alan?«, stieß die Zauberin ungläubig hervor.

    »Professor Nadeya«, begrüßte Morane ihn amüsiert. »Ich hätte es wissen müssen. Wo habt Ihr denn meinen Freund den Hexer?« Nathan hielt einen Augenblick inne, doch es war sinnlos, sich zu verstecken. Also kam auch er schlussendlich aus der Deckung hervor. Fast zeitgleich gingen zahlreiche Armbrustpfeilspitzen in seine Richtung. Die Aufmerksamkeit, die der Hexer erzeugte, war Connor recht gekommen und er hielt aus der Deckung heraus den einen oder anderen der Gardisten im Visier.

    »Warum fällt es dir so schwer, einfach nur zu sterben?«, fragte Morane abfällig.

    Nathan schwieg und musterte ihn. »Lasst Elaine frei!«, rief der Professor aufgeregt.

    Gwenaelle wollte sich rühren, aber der General hielt sie zurück.

    »Ich denke, dass Ihr verstehen werdet, dass wir das nicht tun können. Aber … wir können dafür sorgen, dass Ihr nicht so viel leiden müsst, Professorchen. Dann fällt Euch zumindest der Abschied nicht so schwer.«

    Nathan erkannte auf einmal, dass die Zauberin eine Tasche bei sich trug, aus der die Karte des Wanderers zusammen mit dem Siegelstein herausschaute. Das Spiel war also noch nicht gänzlich verloren. Doch sie ihr abzunehmen, würde gewiss nicht einfach werden. Sie war eine Zauberin und damit weit mächtiger in Sachen Magie als ein Hexer. Und trotz allem, was sie getan hatte, zögerte er noch, Gewalt gegen sie einzusetzen. Er fühlte sich ohne Frage verletzt und gedemütigt. Aber irgendwo tief in ihm war eine Stimme, die noch besonnen sprach – obwohl an der Oberfläche schiere Wut kochte. Sein Blick ging wieder zu Morane herüber.

    »Den Professor zuerst«, rief der General seinen Männern zu, die auf Nadeya zielten.

    »Das würde ich schleunigst unterlassen, wenn ich du wäre, Bursche«, warf eine raue Stimme völlig unerwartet dazwischen. »Es sei denn, mein Freund hier soll dich und deine Männer auf eine schöne Reise schicken.«

    Nathans Blick ging überrascht hinauf zu der alten Festungsmauer. Dort im Halbdunkel sahen sie alle eine imposante Gestalt neben einer Art von kleiner Kanone stehen, die auf den General zielte.

    »Wer bist du?«, knurrte Morane ärgerlich. Der Mann hob seinen mächtigen Säbel an und legte dann die Klinge auf seine Schulter, während er sich mit einem Bein auf dem Sockel der Kanone abstützte. Ein breites Grinsen ging durch den zotteligen Vollbart.

    »Man nennt mich Sean Arran Fionnlagh Ardaer«, rief der Bärtige herunter und griente. »Aber Ihr, Sir, dürft mich gerne ›Captain‹ rufen.«

    »Der Captain«, raunte Nadeya und sah zu Nathan herüber, der urplötzlich so ein gewinnendes Funkeln in den Augen hatte.

    »Schön, ›Captain‹ Ardaer«, wiederholte Morane schließlich mürrisch, »warum also sollte ich diesen Mann nicht exekutieren?«

    »Weil, mein junger Freund, genau auf deine Position der Lauf dieser hübschen kleinen Waffe gerichtet ist und diese genug Feuerkraft hat, um unter deinem Hintern einen mannsgroßen Krater zu sprengen – falls mein nervöser Kamerad hier beschließen sollte, sie abzufeuern.«

    Im gleichen Moment schaute Bram hinter dem Abzug hervor und nickte dem Hexer zu. Gwenaelle wollte gerade ihre Hände zu einer Beschwörung heben, als der Captain seinen Säbel in ihre Richtung hielt.

    »Ah, ah«, rief er mahnend, »das würde ich nicht tun, wenn ich du wäre, meine Liebe. Wenn dir etwas an deinem hübschen Gesicht liegt, dann denk nicht einmal daran auch nur eine Formel zu murmeln.«

    Die Zauberin nahm sich widerwillig zurück. Morane wirkte alles andere als begeistert, aber er gab dennoch seinen Männern hinter ihm ein Zeichen, ihre Waffen zu senken.

    »Was wollt Ihr, ›Captain‹?«

    »Was sind wir auf einmal so vernünftig, General«, antwortete Ardaer amüsiert. »Nun, fürs Erste will ich, dass meine Freunde unbeschadet freikommen. Oh … und natürlich wird die kleine Elfendame ebenfalls mit uns kommen. Mein Freund bleibt so lange hier stehen, bis wir in Sicherheit sind. Erst dann erlaubt er Euch und Euren Männern wieder zu atmen und euch in die Hosen zu machen. Haben wir uns soweit verstanden?«

    Der General kniff die Augen zusammen und knirschte leise mit den Zähnen. Dann sah er zu Gwenaelle herüber und gab ihr ein Zeichen. Sofort gehorchte sie und begann den Zauberbann über Elaine zu lösen. Die Halbelfe war kaum befreit, da fiel sie bereits kraftlos auf ihre Knie. Der Professor rannte zu ihr und half ihr sogleich auf die Beine.

    »Was ist geschehen?«, stöhnte Elaine verwirrt, bevor sie Gwenaelle neben sich erkannte. Augenblicklich verfinsterte ihr Blick sich wieder.

    »Ihr habt nun was Ihr wolltet, Captain«, meldete sich General Morane zu Wort. »Was nun?«

    »Ganz ruhig, mein lieber General«, erwiderte Ardaer besonnen. »Wir wollen doch nicht nervös werden. Nathan, nimm die beiden und verschwinde von hier.«

    Der Hexer sah zu Elaine herüber. »Die Karte und der Siegelstein«, rief er und deutete auf Gwens Tasche.

    Die Halbelfe verstand sofort und griff hinein. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck sah sie dabei der Zauberin direkt in ihre Augen.

    »Ihr habt doch nichts dagegen?«, fragte Elaine provokant.

    Gwenaelle schwieg und ließ alles wortlos über sich ergehen. Kurz darauf führte der Professor seine Tochter in Richtung des Hexers. Leider ließ sich Captain Ardaer zu einem unachtsamen Moment hinreißen, als er die beiden im Blick behielt, anstatt auf den General zu achten. Die Gelegenheit nutzte Morane aus und griff sich die Armbrust eines Gardisten und zielte damit direkt auf Bram. Der Pfeil sauste blitzschnell durch die Luft und traf den Zwerg mitten in die Schulter. Bram wurde dadurch nach hinten geworfen und stolperte gegen einen Teil der Zinnen.

    Als hätte jemand zuvor mit einem Zauber die Zeit angehalten, ging alles auf einmal so schnell vonstatten. Mit einem wütenden Befehl ließ der General das Feuer eröffnen und Gwenaelle begann fast zeitgleich einen magischen Angriff auf den Hexer. Professor Nadeya konnte gerade noch rechtzeitig mit Elaine hinter ein Mauerstück springen und Schutz suchen, bevor ein verirrter Blitz neben ihnen einschlug.

    Captain Ardaer stieß einen lautstarken Kampfschrei aus und sprang von den Zinnen herunter auf den Innenhof. Mit seinem imposanten Säbel hoch erhoben, stürmte er auf die herannahenden Gardisten zu und schlug schon mit dem ersten Hieb einem die Armbrust noch während des Ladens aus den Händen.

    Der Hexer war den Pfeilen mit einem Sprung zur Seite ausgewichen, erkannte aber, dass die Zauberin sich dem Professor und Elaine näherte. Ihre magischen Blitze rissen immer mehr von dem schützenden Mauerwerk beiseite. Gwens Augen leuchtenden weiß auf und ihr Gesichtsausdruck glich dem einer Furie.

    Nathan erkannte ein Stück der oberen Zinnen und begann seine Kraft darauf zu fokussieren. Das Mauerstück bewegte sich zögerlich und hob dann ab. Mit voller Wucht schleuderte er es zwischen der Zauberin und seinen Freunden vorbei, sodass Gwens letzter Zauber abgelenkt wurde. Das gab dem Professor und Elaine genügend Zeit, um zu fliehen, und sie suchten im verfallenen Bergfried Zuflucht.

    Die Zauberin warf dem Hexer einen rasenden Blick zu. »Morane hatte recht, Nathan«, keifte sie wütend,»du hättest dich raushalten sollen. Aber du kannst es nicht, nicht einmal wenn dein armseliges Leben davon abhängt.«

    »Noch kannst du umkehren, Gwen«, beschwor Nathan die Zauberin. »Noch können wir dir vergeben und so tun, als wäre nichts gewesen. Du musst dich nur für die richtige Seite entscheiden.«

    Doch sie schüttelte nur den Kopf. »Glaubst du, er wird mich nicht jagen? Denkst du, er wird es vergessen? Ich habe einen Pakt mit dem Bösen geschlossen, Nathan. Der Tribut ist mein Leben.«

    Der Hexer wollte nicht so ohne weiteres aufgeben, aber bevor er etwas sagen konnte, riss ihn etwas von den Beinen. General Morane war herangestürmt und hatte Nathan mit voller Wucht beiseite gestoßen. Das Schwert des Hexers war neben ihm auf dem Boden gelandet.

    »Bring mir die Teile zurück!«, bellte der General der Zauberin hinterher und deutete in die Richtung, in welche Elaine und der Professor verschwunden waren. »Und komm ja nicht ohne sie wieder.«

    Sie nickte ihm entschlossen zu und begann sich umgehend in einen Raben zu verwandeln. Dann flog die Zauberin in Richtung des Bergfrieds, während General Morane sich wieder Nathan zuwandte. Durch den Schlag hatte der Hexer für einen kurzen Augenblick die Orientierung verloren und sein Kopf klarte erst jetzt langsam wieder auf. Geistesgegenwärtig griff er nach seinem Schwert und erhob sich, so schnell er konnte wieder. Mit dem Griff fest um das Schwertheft trafen sich die Blicke der beiden Kämpfer. Die Luft prickelte, als sei ein Gewitter ausgebrochen. Über die Schulter des Generals hinweg konnte Nathan sehen, wie Captain Ardaer sich gegen die restlichen Gardisten schlug. Ein Teil von ihm wollte dem Captain zu Hilfe eilen, doch ein weit größerer Teil von ihm wollte Morane nicht mehr davonkommen lassen. Gerade rechtzeitig hatte sich wohl Connor losgesagt und stand jetzt Ardaer im Kampf zur Seite. Zufrieden grinsend ging sein Blick wieder zum General.

    »Dein Vorhaben ist gescheitert«, erklärte der Hexer. »Gib endlich auf und niemand muss mehr sterben.«

    Morane grinste selbstgefällig. »Hier muss auch nur noch einer sterben … «

    Im gleichen Atemzug zog er sein Schwert aus der Scheide und hob die Spitze dem Hexer entgegen. Auf seinem Gesicht spiegelte sich ein wölfisches Lächeln wider. Langsam trat Morane zur Seite und die beiden begann sich gegenseitig zu umrunden – stets mit dem wachsamen Blick auf jede Bewegung des Gegenübers.

    »Weißt du, worauf ich mich schon die ganze Zeit gefreut habe?«, fragte Morane mit triumphierender Stimme.

    »Sag es mir«, erwiderte Nathan.

    »Dir endlich deine dämliche Visage zu zerhacken.«

    Der Hexer hob sein Schwert ein Stück höher. »Worauf wartest du dann?«

    Wie von Sinnen sprang Morane auf Nathan zu und beide Schwerter trafen mit einem Klirren aufeinander. Die Bewegungen waren schnell, aber versiert. Zwei Schwertkämpfer meisterlicher Klasse und in einem so engen Kampf verstrickt. Nathan wirbelte herum und parierte einen Hieb von Morane, bevor er ihm in die Seite schlug und seine Nieren verletzte. Der General blieb relativ unversehrt, denn seine Rüstung deckte den Bereich ab. Nathan versuchte einen Angriff von oben, den Morane sofort abblockte.

    Dann wirbelte der General herum und versuchte, seine Klinge in Nathans Beine zu schlagen, was dieser aber unterband, indem er rückwärts eine Rolle machte und so dem Hieb entkam. Immer schneller ließ Morane weitere Schläge auf den Hexer niederprasseln. Nathan zuckte zurück und geriet ins Stolpern. Gerade rechtzeitig konnte sich der Hexer zur Seite rollen, bevor ihm der General den Schädel hätte spalten können.

    Mit einem Satz war Nathan wieder auf den Beinen und hob sein Schwert empor. Dann schloss er die Augen und rammte es mit voller Wucht in den Boden hinein. Die Erde erzitterte leicht und ein breiter Riss bildete sich unter der Klinge, der sich in Richtung von Morane ausweitete. Beinahe wäre der General verschluckt worden, doch gelang es ihm, im letzten Moment zur Seite zu springen.

    Derweil waren der Professor und Elaine in die alte Bibliothek geflohen und versteckten sich hinter ein paar der umgefallenen Regale. Die Luft war immer noch mit dem Rauch der schwelenden Brände geschwängert. Vorsichtig spähte er um die Ecke und schreckte zurück, als er ein Krächzen hörte. Dann folgten leise Flügelschläge. Wenige Wimpernschläge darauf waren menschliche Schritte zu hören. Jemand war mit ihnen hier drin.

    Weder Elaine noch der Professor wagten zu atmen oder irgendeine Bewegung zu machen. Doch da erspähte Nadeya ein altes Schwert auf dem Boden. Wenn ich doch nur daran käme, dachte er sich.

    »Kommt schon heraus«, tönte die Zauberin mit einer engelsgleichen Stimme in die halbdunkle Halle hinein. »Ich weiß, dass ihr hier seid. Lasst uns doch vernünftig sein. Alan … du weißt, dass ich keine rachsüchtige Frau bin. Ich will euch kein Leid zufügen. Elaine … ich dachte, wir hätten gute Freundinnen werden können. Ihr könnt mir vertrauen, dass ich euch nichts tue. Ich will nur die beiden Artefakte – sonst nichts.«

    Gwenaelle trat in die Mitte der Bibliothek und schaute sich nach allen Seiten um. Nadeya wagte nicht mehr seinen Blick, um die Ecke gehen zu lassen. Vater und Tochter hielten beide immer noch den Atem an. Schließlich streckte er ganz sachte sein linkes Bein aus und versuchte das Schwert zu erreichen – ein Fehler. Als sein Fuß das Metall berührte, verursachte es ein kratzendes Geräusch auf dem Boden. Die Zauberin schreckte im selben Moment hoch und schaute in seine Richtung. Ein zufriedenes Grinsen huschte über ihr Gesicht.

    »Oh, Alan«, rief sie amüsiert, »sind wir nicht alle etwas zu alt, um noch Verstecken zu spielen?«

    Sie ließ ihre Hand vorschnellen und flüsterte eine Formel. Auf einmal begannen ihre Hände zu leuchten und das Regal bewegte sich zur Seite – das gesamte Möbelstück wurde samt verbliebenem Inhalt weggeschleudert. Von einem Moment auf den anderen standen sie völlig ungeschützt da.

    »Freunde«, säuselte Gwen wieder mit dieser sanften Stimme, »es besteht wirklich kein Grund, das Ganze hier unnötig kompliziert zu machen. Elaine, bitte gib mir zurück, was du mir weggenommen hast, und ihr beiden könnt unbeschadet hinausspazieren. Ja, ich helfe euch sogar an der Tempelgarde vorbei, sodass ihr entkommen könnt.«

    Professor Nadeya schüttelte den Kopf.

    »Wie sollten wir dir noch vertrauen? Ausgerechnet derjenigen, die uns von Anfang an belogen hat.«

    »Jetzt wirst du unfair, mein Lieber«, tönte es aus Gwenaelle heraus. »Ich habe nicht gelogen. Vielleicht etwas verschwiegen. Ich wollte euch helfen und das will ich noch. Das da ist alles, was ich von euch möchte.«

    Elaine hielt die beiden Artefakte noch enger an ihren Körper gepresst, als der Blick der Zauberin sie traf.

    »Ich werde sie dir niemals freiwillig überlassen, Gwen.«

    Die Zauberin schüttelte den Kopf. »Was auch immer geschieht«, erklärte sie schwermütig, »ich will das du weißt, dass ich dich niemals ernsthaft verletzen wollte.«

    Gwenaelle hob ihre Hand und ein Blitz schoss heraus, der Elaine zur Seite schleuderte. Vor Schreck ließ die Halbelfe die Karte und den Siegelstein fallen. Sie schlug schließlich auf den Boden auf und ihre Tasche landete dabei an ihrer Seite – der Stab von G’valhir rollte heraus und lag schließlich neben ihr.

    »Elaine!«, rief der Professor erschrocken und griff sich das Schwert vom Fußboden. Er hielt die Klinge drohend in Gwenaelles Richtung.

    »Ehrlich, Alan«, spottete die Zauberin abfällig, »für einen Gelehrten hätte ich dich für wesentlich klüger gehalten, als das jetzt. Tritt beiseite!«

    »Zurück, du Hexe!«, knurrte er wütend.

    Die Zauberin seufzte leise und schnippte daraufhin einmal mit den Fingern, woraufhin es dem Professor den Boden unter den Füßen wegzog und er gegen das nächste Regal geschleudert wurde. Nur sein Stöhnen verriet, dass er nicht tot war. Elaine hatte gerade ihr Bewusstsein wiedererlangt, als sie alles mit ansehen musste.

    »Vater!«, schrie sie fassungslos.

    Gwenaelle warf ihr nur einen abfälligen Blick zu und hob dann sowohl die Karte als auch den Siegelstein auf. Kaum dass sie alles bei sich hatte, wandte sie auch schon um und wollte gehen – als Elaine sie zurückhielt.

    »G‘valhir nadar«, rief die Halbelfe laut und der Zauberstab in ihrer Hand fuhr sich zur vollen Länge aus. Die Zauberin fuhr erstaunt herum und lächelte dann milde. »Ist das dein Ernst?«

    Als Antwort schleuderte die Halbelfe ihr mit dem Stab einen Energieorb entgegen, der Gwenaelle herumwirbelte und zu Boden warf. Die Zauberin hob benommen den Kopf und strich sich einige Strähnen ihres dunklen Haares aus den Augen. Dann huschte wieder ein herausforderndes Grinsen über ihr Gesicht.

    »Also schön, kleine Elfe«, spottete Gwenaelle, »dann zeig mal, wie gut du damit umgehen kannst.«

    Schon sprang sie auf und schleuderte Elaine einen Blitzregen entgegen. Instinktiv hob die Halbelfe den Stab und ließ das magische Werkzeug den Großteil absorbieren, bevor der letzte sie in der Taille traf und eine kleine, brennende Wunde hinterließ. Wütend sah sie zu Gwenaelle herüber und ihre bernsteinfarbenen Augen flackerten regelrecht. Mit einem Aufschrei rotierte sie den Stab über sich und erzeugte einen kleinen Wirbelwind, den sie sofort auf die Zauberin schleuderte. Gwen hielt eine magische Wand vor sich und zerstreute damit den Windschlag.

    Elaine war für den nächsten Schlag bereit und nutzte die Macht des Stabs, um damit eines der Regale anzuheben. Sie ließ es schweben und warf es dann auf Gwenaelle zu – die aber gerade noch rechtzeitig eine Flammenwand beschwor, die das Regal verbrannte und zersplittern ließ. Einige der Holzfragmente schlugen sich auch in Elaines Richtung und trafen ihren Arm, wodurch ihr der Stab entrissen und schließlich auf den Boden geschleudert wurde.

    Die Halbelfe zuckte erschrocken zusammen. Gwenaelle grinste wieder und richtete sich auf. Gerade als sie auf Elaine zugehen wollte, traf sie aus heiterem Himmel ein Schlag auf den Hinterkopf. Die Heilerin hob erstaunt den Kopf und erkannte, dass ihr Vater hinter der Zauberin gestanden und sie mit dem Schwertheft getroffen hatte. Als er sie sah, konnte er nicht anders, als es fallen zu lassen und auf sie zuzulaufen.

    »Elaine«, rief Nadeya erleichtert, während er seine Tochter an sich drückte, »ist dir etwas geschehen?«

    Die Halbelfe schüttelte den Kopf. »Nein, aber … wir sollten gehen, bevor die gute Gwen wieder erwacht. Ich glaube, ihre Laune wird nicht die beste sein.«

    »Sicherlich. Vergiss deinen Stab nicht. Ich hole die Karte und das Stück des Siegels

    Beide griffen sich ihre Sachen und verschwanden sogleich wieder in Richtung des Innenhofs. Kaum hatten die beiden die Tür nach draußen durchschritten, wurden sie auch schon vom Kampflärm empfangen. Elaine sah, wie der Hexer auf ein Mauerstück hinauflief und von oben herab einen Schlag auf General Morane vollführte. Dieser blockte blitzschnell ab und wirbelte herum, um Nathans Arm zu verletzen. Ein kurzer Aufschrei – er hatte getroffen. An dem Oberarm des Hexers war ein langer Schnitt zu erkennen.

    Aus der Ferne sah Elaine, dass Captain Ardaer und Connor sich die letzten Gardisten nur mit Mühe vom Leib halten konnten. Schließlich hatte sich Bram wohl von dem Schuss einigermaßen erholt und kam mit blutender Schulter und erhobener Axt seinen Freunden zu Hilfe. Der Zwerg schaffte es trotz seiner Verletzung, zwei Männer sofort umzuhauen, bevor der dritte ihn bemerkte und nach ihm schlug. Augenblicklich war Captain Ardaer zugegen und gab einen Hieb dazwischen ab. Der Zwerg verlor sich im Getümmel und Elaine ließ ihren Blick wieder zum Hexer gleiten.

    Nathan und Morane waren in einem engen Schwertkampf verstrickt. Immer wieder kreuzten sich ihre Klingen und sie kamen teilweise bis auf eine Nasenlänge einander näher. Beim dritten Mal gab der General dem Hexer eine schwere Kopfnuss, wodurch dieser kurz zurücktaumelte. Als Morane ihm schließlich einen letzten Hieb verpassen wollte, wurde Nathan wieder klar im Kopf und ließ dem General einen Feuerstrahl aus seiner Hand entgegenschlagen. Geblendet und erschrocken wich dieser aus und stolperte über einen Stein, verlor den Halt und fiel schlussendlich zu Boden – sein Schwert landete neben ihm.

    Just in jenem Moment hatten Captain Ardaer, Connor und Bram die letzten Gardisten geschlagen. Als sie sich sicher waren, dass keine Gefahr mehr von ihnen ausging, kamen sie auf den Hexer zugelaufen. Nathan stand derweil vor General Morane und hielt die Spitze seiner Klinge an dessen Hals gepresst.

    »Du hast verloren«, betonte der Hexer ernst. »Gib auf!«

    Der General lachte auf und etwas Blut lief aus seinem Mundwinkel herab. »Selbst wenn, Hexer«, rief er amüsiert, »selbst wenn du mich tötest … unsere Ideale kannst du nicht besiegen. Kardinal Mengenberg wird Herrscher von Rhevar und ihr werdet dank seiner Macht untergehen.«

    »Hohles Gerede eines besiegten Mannes«, warf Captain Ardaer abschätzig dazwischen. »Beende es endlich, Nathan, damit wir von diesem von den Göttern verlassenen Ort verschwinden können.«

    Der Hexer sah auf den General herab. Das Einzige, was er tun musste, war lediglich sein Schwert zu heben und ihm den Kopf abzuschlagen. Alles wäre vorbei gewesen. Das Kämpfen hätte ein Ende und die Toten wären gerächt. Doch etwas in ihm zögerte. War es Respekt vor einem würdigen Gegner oder einfach nur der Unwille, ein weiteres Leben einfach so auszulöschen? Waren es Skrupel einen gefährlichen, wenn auch unbewaffneten Mann zu töten? Es wäre ihm wohler gewesen, wenn der General nicht gestolpert wäre. Wenn er nicht sein Schwert fallen gelassen und ihm so die Möglichkeit geraubt hätte, ihn in einem fairen Kampf zu besiegen. Aber nun sollte er einen Mord begehen. Ja, denn etwas anderes war es doch nicht. Ein Mord an einem unbewaffneten Mann – ganz gleich, was für einer es war. Es musste dieser verdammte Sinn nach Gerechtigkeit sein, den ihm Gavion all die Jahre eingetrichtert hatte. Dennoch blieb da eine kleine, sanfte Stimme in ihm, die ihn anspornte, mit dem Schwert zuzustoßen.

    Nathan schüttelte jedoch den Kopf.

    »Nein«, rief er schließlich und alles sah ihn überrascht an. »Ich vergieße kein Blut mehr auf diesem Boden. Morane wird sich für seine Taten verantworten müssen. Aber erst nachdem er uns geholfen hat, den Kardinal aufzuhalten.«

    Der General lachte erneut laut auf.

    »Du bist nur ein schwächelnder Dummkopf, Nathan Cartwright«, verhöhnte er den Hexer. Nathans Blick sprach für sich und er schob sein Schwert zurück in die Scheide auf seinem Rücken. Sein Schweigen war belastend, aber ohnehin würden alle Worte der Welt bei einem wie dem General verschwendet sein. Er hätte es hier und jetzt beenden können. Aber so erschien es ihm eine wesentlich bessere Lösung zu sein. Wenn sie die Gefahr durch Mengenberg ein für alle Mal stoppen wollten, dann würden sie die Mithilfe von General Morane brauchen.

    Der Hexer wollte sich gerade zu Elaine umdrehen, als auf einmal ein helles Krächzen die Luft erfüllte. Eine nachtschwarze Krähe sauste an der Halbelfe vorbei und entriss ihr mit den Krallen das Stück vom Siegel. Der Vogel stieg schnell in die Nacht empor und blieb damit außer Reichweite.

    Beinahe zeitgleich erfüllte ein tiefes Donnern den nächtlichen Himmel und wie aus dem Nichts erschien ein helles Leuchten von der anderen Seite des Innenhofs herüber. Keiner hatte damit gerechnet, aber es öffnete sich urplötzlich ein Portal zwischen den Mauerresten. Doch wie konnte das sein, denn keiner hatte einen Portaltrajektor aufgestellt oder geschweige denn einen dabei gehabt?

    Noch bevor irgendjemand reagieren konnte, war General Morane wieder auf den Beinen und rannte auf das Portal zu. Nathan lief sofort hinterher, doch sein Gegner hatte zu viel Vorsprung. Schon war Morane durch das Portal entschwunden. Bevor es sich schloss, sauste etwas an dem Hexer vorbei und flog genau ins Zentrum des Portals hinein. Es war die Krähe, die immer noch das Stück in einer Klaue hielt.

    »Gwen …«, hauchte Nathan fassungslos und hielt inne, als sich im gleichen Atemzug das Portal wieder schloss. Auf einmal war es wieder nachtdunkel. Es wurde still.

    Er blickte auf die wirbelnden Formen und irren Lichter. Das Schauspiel hatte wirklich etwas Faszinierendes an sich, auch wenn es heidnischem Zauber entsprungen war. Dennoch behielt Mengenberg seine schon beinahe kindliche Faszination bei – denn was momentan von Nutzen war, konnte ja nicht so falsch sein.

    Jeden Augenblick hoffte er, dass sich etwas durch das Portal bewegen würde. Endlich wurde seine Geduld belohnt, als sich die Formen und Farben änderten und mit einem Blitzen etwas hindurch schoss. Eine Person landete direkt auf dem Boden zu seinen Füßen. Die Gestalt war ihm durchaus vertraut, doch bevor er ein Wort sagen konnte, kam noch etwas anderes durch das Portal hindurch. Eine Krähe war erschienen und hielt irgendwas in ihrer linken Kralle. Kaum dass das Tier auf dem Boden gelandet war, begann auch schon die Transformation. Im gleichen Atemzug, da sich das Portal wieder geschlossen hatte und verschwunden war, stand urplötzlich eine junge, hübsche Frau vor Kardinal Mengenberg – in ihrer linken Hand hielt sie das Stück einer kleinen, goldenen Scheibe und auf ihren Lippen lag ein zufriedenes, wenn auch erschöpftes Lächeln.

    »General Morane«, begrüßte der Kardinal zunächst den Mann am Boden, »ich bin erfreut, Euch gesund und munter wiederzusehen.«

    Der General richtete sich erschöpft auf und versuchte trotz seiner Verletzungen eine würdevolle Haltung anzunehmen, worauf Mengenberg schließlich fortfuhr: »Ich darf also annehmen, dass Eure Mission von einem gewissen Erfolg gekrönt war?«

    Als Antwort hielt Gwenaelle den Siegelstein hoch.

    »Dies hier ist ein Stück des Siegels, welches uns zum Herzen von Gal’arria führen wird«, erklärte sie ernst und reichte es Mengenberg in die Hände.

    »Ihr seht mich tatsächlich begeistert, Lady Gwenaelle«, erwiderte er erfreut. »Ich muss gestehen, dass ich zu Beginn Zweifel an Eurer Aufrichtigkeit hatte. Doch hiermit ändert sich natürlich alles. Ihr habt Euren Teil unserer Abmachung erfüllt und seid versichert, dass auch ich mein Wort halten werde. Betrachtet Euch ab sofort als in meinen Diensten befindlich – ich glaube die Bezeichnung ›neue Hofzauberin‹ findet ihr wohl angemessen.«

    Gwenaelle verneigte sich seicht, doch in ihren Augen schien keine rechte Freude darüber aufzukommen. Während sie den Kardinal beobachtete, begann dieser seinerseits das kleine Artefakt in seiner Hand von allen Seiten zu begutachten. In seinen leblosen Augen flackerte zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, rechte Gier auf.

    »Endlich«, raunte er atemlos. »Es ist also doch wahr … das Siegel des Ordens. Damit rückt die Erfüllung meines Vorhabens in greifbare Nähe. Doch das hier ist erst der Anfang. Ich nehme an, dass Ihr wisst, wo wir die anderen Stücke finden können?«

    Sein Blick richtete sich erneut auf die Zauberin. Doch Gwenaelle schüttelte den Kopf.

    »Ich weiß nur von Zweien«, antwortete sie mit ungewohnt kleinlauter Stimme. »Eines soll sich in Quasiir befinden, das andere liegt irgendwo auf den Inseln von Askerad. Doch wir wurden von Eurem … Untergebenen hier gestört, bevor uns die Karte des Wanderers den Rest zeigen konnte.«

    Die Augen der Zauberin warfen dem General einen giftigen Blick zu. Sie hatte nicht vergessen, wie er sie behandelt hatte. Er konterte ihren Blick ebenso tödlich. Doch bevor einer der beiden etwas erwidern konnte, sprang schon der Kardinal dazwischen.

    »Und wo befindet sich diese … Karte des Wanderers jetzt?«

    »Nathan Cartwright hat sie, Euer Eminenz«, antwortete dieses Mal Morane und sah dabei wieder zu Gwen. »Dank Eurer neuen Hofzauberin.«

    »Es war ja wohl nicht meine Schuld, dass …«, wollte Gwenaelle bereits zurückgiften, als der Kardinal beide mit dem Wink seiner Hand zum Schweigen brachte. Dann trat er mit dem Stück des Siegels in der Hand ein paar nachdenkliche Schritte in den Raum hinein.

    »Wie viel weiß dieser Hexer?«

    »Alles, Euer Eminenz«, erwiderte Gwenaelle. »Er weiß alles darüber.«

    »Und diese Elfe?«

    »Sie ist bei ihm«, warf Morane frustriert dazwischen. »Und wie ich es verstanden habe, brauchen wir wahrscheinlich ihr Blut, um die weiteren Steine zu bergen.«

    Mengenberg nickte gedankenverloren und wandte sich schließlich wieder um. »Nun, das ist in der Tat ein Problem«, verkündete er schlussendlich. »Doch eines, das wir lösen werden, wenn die rechte Zeit gekommen ist. Ich danke euch beiden zunächst einmal. Ruht euch etwas aus. Wir haben noch sehr viel Arbeit vor uns. Und säubert euch etwas – besonders Ihr, Lady Gwenaelle. Eine Hofzauberin sollte nicht aussehen, als hätte sie die Nächte mit dem Pöbel aus der Gosse verbracht. Und nun, lasst mich allein.«

    General Morane verneigte sich und war schon auf dem Weg zur Tür, als Gwenaelle vor den Kardinal trat. Mengenberg wirkte überrascht und verwundert. »Ja?«

    »Ich wundere mich«, erwiderte die Zauberin und fragte dann. »Wie konntet Ihr wissen, wo wir waren und wann wir ein Portal zur Flucht brauchen würden?«

    Mengenberg grinste überheblich. »Das, meine Liebe«, antwortete er schließlich geheimnisvoll, »ist etwas, dass wir zu einem anderen Zeitpunkt erörtern werden. Ihr solltet Euch jetzt aufmachen.«

    Gwenaelle taxierte den Kardinal skeptisch, doch sie spürte gleichzeitig auch, dass weiteres Fragen sinnlos sein würde. Also folgte sie widerwillig General Morane, der mittlerweile durch die Tür verschwunden war. Kurz davor hielt die Zauberin noch einmal inne und sah in Richtung des schweren Vorhangs, der in einer Ecke des Raums über der Wand hing. Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen, während ihr Blick über den Stoff glitt. Doch allzu schnell schüttelte die Zauberin ihren ersten Eindruck ab und verließ schließlich das Amtszimmer des Kardinals. Als die Tür ins Schloss gefallen war, begann Mengenberg eigenartig zu grinsen. Dann ging er zu seinem Schreibtisch und legte den Siegelstein darauf ab, bevor er sich in Richtung des schweren Vorhangs wandte.

    »Das war wirklich gute Arbeit, meine Teure«, sprach er mit einer Person, die scheinbar gar nicht da war. »Ich gratuliere. Eure Mithilfe war für meine Pläne bisher von unschätzbarem Wert.«

    Genau in diesem Moment wurde der Vorhang beiseitegeschoben und eine junge Frau trat hervor. Ihre schulterlangen, mahagonifarbenen Haare fielen ihr locker über die dunkle Robe. In ihren smaragdgrünen Augen lag eine unnatürliche Kälte. Die Frau war elfisch – ihre Gesichtszüge verrieten sie. Mit gebotener Demut verneigte sich die junge Elfe vor dem Kardinal.

    »Werdet Ihr meine Dienste noch benötigen?«, fragte sie mit einem metallischen Gleichklang in der Stimme.

    Mengenberg nickte zufrieden. »Oh, seid versichert – dass werde ich. Doch geduldet Euch. Es wird die Zeit kommen, an dem Ihr Nathan Cartwright wiedersehen werdet und dann … werdet Ihr ihn töten. Jedoch bis es soweit sein wird, haltet Ihr Euch weiter bedeckt. Geht jetzt den gleichen Weg, wie Ihr gekommen seid, und wartet am vereinbarten Treffpunkt meine nächsten Instruktionen ab.«

    Die junge Elfe nickte und verbeugte sich noch einmal. Dann verließ sie ohne ein weiteres Wort wieder das Amtszimmer auf dem gleichen Weg, wie sie es betreten hatte. Mengenberg sah der jungen Frau nur kurz nach, dann wandte er sich um und schritt bedächtig zum Schreibtisch zurück. Schließlich stützte er sich mit beiden Armen auf der Tischplatte ab und sein Blick fiel auf das kleine Stück des Siegels. Endlich am Ziel – dachte er nur. Endlich lag es in greifbarer Nähe.

    Die Nacht hatte Cair Ba‘radyn schlussendlich erfasst und es war nahezu still geworden in der alten Festung. Nichts deutete mehr auf den Kampf hin, der noch vor einiger Zeit hier getobt hatte. Die drei Monde standen hoch am Himmel, während unter ihnen ein kleines Lagerfeuer prasselte. Captain Ardaer hatte es entzündet, damit sie es warm hatten. Auch wenn sie nicht mehr in Nyrvik waren, so blieben auch hier die Nächte selbst jetzt im Sommer noch recht kühl. Auch tat die Wärme ihren Verletzungen gut. Jetzt, da endlich Ruhe eingekehrt war, spürte jeder deutlich, wie ihnen die Kälte in die Knochen kroch.

    Es war eine gemeinsame Entscheidung gewesen, die Nacht hier in Cair Ba‘radyn zu verbringen und am nächsten Morgen zurück nach Centhia zu reisen. Elaine hatte sich derweil um die Verletzungen aus dem Kampf gekümmert – dabei vor allem Bram geholfen, seine Wunde zu säubern und zu verbinden. Glücklicherweise hatte der Armbrustpfeil keinen Knochen beschädigt oder gar lebenswichtige Organe getroffen. Daher war es nur etwas Blut, das dem Zwerg jetzt fehlte. Ihr Vater hingegen war von den Schlägen noch leicht benommen und suchte seine Ruhe am Feuer – sonst fehlte ihm nichts weiter. Connor jedoch hatte einige Prellungen und schwere Schnittwunden einstecken müssen, die Elaine ebenfalls gesäubert und mit ein paar Kräutern versorgt hatte, um eine Entzündung zu vermeiden. Captain Ardaer zeigte ein weiteres Mal sein Askerii-Erbe, als er statt herkömmlicher Medizin oder Kräutern seine eigene Mixtur in Form eines guten, alten Arberger Brands zu sich nahm. Da ihm wenig fehlte, wollte Elaine auch nicht mit ihm deswegen streiten. Also überließ sie ihm seiner Flasche.

    Kurz vor Mitternacht hatte die Heilerin ihre Arbeit erledigt, als ihr auffiel, dass der Hexer nirgendwo zu sehen war. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn nirgends auf dem Innenhof sehen. Die Leichen der Gefallenen hatten sie inzwischen alle auf einen Haufen gelegt und entzündet, also roch es unangenehm nach versengter Kleidung und verkohlendem Fleisch. Ein beißender Qualm stieg in den Nachthimmel auf. Als Elaine an der Rauchsäule hochschaute, erkannte sie etwas auf einem der kleinen Balkone der noch halbwegs intakten Türme des Bergfrieds stehen. Mag das vielleicht Nathan sein? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

    Elaine kontrollierte noch ein letztes Mal die Wunden von Bram, dann machte sie sich auf und betrat erneut den Bergfried durch die Seitentür. Von der großen Halle aus bahnte sich die Halbelfe ihren Weg über zahlreiche Trümmer und folgte einigen eingestürzten Korridoren. Es dauerte etwas, bis sich Elaine in den verwinkelten und halbverfallenen Gänge zurechtfand. Schließlich aber kam sie auf den richtigen Weg und stieg die schmale Wendeltreppe empor in das Turmzimmer, von wo aus der Balkon

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1