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Die Totenklinik: Kriminalroman
Die Totenklinik: Kriminalroman
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eBook528 Seiten6 Stunden

Die Totenklinik: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Dr. Maria Rosa Peredes tritt im San Cristòbal-Hospital in Mexiko City ihre neue Stelle als Transplantations-Chirurgin an. Der Chefarzt nimmt sie zuvorkommend als Gast in seine Familie auf. Da wird plötzlich das neunjährige Töchterchen entführt. Lösegeld: 10 Mio. Dollar!
Im Spital häufen sich gleichzeitig seltsame, irreversible Koma-Fälle bei operierten Patienten. Sie verschwinden unauffindbar. Was geschieht mit ihnen?
Maria Peredes kommt dunklen Machenschaften auf die Spur. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, Patientenleben und das entführte Mädchen zu retten. Maria gerät in grösste Lebensgefahr!
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum10. Aug. 2022
ISBN9783756263141
Die Totenklinik: Kriminalroman
Autor

Martin Spirig

geboren in Zürich 1947; tätig als Produzent, Regisseur, Drehbuchautor.

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    Buchvorschau

    Die Totenklinik - Martin Spirig

    Anmerkung des Autors:

    Der Text ist nicht gendergerecht geschrieben, weil es den Lesefluss beeinträchtigt. Selbstverständlich beinhaltet Arzt oder Mitarbeiter alle Geschlechter; sie sind absolut gleichwertig!

    Abbild eines Aztekengottes oder einer hohen Persönlichkeit. Säulenrelief in Teotihuacan, der alten Pyramidenstadt ausserhalb von Mexiko-City.

    Mexiko. – Heute.

    Die Reifen stieben in den engen Kurven auf der gekiesten Passstrasse, die auf die Sierra Madre hochführt. Der Frauenfuss im geschlossenen Pumps wechselt häufig vom Gaspedal zur Kupplung und zurück. Höchstgeschwindigkeit ist angesagt. Paz de la Vega muss bei den Powerslides herbes Gegensteuer geben. Der Wagen gleitet haarscharf am erdigen, buschbewachsenen Bergabhang vorbei und schleudert Kieselsteine von der schlecht gesicherten Strasse in den Abgrund hinunter. Was die Investigativ-Journalistin veranstaltet, ist lebensgefährlich. Wehe, ein Lkw kommt ihr entgegen! Oder sie verliert die Beherrschung über das Fahrzeug! –

    Eine heisse Story ist fast so wertvoll, wie das eigene Leben. Eine wahre Reporterin ist ausnahmslos bestrebt, als erste vor Ort Bericht zu erstatten. Das verlangen Ehrgeiz und Karriere in einer hart konkurrierenden Medienlandschaft.

    Paz de la Vega gehört zu den wenigen Journalistinnen in Mexiko, die sich von Bandenführern, Klan- und Mafiabossen wenig beeindrucken lässt. Gewaltandrohungen spornen sie bloss weiter an, mit oder ohne Polizei verdeckt zu arbeiten und zu ermitteln, immer auf der Suche nach einer heissen Story. In ihrer 21jährigen Tätigkeit wurde sie schon zweimal entführt und spitalreif geschlagen; einem Attentat ist sie haarscharf entronnen. Wie die Berufsbezeichnung `Investigativ-Journalistin` sagt, deckt sie Verbrechen, Skandale und Korruptionsfälle auf. Ob Senator, Polizeipräfekt, Richter, Politiker, Rauschgiftmagnat bis hin zu Bandenmitgliedern, korrupten Polizisten, Mordgesellen, Entführern und Vergewaltigern, keiner entkommt ihren flammenden Schlagzeilen in der `Republica Reforma`. Gar mancher Gauner jedwelchen Couleurs hat ihre Hartnäckigkeit und Unerschrockenheit unterschätzt und ist ehr- und würdelos vor dem Richter und hinter Gitter gelandet. Ehre, Ansehen, Würde und die Familie gehören bei den Mexikanern zum höchsten unveräusserlichen Gut; es ist bei vielen wertvoller als das eigene Leben.

    Paz de la Vega weiss aus langjähriger Erfahrung und einem gut entwickelten Instinkt, was zu tun und zu lassen ist. Ihr Kamerateam und der TV-Übertragungswagen sind bereits am Tatort. Die Medienleute erwarten die Starmoderatorin, die man im ganzen Land kennt, zunehmend nervös und nervöser werdend. Die Zeit des verfügbaren Sendefensters für eine Live-Schaltung tickt und tickt unbarmherzig herunter. Paz wurde telefonisch über die Geschehnisse informiert; sie braucht nur das Mikrofon zu nehmen, sich vor die Kamera zu stellen – und los geht`s…!

    Da gibt es vorerst einen Stau, mindestens einen halben Kilometer lang, obwohl die Nebenstrasse schlecht ausgebaut, die Route distanzmässig weiter als die Hauptstrasse ist und deshalb weniger befahren wird – sollte man meinen! Doch ausgerechnet heute!

    »Caramba! – Weg da! – Lasst mich durch! – Idioten!«, schreit die Medienfrau aufgebracht durchs Seitenfenster. Sie hupt und hupt, veranstaltet ein ungeduldiges Hupkonzert. Die im Stau steckenden Automobilisten reagieren verärgert über die dreiste Drängerin, erwidern genervt die Hornsignale, rufen ihr bei den waghalsigen Überholmanövern grimmige Flüche nach, zeigen den Mittelfinger.

    Paz de la Vega erreicht die Passhöhe. Ein Polizist kommt der gesetzeswidrig auf der Gegenfahrbahn die Staukolonne mit übersetzter Geschwindigkeit überholende Fahrerin entgegen. Sie muss vor der Absperrschranke brüsk bremsen

    »Sie haben es aber eilig, Señora!«, meint er und verlangt mit polizeilicher Autorität den Fahrzeug- und den Führerausweis. Jetzt setzt es wohl eine saftige Busse ab. Die fehlbare Lenkerin zückt den vor der Brust hängenden Presseausweis.

    »Paz de la Vega. Investigativ-Journalistin. Ich werde dringend vom Sender erwartet. Sehen Sie die Presseleute dort drüben und den Einsatzleiter der Spezialeinheit? Da muss ich hin. Lassen Sie mich durch, Señor – por favor.«

    »Oh, Sie sind es!«, erkennt der Polizist die bekannte Enthüllungsreporterin vom Fernsehen und Kolumnistin von der `Republica Reforma`. »Hier dürfen Sie aber nicht parken, Señora De la Vega«, gibt er zu bedenken.

    Die Pressefrau schnappt die Handtasche und die Kostümjacke auf dem Beifahrersitz, steigt aus und wirft dem beeindruckten Mann die Autoschlüssel zu.

    »Dann sind Sie einer in äusserster Eile befindenden Dame gewiss behilflich und zuvorkommend, den Wagen dort zu parken, wo es erlaubt ist, por favor«, lullt sie den jungen Mann mit fraulichem Charme ein. »Ich wäre Ihnen dafür sehr dankbar. Ich finde bestimmt ein paar lobende Worte für Ihren Einsatz und die Kooperation in meiner Fernsehreportage, wenn Sie mir Ihren Namen nennen wollen, Señor, por favor?«

    »Diego Morales«, antwortet der Geschmeichelte spontan, mehr überrumpelt als erstaunt über das Angebot. Er kann gar nicht nein sagen.

    »Muhos Gracias, Señor Diego Morales. Den Autoschlüssel legen Sie einfach hinter die Sonnenblende, okay?«, nickt die attraktive Pressefrau von 43 Jahren mit einem unwiderstehlichen Lächeln den Deal ab. Da erreicht sie den Ruf des Aufnahmeleiters des Fernsehteams vor der Polizeiabschrankung des Tatorts.

    »Sie hören, ich muss jetzt gehen.«

    Schwupp und weg ist sie.

    »Komm schon! Beeil dich, verdammt!«

    »Ich komm ein bisschen spät. Keine Panik, Jose!«

    »Ein bisschen? Wir sind in einer Minute live auf Sendung. Wo warst du? Ich habe stundenlang auf der Redaktion angerufen.«

    »Bin ja da! Der verfluchte Verkehr. Der Stau!«

    Paz de la Vega schlüpft für die Moderation in die Kostümjacke.

    »Siehst du die Marke?«, weist ein ziemlich aufgeregter Kameramann auf diese hin.

    »Natürlich sehe ich die Marke.«

    Der Tonmann wirft Paz das Mikrofon zu, das sie im Gehen geschickt auffängt. Die Make-up-Frau pudert das Gesicht ab. Eine Assistentin ordnet in Windeseile die wirre, hochgesteckte Lockenpracht – das alles auf dem Weg zur Marke vor der Absperrung. Dabei verliert sie den linken Schuh im weichen Boden. Keine Zeit, wieder in den Pumps zu schlüpfen.

    Im Übertragungswagen läuft der letzte Werbespot vor der Live-Sendung.

    »Schöner Fuss. Wusste gar nicht, dass du die Zehennägel verschiedenfarbig anstreichst«, spottet der Kameramann. Er schwenkt über ihre wohlgeformten Beine, die unter dem knapp knielangen Rocksaum des Kostüms verschwinden, auf ihr Gesicht und stellt den Focus scharf.

    »Hey, die Sonnenbrille weg!«, ruft der Aufnahmeleiter ihr zu. Paz wirft sie reflexartig in den Staub.

    »Die drei obersten Knöpfe an der Bluse zu! Die Zuschauer sind nicht an deinen Brustrundungen interessiert.«

    »Vielleicht mehr als an dem verdammten Scheiss hier!«, meint der Kameraassistent schelmisch.

    Paz de la Vega klemmt das Mikrofon zwischen die Knie und tut flink wie geheissen. Sie balanciert sich aus, sucht sicheren Stand, weil der linke Schuh am linken Fuss fehlt, den sie auf dem Weg zur Marke verloren hat.

    Das Signet `Breaking News` erscheint auf dem Bildschirm im Ü-Wagen. Jose, der Aufnahmeleiter, macht über das Interkom den Countdown. Der Kameramann zählt ihn stumm mit Fingern ab: 5-4-3-21-und live!

    »Señores, Señoras, Senhoritas. Hier spricht Paz de la Vega. Ich befinde mich hier auf der Sierre Madre unweit von Teotihuacan«, eröffnet sie die Moderation in die Kamera, als wäre der Aufnahme nicht die geringste Hektik vorausgegangen. »Wieder einmal bekriegen sich Banden um die Vorherrschaft im unseligen Drogenkrieg. Es sind 21 Tote zu beklagen. – 23 Tote, flüstert mir gerade der Einsatzleiter des Special-Squad zu, der neben mir steht. – Die rivalisierenden Banden haben sich bis auf den letzten Mann gegenseitig erschossen. Auch eine Frau ist dabei und vier wie durch ein Wunder überlebende Kinder, die sehr wahrscheinlich entführt worden sind. Die Mädchen befinden sich in medizinischer Obhut. Leider konnte die Spezial-Polizeieinheit das blutige Massaker nicht rechtzeitig verhindern. Die Schiesserei war vorbei, als sie hier eingeflogen ist. Sie sehen die drei Hubschrauber hinter mir im Bild bei den von Kugelsalven durchlöcherten Autowracks der Drogenbanden. Ich spreche jetzt mit dem Befehlshaber des Special-Squad, Capitan Tomaso Roveredo. Was können Sie den Zuschauern über das schreckliche Massaker sagen?«

    »Nicht viel mehr, als Sie bereits gesagt haben, Señora De la Vega«, antwortet der Kommandant mit verrauchter Stimme. »Wir kamen leider zu spät, das Schreckliche zu verhindern. Zu gerne hätten wir ein paar Überlebende verhaftet und verhört. Wir schätzen, keines der Opfer ist älter als 20 Jahre. Die Politik muss endlich etwas tun, unsere Jugendlichen und Jungerwachsenen von der Strasse zu holen und eine Perspektive zu geben. Leider gilt es als schick, einer Gang anzugehören. Die Burschen verdienen zehnmal mehr Geld als ein Verkäufer im Supermarkt. Dazu geniessen sie ein hohes Ansehen und frönen dem überlegenen Machtgefühl, Angst und Schrecken sogar unter Erwachsenen zu verbreiten. Kein Wunder, dass die Drogenbarone keinen Mangel an Nachwuchs haben. Die 23 Toten sind kleine Fische. Sie werden sehr schnell ersetzt werden, und das Geschäft läuft weiter. Es ist schwierig, an die Drogenbarone heranzukommen, um sie zur Rechenschaft zu ziehen.«

    »Konnte Rauschgift sichergestellt werden?«, stellt Paz de la Vega die Frage.

    »50 Kilo Heroin. 20 Kilo leichtere Drogen. Die sind eine beträchtliche Summe wert. Die Polizei ermittelt. Es ist anzunehmen, dass die Gangs das Rauschgift einander abjagen wollten.«

    »Wurde Schmuggelware gefunden?«

    »Sechs Kühlboxen. Sie enthalten menschliche Organe.«

    »Was geschieht mit den toten Burschen?«

    »Wir fliegen Sie ins Jesù- Hospital oder ins San Cristòbal. Die haben gute Pathologen, die DNA-Analysen für die Personenidentifikation durchführen können. Mehr kann ich nicht sagen.«

    »Können Sie etwas über die menschlichen Organe sagen?«

    »Die Boxen haben weder ein Empfänger- noch ein Absender-Etikett. Vielleicht erfahren Sie beim Polizeibriefing heute Abend mehr Details über die laufenden Untersuchungen.«

    »Ich danke Ihnen für diese ersten Informationen, Capitan Roveredo. – Damas, Señores«, spricht die Reporterin in die Kamera. »Wir halten Sie mit weiteren Nachrichten beim angekündigten Polizeibriefing auf dem Laufenden. Das war Paz de la Vega mit einem Live-Bericht vom Tatort auf der Sierra Madre in der Nähe von Teotihuacan.«

    »Und – wir sind raus!«, ruft der Kameramann. Im Ü-Wagen läuft ein kurzer Werbespot. Ihm folgt die Fortsetzung des unterbrochenen TV-Programms.

    »Sehen Sie, was habe ich gesagt?«, stellt die Reporterin fest. »Kein Problem. Wenn ich mal da bin.«

    »Kein Problem?«, echot Jose, der Aufnahmeleiter, tadelnd. »Was glauben Sie eigentlich? Bei diesem Sender drehe sich alles um Sie!«

    »Was sagen Sie da? Ich bin nicht der Mittelpunkt des Universums?«, vermerkt Paz sarkastisch.

    »Sparen Sie sich die schlauen Sprüche! Es gibt auch andere gute Moderatoren und Moderatorinnen.«

    »Aber ich bin die beste, die erfahrenste Investigativ-Journalistin!«, setzt sie lächelnd hinzu. Sie kneift ein Auge zu, als ob sie es nicht ernst meinte.

    »Es gibt immer eine noch bessere, nicht wahr?«

    »Seien Sie doch nicht so verbissen. Ist doch alles gut gelaufen! Stimmt, ich spiele das Spiel nicht unbedingt nach Ihren Regeln, aber ich besorge Ihnen immer eine heisse Story.«

    »Sie halten sich für unersetzbar, weil Sie ein paar gute Storys an Land gezogen haben?«

    »Jeder ist ersetzbar!«, gibt Paz de la Vega pari. »Das gilt selbst für Aufnahmeleiter. Ich verschaffe dem Sender schliesslich eine gute Einschaltquote. Darauf kommt`s doch an? Haben Sie selbst gesagt.«

    »Nun, ich hatte heute Morgen eine kleine Unterredung mit dem Vorstand des Senders. Wissen Sie was?«

    »Was denn! Werde ich befördert?«

    »Oh ja, Sie werden befördert. Rausbefördert! Sie sind entlassen, Señora Paz de la Vega. Fristlos gefeuert! Jetzt verschwinden Sie aus meinem Blickfeld!«

    Die Make-up-Dame tritt auf sie zu.

    »Hier die Handtasche, Ihre Sonnenbrille – und der Schuh, den Sie verloren haben! – Tut mir Leid. Ich habe immer gern mit Ihnen zusammen gearbeitet. Jose ist halt ein überheblicher Arsch. Niemand mag ihn in unserem Team.«

    »Ich danke dir, Chiquita! – Ach, weisst du«, atmet Paz entspannt aus. »Vielleicht bin ich auch mal hin und wieder ein arrogantes Arschloch. Also flieg ich halt raus! Macht nichts! Ich arbeite sowieso als freie Investigativ-Journalistin! Es gibt schliesslich noch andere nationale Fernsehsender. Und als Chefkolumnistin hab ich die `Republica Reforma`-Zeitung auch noch in Petto.« –

    Zur gleichen Zeit: Anflug auf Mexiko-City, die Landeshauptstadt.

    Die Stimme der Chefstewardess im Lautsprecher schreckt Maria Rosa Peredes am bequemen 1st Class Fensterplatz auf; jetzt ist sie tatsächlich auf dem Inlandflug von Cancùn nach Mexiko City eingenickt! Die Passagiere werden aufgefordert, sich anzuschnallen, die Sitzlehnen senkrecht zu stellen, die Tischchen hochzuklappen und die elektronischen Geräte während des Landeanflugs auszuschalten - das übliche Sicherheitsprozedere. Eher ungewöhnlich ist eine Entschuldigung: Der Pilot habe wegen Überlastung des Flughafens eine Warteschleife fliegen müssen. Deshalb sei der knapp 5500 m hohe Popocatepetl als kleine Entschädigung der Zeitverzögerung auf der linken Fensterseite der Maschine jetzt sehr nah zu sehen. Man bedankt sich, mit der Aeromexico geflogen zu sein, wünscht einen angenehmen Aufenthalt und einen guten Tag.

    Maria Rosa sah vor 15 Jahren den Vulkan das letzte Mal, sogar einmal mit einer dicken, schwarzen Rauchwolke; eine kleines Erdbeben erschütterte die Stadt, das, Gott sei`s gedankt, keine grösseren Schäden verursachte aber ein noch fürchterliches Verkehrschaos anrichtete, als es ohnehin schon Tag ein Tag aus bestand.

    Der Popocatepetl ist wohl der bestüberwachte Vulkan der Welt, ein schlafender und keineswegs erloschener Vulkan. Der geringste Rülpser, den der Bergriese von sich gibt, wird von einem dichten Netz von Laserstrahlen registriert und unverzüglich an die Alarmzentrale weiter geleitet, ebenso die Signale von Gasdetektoren und Erdbewegungsmel-dern. Eine grosse Eruption oder sogar eine unerwartete Explosion, die sich am Mount Helen in Alaska ereignete, hätte 100`000de wenn nicht Millionen Tote und eine vollständige Auslöschung der Metropole zur Folge, obwohl gross angelegte Evakuierungspläne existieren. Aber eine 20, 30 Millionenstadt rechtzeitig evakuieren? – Maria Rosa Peredes mag gar nicht daran denken…

    Die Maschine setzt zur Landung an, taucht schnell in die Dunstglocke von Feinstaub und Auspuffruss ein, unter der sich ein endloses Häusermeer ausbreitet: Es sind die Armen- und Reichenviertel von Ciudad de Mexico – Mexiko Stadt – Mexiko City – Distrito Federal – durchschnittlich 2240 m hoch gelegen und mit 1500 km2 doppelt so ausgedehnt wie Berlin. Die Metropole ist längst über die Stadtgrenzen hinaus gewachsen; sie ist nach Tokyo vielleicht die zweitgrösste Stadt der Welt mit allen negativen Begleiterscheinungen, von der Kriminalität bis zur Umweltverschmutzung und chaotischem Verkehrsgewirr.

    Das Flugzeug setzt sanft auf der Piste auf, man merkt es kaum. Der Sitzgurt kompensiert die Bremswirkung des Umkehrschubs der Triebwerke. Weshalb die Passagiere jeweils von den Sitzreihen aufspringen und das Handgepäck aus den Lockern reissen, sobald die Maschine zum Stillstand gekommen ist und die Gangway noch nicht mal angedockt hat, ist unerklärlich. Man drängt sich lieber zwischen Koffern, Taschen und Rucksäcken auf dem engen Korridor, nur um zu warten, bis endlich die Tür geöffnet wird und man die Maschine verlassen kann.

    Maria Rosa Peredes bleibt sitzen, bis ihre Reihe dran ist. Sie lässt einen Drängler aus den hinteren Sitzreihen vor. Den jungen Mann auf sein ungebührliches Verhalten hinzuweisen, würde wohl kaum nützen und bloss Streit bedeuten. Die Chefstewardess hat es gesehen, verdreht die Augen, sagt aber nichts. Die Kinderstube mancher Menschen lässt halt zu wünschen übrig. Vielleicht lächelt sie unter der Gesichtsmaske, die den Passagieren und der Besatzung wegen der Corona-Pandemie zu tragen verordnet ist.

    Maria Rosa hat die Handtasche und einen kleinen Trolley als Handgepäck dabei. Eine Viertelstunde Wartezeit am Förderband vergeht, bis es endlich anspringt und weitere zehn Minuten, bis ihr knallroter Metallkoffer erscheint, der aus Sicherheitsgründen von einem gelben Gurt zusammen gehalten wird.

    Bei einem Inlandflug gibt es weder eine Zollstation noch eine Passkontrolle. Vier ernst dreinblickende Beamte haben sich vor dem Exit postiert. Sie mustern die Neuankömmlinge aus Cancùn mit Argusaugen. Manch ein Schmuggler, gar ein ausgeschriebener Verbrecher ist ihnen schon ins Netz gegangen.

    Eine rege Menschenmenge tummelt sich in der Ankunftshalle. Ein Radau herrscht, man möchte sich die Ohren zuhalten. Maria Rosa hält nach ihrem Namen auf den hochgehaltenen Schildern von erwarteten Passagieren Ausschau. Taxifahrer und Privatchauffeure drängen sich an der Absperrschranke; sie bieten ihre Dienste für einen Transfer in die Stadt an, etliche lautstark, andere diskret und höflich.

    Da, ihr Name! Ein strammer Privatchauffeur in dunkelblauer Uniform mit auf Hochglanz polierten Silberknöpfen begrüsst die Señora Peredes; er ist auf Diskretion und Zuvorkommenheit gedrillt. Er nimmt ihr den Koffer ab und stellt sich gleich selber vor:

    »Hola, ich bin Pablo. Professor Gutierrez schickt mich, Sie abzuholen, Señora Doktor Peredes. Por favor: Wenn Sie mir bitte folgen möchten? Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug?«

    Ein diskreter Seitenblick aufs Kofferetikett verrät, dass er auch die richtige Frau hofiert. Auf der Rückseite der Namenstafel ist ein kleines Foto der erwarteten Dame platziert, und Maria Rosa weiss, dass sie von einem Pablo, dem Privatchauffeur des Professors, abgeholt wird.

    Pablo kann sich einen verborgenen Seitenblick auf ihre wohl geformten Beine nicht verhehlen. Der Frau entgeht es nicht. Die angemessene Absatzhöhe betont eine attraktive Beinlinie, die da schlank und sexy unter dem knapp knielangen Rocksaum ihres Armani-Kostüms verschwindet.

    Ein dunkelblauer Mercedes der Luxusklasse parkt direkt vor dem Hauptausgang des Arrival-Terminals für Inlandflüge, wo es gewiss eine Sonderbewilligung braucht, erwartete Passagiere einsteigen zu lassen. Maria Rosa nimmt auf dem Beifahrersitz Platz und nicht hinten rechts, zu Pablos Erstaunen. Sie wäre sich zu vornehm und aristokratisch vorgekommen.

    »Wenn Sie hier vorn sitzen möchten, Señora, dann gilt leider die Maskenpflicht«, murmelt Pablo fast entschuldigend. »Sie wissen: Die Pandemie. Aber auf dem Rücksitz können Sie das Ding abnehmen, was für Sie vielleicht angenehmer wäre?«

    »Es ist in Ordnung, Señor Pablo«, winkt Maria Rosa ab. »Ich bin Ärztin und Chirurgin und es gewohnt, eine Maske zu tragen. Zudem bin ich zweimal geimpft und geboostert. – Übrigens, die Chauffeurmütze brauchen Sie meinetwegen nicht aufzusetzen, was für Sie gewiss auch angenehmer ist!«, ergänzt sie mit lächelnden Augen.

    »Perdòn – Por favor, Señora«, meint der Mexikaner mit leisem aztekischem Aussehen, der die 40 um ein paar Jährchen überschritten hat etwas verlegen. »Ich bin Pablo. Einfach Pablo. Es wäre mir peinlich vor den anderen Bediensteten der Familie Gutierrez, wenn Sie mich Señor nennen würden. Ich bin im Dienst kein Señor.…«

    »Bueno«, erwidert Maria umgehend, die Gepflogenheit im Hause des Professors fraglos akzeptierend. »Dann fahren Sie mich jetzt bitte zu meiner Wohnung – Pablo«, betont sie den Namen schelmisch.

    »Per favor – perdòn, Señora Doktor«, wiederholt Pablo höflich korrigierend. »Professor Gutierrez hat mich beauftragt, Sie direkt zu ihm in die Klinik zu fahren.«

    Maria Peredes nickt. Sie wird wohl bald den Grund erfahren.

    Pablo startet den Motor und schaltet die Klimaanlage ein; er müsse die Fahrermütze tragen, meint er. Zudem erkennt die Polizei ihn sofort als Privatchauffeur, ohne ihn anzuhalten und zu kontrollieren, ob die Limousine gestohlen sei, als ob ein Autodieb nicht auch eine Fahrermütze aufsetzen könnte.

    Der Mann steuert die Luxuskarosse sicher und ohne Hast durchs Verkehrsgewühl ins Stadtzentrum.

    Der Privatchauffeur von Maria Rosas zukünftigem Chef stellt nach längerer Fahrt eher zaghaft die Frage, ob die Frau Doktor auch schon mal hier in Ciudad Mexico gewesen sei.

    »Das letzte Mal vor etwa 15 Jahren«, erwidert sie bereitwillig. »Ich bin hier aufgewachsen und habe die Schule und die Universität besucht.« Es habe sich zwischenzeitlich gewiss viel verändert, setzt sie hinzu.

    »Si, es wurde und wird viel gebaut«, erwidert Pablo ungeniert. »Das Meiste wird illegal gebaut, vor allem in den Armenvierteln. Die Leute haben kein Geld, und die Behörden sind korrupt und uneffektiv. Die Stadtplaner haben keine Ahnung, wie schnell und unkontrolliert die City wächst. Keiner kennt die Einwohnerzahl genau. Man schätzt sie auf 40 bis 50 Millionen!«

    »So hoch?«, schiebt Maria Rosa stirnrunzelnd ein.

    »Si! Man schätzt die Korruption, die Bandenkriminalität, den Rauschgifthandel und die Prostitution hat sich in den letzten Jahren verzehnfacht! Wenn nicht mehr!«, ergänzt er bitter. »Nur jeder siebzigste Mord wird aufgeklärt. Alle drei Stunden findet eine Entführung mit Lösegeldforderung statt…«

    »Das wusste ich nicht!«, stellt die attraktive Ärztin im Armani-Kostüm entsetzt fest. »Das ist ja…«

    »Keine Angst, Señora Peredes, Doktor: Sie sind hier sicher«, tröstet Pablo seinen Fahrgast darüber hinweg. – »Sehen Sie den Mann dort mit dem nackten Oberkörper? Am Innenrand des Kreisels? Er wurde gerade von seinen Entführern dort abgesetzt. Er hatte Glück! Er wurde nicht ermordet, weil man das Lösegeld bezahlte. Viele können die geforderte Geldsumme nicht aufbringen. So findet man mehr Ermordete als Freigelassene im Strassengraben – oder man findet sie gar nicht mehr!«

    »Das ist ja fürchterlich!«, sagt Maria Rosa überwältigt. »Weshalb erzählen Sie mir das?«

    »Wie gesagt: Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind hier sicher«, bekräftigt der Fahrer seine Meinung. »Mexiko City hat auch gute, interessante Seiten. Nur fällt mir gerade keine ein…«

    Die Verkehrsampel schaltet auf Rot. Es bilden sich sekundenschnell Kolonnen auf der Vierfachspur.

    »Das Verkehrsaufkommen wird hier auf der Plaza de la Constitutiòn jeden Tag schlimmer«, meint Pablo, ohne sich darüber aufzuregen. »Wussten Sie, dass der `Platz der Verfassung` das Stadtzentrum bildet? Der Zogalo wurde übrigens über dem Platz von Tenochtitlàn angelegt, dem Centro historico von Macht und Kultur der alten Azteken vor über 700 Jahren…?«

    »Ja und das dort drüben ist die Catedràl Metropolitana«, übernimmt Maria Peredes nahtlos Pablos Gesprächsfaden. »Prunkstücke sind der Altar de los Reyes und der Altar del Perdòn. Und das 235 m lange Gebäude dort ist der Palacio Nacional, den Hernàn Cortèz als seine Regierungsresidenz an der Stelle des alten Palastes von Moctezùma, dem letzten Aztekenkönig, errichtete und heute Amtssitz des Staatspräsidenten ist. Daneben befinden sich die restaurierten Ruinen des aztekischen Templo Mayor. Die Catedràl Metropolitana ist übrigens die grösste Kirche auf dem Kontinent; 1563 fand die Grundsteinlegung statt. Man benötigte 250 Jahre Bauzeit bis zur Einweihung. Wussten Sie, dass die Fundamente langsam auf dem weichen Untergrund absackten? Gewaltige Anstrengungen waren nötig, den Bau zu stabilisieren damit er nicht einstürzt.«

    »No, das wusste ich nicht, Señora Doktor«, gibt Pablo zu. Die Ampel springt auf Grün. Die klimatisierte Limousine setzt sich lautlos in Bewegung. »Und ich quassle Ihnen mit meinem bescheidenen Wissen die Ohren voll! Perdòn! Ich werde jetzt schweigen. Es ist nicht mehr weit bis zum Hospital San Cristòbal.«

    Die Arzt-Chirurgin wollte sich auf dem Transfer eigentlich nicht mit dem Chauffeur unterhalten; aber wenn man auf dem Beifahrersitz sitzt? Na ja, Mexikaner unterhalten sich schnell gern untereinander. Das ist ihre Mentalität. Hätte Maria Rosa hinter der Trennglasscheibe auf dem Rücksitz Platz genommen, wäre sehr wahrscheinlich kein Wort gefallen. Sie wäre sich wie ein unnahbarer Grande vorgekommen, der sich vornehm aristokratisch durch die Stadt kutschieren lässt und bei Bediensteten nur den Befehlston kennt. Das widerspricht Marias Stil und Charakter als volksnahe Ärztin.

    Das San Cristòbal gehört zu den kleineren, spezialisierten Spitälern der Stadt; es ist einer eher reicheren Klientel vorbehalten. Eine Ambulanz überholt den Mercedes mit blinkendem Blaulicht und heulender Sirene auf dem Weg zur Notaufnahmestation. Pablo steuert die dunkelblaue Luxus-Limousine vor den Haupteingang des Gebäudes. Die zehnstöckigen Flügel, erbaut im spanischen Kolonialstil, stehen in einem 70° Winkel zueinander. Das ermöglicht einen dreispurigen Kreiselverkehr. Ein Wasserspiel plätschert in der Mitte einer Grünfläche, die von Hibiskus-Hecken umrandet ist und wo ein langsam drehendes Schild den Spitalnamen in riesigen Lettern verkündet. Zwei Rollstuhlrampen führen neben der breiten Treppe zum überdachten, mehrtürigen Haupteingang hoch.

    Maria Rosa Peredes nimmt ihr Gepäck lieber mit; sie weiss ja nicht, wo der Professor sie einzuquartieren gedenkt.

    Es herrscht eine rege Betriebsamkeit in der Empfangshalle. Maria muss an der Receptiòn warten, ehe sie dran ist. Die nette Señora will speditiv und zuvorkommend sein und weist sie höflich zu den gegenüber liegenden Empfangsschaltern der Patientenaufnahme hin, ehe sie den Mund auftun kann. Besucher haben normalerweise Blumensträusse und alles Mögliche und unmögliche Mitbringsel dabei und kein Gepäck für einen Spitalaufenthalt.

    »Oh perdòn, ich bin Ärztin und keine Patientin«, korrigiert Maria das Missverständnis. »Professor Hernàn Gutierrez erwartet mich. Ich bin eine zukünftige Mitarbeiterin auf der chirurgischen Abteilung. Mein Name ist Peredes. – Doktor Maria Rosa Peredes. Würden Sie mich bitte anmelden?«

    Die freundliche Empfangsdame checkt den Termin im Computer. Tatsächlich! Sie nimmt den Telefonhörer in die Hand. Wenn die Señora Doktor kurz Platz nehmen möchte? Sie werde gleich abgeholt.

    Ein Mann bricht vor der Patientenregistrierung zusammen. Kein Wunder bei der Bruthitze! Die zahlreichen Propeller an der Decke kühlen die Halle kaum, obwohl sie hochtourig drehen und bloss einen lauen Luftzug verursachen. Der Mann zuckt und windet sich wie ein entzwei geschnittener Wurm und hat Schaum vor dem Mund. Epilepsie ist Marias erster Gedanke. Keine Epilepsie! Der Mann erbricht Speisereiste und schwarz gekalltes Blut. Durchgebrochene Magengeschwüre, ist Rosas zweiter Gedanke. Sie will helfen. Schon eilen zwei Ärzte und drei Schwestern herbei. Ein wirrer Menschenknäuel bildet sich um den Patienten.

    »Señora Doktor Peredes? – Doktor Maria Rosa Peredes?«, lenkt eine sympathische Stimme die Aufmerksamkeit vom turbulenten Geschehen ab. Sie gehört einer attraktiven, reifen Frau, die die 50 um ein Jährchen überschritten hat.

    »Ja, die bin ich«, bestätigt die Angesprochene ihre Identität.

    »Ich bin Margarida Maria Sanchez, die Sekretärin von Professor Guttierrez«, stellt sie sich vor. Ein kurzer Blick aufs Namensschild bestätigt die Identität der älteren Dame sowie die Abteilung ihres Arbeitsplatzes und die Funktion. Ein integrierter Chip regelt gleichzeitig die Zutrittsberechtigung zu gewissen Räumen im San Cristòbal. Oh ja, jede dritte Frau in Mexiko heisst Maria und noch mehr Menschen heissen Sanchez, denkt Rosa so nebenbei.

    »Willkommen im San Cristòbal. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Dr. Peredes? Ich nehme Ihr Gepäck.«

    »Gracias, es geht schon.«

    »Professor Gutierrez ist gerade auf Visite. Ich bringe Sie zuerst zu unserem Personalchef, Señor Joào Fernandez, um die Eintrittsformalitäten zu erledigen. Der Professor hat anschliessend für Sie Zeit.«

    Der Name Fernandez ist wohl ebenso wie Sanchez im Land verbreitet, geht der Gedanke durch Rosas Kopf.

    Señor Fernandez macht einen gestressten Eindruck. Er knallt den Telefonhörer unwirsch auf den Apparat und drückt den Pieper. Draussen fordert ein Leuchtschild zum Eintreten auf. Jetzt hat er sich doch kurz aufregen müssen, weil wieder einmal einer nicht spurte.

    »Ah, Señora Peredes! Ich habe Sie erwartet. Nehmen Sie Platz, Doktor«, reisst er sich zusammen. Er will einen freundlichen Eindruck machen. Der Mittvierziger steht kurz von seinem Bürosessel auf. Eine höfliche Geste weist auf den Stuhl vor dem mit Aktenbündeln überladenen Schreibtisch.

    »Ich piepe Sie an, Margo, wenn wir hier fertig sind«, komplimentiert Joào die Sekretärin des Professors aus dem Büro. »Das Gepäck der Señora Peredes lassen Sie hier.«

    Der Personalchef setzt sich hin, bevor die zukünftige Klinikmitarbeiterin Platz nehmen kann. Vielleicht ist es die Hierarchie, der Zeitmangel, der Stress, der die Höflichkeit vor einer Dame vermissen lässt. Maria Rosa stellt die Beine parallel, um ja kein falsches Signal auszusenden. Der Mann wäre kein Mann, wenn er ihre Schönheit unbeachtet liesse. Er tut es wenigstens unaufdringlich und verborgen. Er greift nach der Akte auf dem Bündel oben und schlägt sie auf. Es ist Marias Bewerbung, die er sich mit schnellen Blicken in Erinnerung ruft.

    »Sie haben einen beeindruckenden Lebenslauf«, stellt er plötzlich fest, ohne sein attraktives Gegenüber anzublicken. »Studium an der hiesigen Universität. Drei Jahre Assistenz Ärztin in diversen Abteilungen im Jesùs Hospital. Vier weitere Jahre in Guadalajara – Mérida – zwei in Acapulco – noch zwei in Tijuana… Wechsel in die Stapelton-Klinik nach San Diego… in die Transplantationschirurgie?«, fragt er fast ungläubig, ihr einen kurzen Blick zuwerfend.

    »Das ist richtig«, bestätigt Maria Rosa. » Das Stapelton bot mir die Gelegenheit, mich als Chirurgin weiter zu bilden und Erfahrung zu sammeln. Sie suchen doch eine Allgemein-Chirurgin mit dieser speziellen Qualifikation?«

    »Dann wieder zurück nach Mexiko, nach Cancùn? – Nach nur zwei Jahren?«, ignoriert der Personalchef Marias Feststellung zwischen Erstaunen und Zynismus.

    »Sie sind weit herumgekommen! Sie vollführen ja ein wahres Job-Hobbing! – Wie lange gedenken Sie denn im San Cristòbal zu bleiben?«

    Ein fast misstrauischer Blick streift Maria Rosas Gesicht.

    »Professor Gutierrez will eine Abteilung für Transplantationschirurgie eröffnen, wie Sie vielleicht wissen. Das ist der Grund, weshalb ich mich im San Cristòbal beworben habe, Señior Fernandez. Da möchte ich meinen Beitrag leisten und auch bleiben«, sagt sie entschlossen.

    »Weshalb sind Sie nach so kurzer Zeit vom Stapelton weg nach Cancùn gegangen?«

    »Die Green Card wurde wegen Änderungen im Arbeitsgesetz nicht verlängert. Ich bin Mexikanerin. Nach Cancùn ging ich, weil meine Eltern dort ein Hotel betreiben und das Spital gerade eine Arzt-Chirurgin suchte. Dass ein halbes Jahr später das San Cristòbal jemand für die Allgemein- und Transplantationschirurgie in der Ärztezeitung suchte, ist vielleicht ein Zufall. Jetzt bin ich hier auf Einladung von Professor Gutierrez, um meine Arbeit aufzunehmen. Sie finden den beidseitig unterzeichneten Arbeitsvertrag im Personaldossier, das Ihnen vorliegt, Señor Fernandez. Oder benötigen Sie weitere Angaben? Referenzen?«

    Der Personalchef presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Er wendet seine Aufmerksamkeit den Personalunterlagen zu und runzelt die Stirne.

    »Sie geben hier den Doppelnamen Peredes-Browning an. Sie sind verheiratet?«

    Maria Rosa atmet unmerklich aus.

    »Ich bin von meinem Mann geschieden, Señor Fernandez«, lautet die Feststellung trocken. »Es liegt ein Dokument beim Anwalt, das mein Mann noch unterschreiben und ich gegenzeichnen muss. Dann nehme ich wieder meinen Mädchennamen an – Maria Rosa Peredes.«

    »Haben Sie Kinder?«

    »Keine!«, bestätigt Maria innerlich erleichtert. Schweigen. Sekunden lang.

    »Es ist alles vorbereitet«, kommt Joào Fernandez auf den Punkt. »Das ist ihre Batch. Sie dient sowohl als Personalausweis als auch der Zutrittskontrolle. Ohne sie kommen Sie vor 6 Uhr morgens und nach 22 Uhr weder ins Spital hinein noch heraus. Dann müssen Sie den Sicherheitsdienst kontaktieren und ihre Anwesenheitsberechtigung nachweisen. Die haben immer grosse Freude, wenn man das Ding vergisst oder verliert und die Identität überprüfen muss. Es kostet zehntausend Pesos, wenn Sie die Karte verlieren. Hier ist der Schlüssel für den Spint. Da Ihr Pieper. Die Nummer steht darauf. Das ist die Anrufliste Ihrer Arztkollegen auf der Abteilung. Die gesamte Ärzteschaft und das Kader werden ein internes Handy erhalten, sobald die elektronischen Anlagen betriebsbereit sind. Das wird per Ende Jahr der Fall sein. Sie müssen es jeweils nach Arbeitsschluss im Ärztezimmer deponieren, wenn Sie keinen Notfalldienst haben. – Fragen?«

    Keine Fragen.

    »Dann rufe ich jetzt Margo, die Sekretärin des Professors«, sagt der Personalchef zum Gesprächsende kommend. »Sie wird Sie zum Professor bringen und Ihnen alles zeigen. Willkommen im San Cristòbal.«

    Ein freundliches Lächeln. Ein formaler Händedruck. Das Eintrittsgespräch ging schnell und speditiv von statten.

    Die Sekretärin wartet draussen im Vorzimmer des Personalchefs.

    »Professor Gutierrez hat mir gerade gemeldet, dass er noch immer auf Visite ist«, sagt Margarida Maria Sanchez, genannt Margo, fast entschuldigend. »Ich schlage vor, Sie beziehen Ihre Arbeitskleidung. Dann zeige ich ihnen den Spint. Einverstanden?«

    Was soll Frau Doktor entgegnen? Eine gute Idee, die Wartezeit produktiv zu überbrücken.

    Die Señora in der Kleiderabteilung hat ein gutes Auge. Der Arztmantel passt auf Anhieb. Vier zum Anfang. Darunter trage man zivil während der Sprechstunde oder auf Patientenvisite einen Jupe. Man könne auch einen Sechsersatz weisse Shirts und drei Hosen beziehen, was gewiss hygienischer sei, betont die Garderobiere eindringlich: Maria Rosa kann nicht nein sagen. Viele Patienten verehren Ärzte als Götter in Weiss, denkt sie, was sie aber für sich strikt ablehnt.

    Margo übernimmt das Gepäck, Frau Doktor das Kleiderbündel. Der Spint befindet sich im Damenumkleideraum für Ärztinnen auf der chirurgischen Abteilung, fein säuberlich und moralisch von dem ihrer männlichen Kollegen getrennt. Es gibt Dusch- und Toilettenkabinen, Haartrockner, Spiegel und Schminktische. Es ist niemand da. Der Schichtwechsel findet erst um 19 Uhr statt. In den Schränken hängen ein paar Kleiderbügel, die man nicht von der Querstange entfernen kann und einen separaten Tresor mit einer vierstelligen elektronischen Kombination für die Wertsachen. Wir sind in Mexiko. Da gibt es überall Langfinger, denkt Maria Peredes. Die Handtasche, den Trolley und den Koffer nimmt sie lieber mit ins Büro des Chefarztes. Die Sekretärin hat dafür Verständnis. Was nicht Niet- und Nagelfest ist, wird mitgenommen, um es milde auszudrücken. Spiegel, Waschbecken, sogar ganze Toiletten mitsamt Spülkasten verschwanden unauffindbar während der Renovationsarbeiten der sanitären Anlagen, die noch nicht fest (sprich diebstalsicher) montiert waren.

    Maria Rosa muss in Margos Vorzimmer nur wenige Minuten auf den Professor warten.

    »Perdòn. Meine Arztvisite hat länger als geplant gedauert. Willkommen in meinem Team«, sagt eine warme sonore Stimme. Der Händedruck ist sanft und angenehm. Ein Chefarzt entschuldigt sich? Ein eher seltenes Verhalten gegenüber untergebenen Mitarbeitern. Sein spanisches Aussehen wirkt sehr sympathisch aufs weibliche Geschlecht. Er hat mit seinen 52 Jahren eine vertrauensvolle, fast väterliche Ausstrahlung.

    »Señoras! Señores! Das ist Doktor Maria Rosa Peredes«, stellt er sie seinem Ärztetross vor, der ihn auf der Visite begleitet. Es ist ein gemischtes Team von Frauen und Männern. Die beiden jungen Burschen scheinen Medizinstudenten in den höheren Semestern zu sein. »Sie wird als Oberärztin meine Stellvertreterin in der Transplantationschirurgie sein. Sie wird auf der Abteilung eine eigene Praxis haben und mich als Leitende Ärztin in der Allgemeinchirurgie vertreten – neben Dr. Alfredo Nuñez, der mein 1. Stellvertreter als Oberarzt bleibt«, betont Hernàn Gutierrez ausdrücklich, um ein Hierarchiegerangel zu vermeiden. Maria Rosa quittiert das Nicken des Angesprochenen mit einem unverbindlichen Lächeln, ebenso das der Stationsschwester der Allgemeinen chirurgischen Abteilung. Sie heisst Belèn Rodriguez. Ihr durchaus hübsches, etwas hart geschnittenes Gesicht macht einen eher resoluten Eindruck. Ein Häubchen unterscheidet sie als Schwester von den Ärzten. Es thront leicht und keck auf ihrer melierten, hochgesteckten Lockenpracht. Offenes Haar ist im San Cristòbal für das gesamte weibliche Personal aus hygienischen Gründen untersagt – und das nicht nur im San Cristòbal-Hospital. Man heisst die neue Mitarbeiterin im Team willkommen, versichert ihr die ärztliche Kooperation und wünscht ihr einen guten Arbeitsstart.

    »Wir verschieben das De-Briefing der Visite auf morgen früh um 8«, entlässt der Chefarzt die Arztkollegen, die Abteilungsschwester und die beiden Medizinstudenten aus dem Sekretariat. Er komplimentiert Maria Peredes in sein Büro. Margo hebt hinter seinem Rücken am Bildschirm den Daumen und lächelt. Die Frau Doktor hat auch für Frauen einen ansprechenden Charme, dem die Sekretärin erlegen ist.

    »Hier im San Cristòbal wird es deutlich reger zugehen als in Cancùn, als Sie es vielleicht gewohnt sind. Por favor: Nehmen Sie Platz«, sagt der Professor. Er setzt sich auf den Chefsessel hinter seinem ausladenden Mahagoni-Schreibtisch.

    »Nun, das hoffe ich«, erwidert Maria Rosa, der Aufforderung folgend und lächelt. Sie vermeidet tunlichst, die Knie zu kreuzen, um ja kein falsches Signal zu senden. Der Saum des Armani-Kostüm liegt beim Sitzen ziemlich hoch.

    »Sie hatten einen guten Flug?«, erkundigt sich der Hernàn Gutierrez. Er ist doch viel zugänglicher und herzlicher als der Personalchef des Spitals.

    »Bueno. Eine Stunde Verspätung ist in Mexiko doch ziemlich pünktlich – solange es nicht die Arbeit betrifft«, setzt Maria entwaffnend hinzu.

    »Da haben Sie allerdings Recht.«

    »Darf ich Sie etwas fragen, Señior Professor Gutierrez?«

    »Fragen Sie – por favor«, lautet die Aufforderung höflich.

    »Pablo – Ihr Privatchauffeur – hat mir gesagt, Sie hätten ihn angewiesen, mich direkt ins San Cristòbal und nicht in meine Wohnung im Ärztehaus zu fahren. Unser Termin wäre doch erst morgen? – Ist etwas mit meiner Wohnung?«

    Der Gefragte räuspert sich und rückt sich auf dem Chefsessel zurecht.

    »Allerdings! Es tut mir Leid, sagen zu müssen: Es hat bei den Renovationsarbeiten einen Brand gegeben…«

    »Oh!«

    »Wir müssen neu renovieren! Aber ich kann Ihnen anbieten, vorübergehend entweder im Personalhaus der Schwestern und Pfleger zu logieren oder in ein Hotel zu ziehen, bis die Arbeiten abgeschlossen sind – in etwa 14 Tagen! Es wird gehörig nach frischer Farbe riechen. – Wenn Sie wollen, können Sie auch bei meiner Frau und unserer Tochter Pita wohnen. Wir haben genügend Platz und eine Wohnung im Haus, wo sie frei und franko

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