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Unpraktische Pädagogik: Untersuchungen zur Theorie und Praxis erziehungswissenschaftlicher Lehre
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eBook548 Seiten6 Stunden

Unpraktische Pädagogik: Untersuchungen zur Theorie und Praxis erziehungswissenschaftlicher Lehre

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Über dieses E-Book

Diese Arbeit widmet sich einer fallrekonstruktiven Untersuchung der Lehrpraxis der Erziehungswissenschaft im Lehramtsstudium. Auf der Grundlage empirischer Interaktionsanalysen versucht sie neue Antworten auf alte Fragen zu geben: Was soll und kann ein universitäres erziehungswissenschaftliches (Lehramts-)Studium sein und leisten und was nicht? In diesem Zuge werden zugleich die Kardinalthemen des Selbstbeobachtungsdiskurses der schwierigen Disziplin Erziehungswissenschaft (Disziplinäre Identität, Normativität, Theorie-Praxis-Problem) im Lichte neuer Einsichten in die Wirklichkeit ihrer Lehre diskutiert.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer VS
Erscheinungsdatum27. März 2021
ISBN9783658332174
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    Buchvorschau

    Unpraktische Pädagogik - Hannes König

    © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021

    H. KönigUnpraktische PädagogikRekonstruktive Bildungsforschung34https://doi.org/10.1007/978-3-658-33217-4_1

    1. Exposition

    Hannes König¹  

    (1)

    Halle, Deutschland

    Hannes König

    Email: hannes.koenig@zsb.uni-halle.de

    Diese Arbeit widmet sich einer rekonstruktiven Untersuchung der Praxis erziehungswissenschaftlicher Lehre. Sie geht insofern von einem empirischen Ausschnitt der Wirklichkeit aus, der nicht erst theoretisch als solcher mit Bedeutung versehen wurde, sondern der von der alltäglichen Praxis selbst schon als abgegrenzter Bereich von Bedeutung verstanden wird. Die Logik der Untersuchung ist nicht die, von einem theoretischen Modell – etwa dem der ödipalen Triade – auszugehen und dieses der empirischen Bewährung auszusetzen, indem wir eine empirische Untersuchung im beanspruchten Geltungsbereich des Modells – familiale Interaktion – vornehmen. Die Arbeit beruht vielmehr auf der Vorstellung, dass die erziehungswissenschaftliche Lehre an der Universität in sich ein kultur- und theorierelevantes Phänomen darstellt, das der empirischen Untersuchung wert ist. Die Arbeit ist insofern in ihren Grundzügen explorativ angelegt. Theoretische Referenzrahmen werden wir – teilweise auf spezifische Weise – aufgreifen, wo das Datenmaterial sie uns aufdrängt.

    Dieses tentative Vorgehen halten wir auch deshalb für zweckmäßig, weil unser Untersuchungsgegenstand und seine Theoretisierung auf spezifische Weise ineinander übergehen. Insofern wissenschaftliche Forschung und wissenschaftliche Lehre eine Einheit bilden, bilden auch erziehungswissenschaftliche Forschung und erziehungswissenschaftliche Lehre eine Einheit. Daraus ergeben sich zwei ungewöhnliche Implikationen im Verhältnis unserer Untersuchung zu ihrem Gegenstand:

    Erstens untersucht sich die Arbeit im genannten Sinn selbst. Wenn in der Struktur erziehungswissenschaftlicher Lehre die Struktur erziehungswissenschaftlicher Forschung zum Ausdruck kommt, dann gelten Aussagen über die allgemeine Struktur erziehungswissenschaftlicher Lehre, wie sie in dieser Arbeit getroffen werden, vermittelt auch für die Arbeit selbst. Diese Vermittlung geht mit einer Transposition der Ausdrucksmaterialität einher: Der Strukturkern erziehungswissenschaftlichen Handelns müsste sich sowohl in erziehungswissenschaftlicher Lehre wie auch in erziehungswissenschaftlicher Forschungsarbeit – wie der vorliegenden – in je spezifischen Ausdrucksgestalten materialisieren. Diese Spezifik wird bedingt durch die jeweils vorliegende Ausdrucksmaterialität: (Text)Protokolle von Lehrinteraktionen zum einen, das sich selbst protokollierende Protokoll erziehungswissenschaftlichen Forschens, welches diese Arbeit zu sein beanspruchen muss, zum anderen. Die Arbeit stellt insofern nicht ein theoretisches Modell dar, dessen Geltungsanspruch denjenigen, der es vertritt, einschließt, weil es auf einer besonders allgemeinen Generalisierungsebene angelegt ist – wie das Modell der ödipalen Triade jede menschliche Ontogenese zu betreffen beanspruchen muss –, sondern sie liegt beinahe im Zentrum ihres eigenen, eng geführten gegenständlichen Interesses.

    Zweitens bezieht die Arbeit sich auch auf die theoretische Selbstdeutung ihres Gegenstands, die Theorie erziehungswissenschaftlichen Handelns (die auch eine Theorie erziehungswissenschaftlicher Lehre ist), in doppelter Hinsicht. Denn auch in diese Richtung gilt die Aussage: Wenn es einen Strukturkern erziehungswissenschaftlichen Handelns gibt, der sich in erziehungswissenschaftlicher Lehre und Forschung Ausdruck verschafft, dann bildet der erziehungswissenschaftliche Diskurs für uns, wenn wir uns für die Spezifik erziehungswissenschaftlicher Lehre interessieren, auch einen impliziten Forschungsgegenstand. Wir beziehen uns auf diesen Diskurs nicht nur als theoretischen Diskurspartner in Form einer scientific community, mit der wir uns vermittelt über das Medium der Publikation, austauschen, sondern wir beziehen uns auf diesen Diskurs implizit auch als eine Ausdruckgestalt erziehungswissenschaftlichen Denkens und mithin erziehungswissenschaftlicher Lehre.

    Diese beiden Besonderheiten – die explorative Anlage der Untersuchung zum einen und die enge Verwachsenheit von Gegenstand und Gegenstandstheorie zum anderen – haben uns veranlasst, der Arbeit eine eher ungewöhnliche Form zu geben. Es werden im Folgenden in drei Anläufen drei Aspekte erziehungswissenschaftlicher Lehre in den Blick genommen: Die disziplinäre Identität der erziehungswissenschaftlichen Lehre, die Normativität der erziehungswissenschaftlichen Lehre und der implizite Bezug auf den berufspraktischen Anspruch der erziehungswissenschaftlichen Lehre im Rahmen des Lehramtsstudiums. Diese drei Aspekte sind in der Sache natürlich verwandt und generieren keinesfalls ontologisch distinkte Bereiche der Erziehungswissenschaft. Sie werden sich unweigerlich immer wieder überlappen und wir werden gezwungenermaßen über dieselben Phänomene und dieselben Strukturen dann und wann mit unterschiedlichen Begriffen sprechen.

    Denn mit diesen drei Aspekten verbinden sich in der disziplinären Selbstbeobachtung unterschiedliche Diskursstränge. Diese Stränge werden wir jeweils darstellen und diskutieren, auch indem wir sie mit allgemeineren Theoriemodellen wissenschaftlichen Handelns und Lehrens vergleichen (Kap. 3, 5 und 7). Anschließend werden wir jeweils einen Fall erziehungswissenschaftlicher Lehre rekonstruieren (Kap. 4, 6 und 8). Dabei wird implizit die eben vorgestellte These empirisch zu plausibilisieren versucht, dass sich die Strukturen erziehungswissenschaftlichen Denkens, um die es in den theoretischen Kapiteln geht, in den Strukturen erziehungswissenschaftlichen Handelns, die in den Rekonstruktionen von Interaktionen in der erziehungswissenschaftlichen Lehre untersucht werden, reproduzieren. Es wird – um ein Beispiel zu geben – etwa versucht zu zeigen, dass der theoretische Diskurs über das Problem der erziehungswissenschaftlichen Normativität strukturelle Analogien zur Bearbeitung von Normativität in der erziehungswissenschaftlichen Lehre aufweist.

    Schließlich stellt sich die Frage nach der Generalisierung unserer Ergebnisse. In der Objektiven Hermeneutik, der Interpretationsmethode, mit der wir arbeiten werden,¹ werden normalerweise zwischen einer Generalisierung im Sinne einer Typologie und einer Generalisierung im Sinne einer Herausstellung struktureller Handlungsprobleme einer Praxis unterschieden. Unsere Rekonstruktion zielt dabei primär auf letzteres. Wir werden zu zeigen versuchen, inwieweit sich jeder erziehungswissenschaftlichen Lehre die Handlungsherausforderung stellt, sich zu den Strukturproblemen der Normativität, der disziplinären Identität sowie dem Verhältnis von „Theorie und Praxis" zu positionieren. Andersherum ausgedrückt erweist diese Lehre sich als eine erziehungswissenschaftliche gerade dadurch, dass sie sich zu diesen drei Strukturproblemen positioniert. Dass man hieraus leicht ein typologisches Tableau skizzieren könnte, liegt auf der Hand.

    Den theoretischen Vorlauf der Arbeit im klassischen Sinne kann man in zwei aufeinander aufbauende gegenstandstheoretische Abstammungslinien umreißen: Arbeiten zur Praxis erziehungswissenschaftlicher Lehre zum einen, Arbeiten zur Praxis universitärer Lehre überhaupt zum anderen. Diese beiden Forschungslinien muss man sich allerdings eher als schmale Bächlein vorstellen denn als reißende Ströme:

    Primär richten wir unsere Aufmerksamkeit – wie gesagt – auf die Eigenart der Erziehungswissenschaft im Spiegel ihrer Lehrpraxis. Die Arbeiten zur Eigenart der Erziehungswissenschaft mögen Legion sein.² Empirisch eng geführte Arbeiten zur erziehungswissenschaftlichen Lehre – zumal als Praxis – aber liegen bisher nur in Ansätzen vor. An Keiners mittlerweile 20 Jahre altem Befund, dass „das empirische Wissen über die Struktur erziehungswissenschaftlicher Lehre als Indikator für die disziplinäre Gestalt der Erziehungswissenschaft noch relativ gering [sei]" (Keiner 1999, S. 47), hat sich wenig geändert. Erst in den letzten Jahren haben sich einige Forschungsaktivitäten in diese Richtung abzuzeichnen begonnen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese Bemühungen zumeist enger fokussiert sind: Es geht ihnen eher um spezifische Themen (wie Inklusion, forschendes Lernen) oder spezifische Lehrformate (wie Kasuistik, Praxisphasen/ Praktika). Wir werden auf diese Arbeiten an geeigneter Stelle zu sprechen kommen. Insgesamt kann man bezüglich der (Praxis der) Lehre der Erziehungswissenschaft von einem eher punktuellen empirischen Forschungsaufkommen sprechen. Sieht man von kompetenztheoretisch angelegten Leistungsmessungen ab, die sich für die Praxis der Lehre im engeren Sinne qua Paradigma gerade nicht interessieren, liegen offen angelegte systematische empirische Bestimmungsversuche der erziehungswissenschaftlichen Lehrpraxis bisher kaum vor.³

    Sekundär werden wir uns im Rahmen der Untersuchung – sozusagen notgedrungen – mit der allgemeinen Struktur der Praxis universitärer Lehre beschäftigen. Um die Struktur der Praxis erziehungswissenschaftlicher Lehre zu rekonstruieren, ist es unumgänglich, auch die Struktur der Praxis universitärer Lehre überhaupt zu rekonstruieren. Auch bezüglich dieses Gegenstands liegt aktuell erstaunlich wenig empirische Forschung vor, wenn wir von hochschuldidaktischen Schriften absehen.⁴ Dies mag mit der alltagspraktischen Hemmung zusammenhängen, Kolleginnen und Kollegen in einem normalerweise nur für die Studierenden einsichtigen Bereich ihrer Arbeit ‚über die Schulter zu schauen‘, die sich die Forschungspraxis selber hemmend zu eigen macht.⁵ Noch verschärft wird diese Hemmung, wenn wir mit einer Untersuchungsmethode arbeiten, die auf die Explikation latenter Sinnstrukturen zielt, die von den Akteuren selbst gerade nicht wahrgenommen werden und häufig aus guten Gründen auch nicht wahrgenommen werden „wollen" bzw. „können".⁶ Sicherlich auch aufgrund dieser Bedenken war das Interesse an einer empirischen Erforschung der Praxis universitärer Lehre bisher allem Anschein nach verblüffend gering.⁷ Während die rekonstruktive Schul- und Unterrichtsforschung in den letzten 30 Jahren im Prinzip ihre grundlagentheoretische Arbeit mehr oder weniger getan zu haben scheint und sich aktuell vornehmlich mit Spezialproblemen, Nachbesserungen und Anwendungsfragen beschäftigt, stehen wir bezüglich der Frage „Was geschieht im Seminarraum?", um es in Anlehnung an den einschlägigen Band von Combe und Helsper (1994) zu sagen, noch am Anfang.⁸

    Fußnoten

    1

    Vgl. Wernet 2009 zum methodischen Vorgehen; zu den methodologischen Grundlagen Oevermann et al. 1979 sowie Oevermann 1981.

    2

    Vgl. zur jüngeren disziplinären Selbstbeforschung insbesondere die Schriftenreihe der Kommission Wissenschaftsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Einen adäquaten Überblick über die erziehungswissenschaftliche Selbstbeforschung vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart gibt Horn (2014) in seiner Antrittsvorlesung. Ferner sei auf das von Fatke und Oelkers herausgegebene 60. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik mit dem Thema Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft (2014a) hingewiesen.

    3

    Vgl. hierzu den einleitenden Überblick im Heft Die Praxis der Lehrer*innenbildung (2019) der Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung: Kunze et al. 2019.

    4

    Vgl. auch Kollmer 2019, S. 5 f.

    5

    Vgl. allgemeiner zum Problem der forschungspsychologischen Widerstände in der Erziehungswissenschaft Rademacher 2018 in Anlehnung an Devereux‘ klassische Studie Angst und Methode (1967).

    6

    Zu dieser forschungspraktischen Spezifik und ihren Implikationen vgl. Wernet 2018c.

    7

    Eine Ausnahme stellen diesbezüglich die jüngeren Arbeiten Tyagunovas (2017, 2019) dar.

    8

    Die vorliegende Arbeit ist entstanden im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts FAKULTAS – Zwischen heterogenen Lehrkulturen und berufspraktischen Ansprüchen: Fallrekonstruktionen zur universitären Ausbildungsinteraktion im Lehramtsstudium (Leitung: Andreas Wernet). Die im Projektkontext entstandenen Publikationen, die ich an geeigneter Stelle anführen werde, stellen einen maßgeblichen Bezugspunkt für sie dar.

    © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021

    H. KönigUnpraktische PädagogikRekonstruktive Bildungsforschung34https://doi.org/10.1007/978-3-658-33217-4_2

    2. Präludium: Deutungsmuster

    Hannes König¹  

    (1)

    Halle, Deutschland

    Hannes König

    Email: hannes.koenig@zsb.uni-halle.de

    2.1 „Eine ganz normale Disziplin"

    ¹

    Mit ihrer Institutionalisierung als Fach an den Hochschulen, mit der Einrichtung dauerhafter erziehungswissenschaftlicher Lehrstühle und erziehungswissenschaftlicher Institute und Seminare und schließlich mit der Möglichkeit, sich in diesem Fach zu habilitieren, wurde die Erziehungswissenschaft im 20. Jahrhundert an den wissenschaftlichen Hochschulen irreversibel etabliert – mit allen Konsequenzen die eine solche Einrichtung mit sich bringt. (Horn 2003, S. 168)

    Mit dieser vielsagenden Formulierung resümiert Horn das Ergebnis der Entwicklungsgeschichte der deutschen Erziehungswissenschaft im 20. Jahrhundert. Der nüchternen Feststellung einer Etablierung der Disziplin bzw. ihres Etabliert-Werdens folgen eine bedeutungsschwangere Betonung der Irreversibilität dieser Etablierung und eine etwas nebulöse Andeutung bezüglich aus ihr folgender Konsequenzen. Dieser Riss in der Fassade der Erfolgserzählung, welcher von Horn vornehm nur alludiert wird, verweist auf das Interessenzentrum dieser Arbeit. Denn im Folgenden richten wir unsere Aufmerksamkeit auf jene Aspekte der Erziehungswissenschaft, die in den zahlreichen Selbstanalysen dieser Disziplin zumeist nur implizit oder latent thematisiert werden. Erkundet man das Genre der erziehungswissenschaftlichen Selbstbeschreibungs-Literatur, trifft man auf eine Reihe wohlerwogener, aber bestimmter Erfolgsbilanzen.² Gleichwohl werden diese notorisch von schattenhaften Ambivalenzmarkierungen flankiert. Das liest sich typischerweise so:

    Die Pädagogik verfügt über spezialisierte Subdisziplinen, Wissenschaftsorganisationen und Fachkommissionen, zahlreiche wissenschaftliche Fachzeitschriften, einige davon auch mit einem strengen Review-System, und es werden regelmäßig erziehungswissenschaftliche Kongresse und Tagungen im In- und Ausland durchgeführt. So gesehen ist die Erziehungswissenschaft sowohl eine relevante wie anerkannte Disziplin im Wissenschaftssystem. Auch den heute im Wissenschafts- und Hochschulsystem gegebenen Funktionen, also den Forschungs-, Lehr- und korporativen Verwaltungsfunktionen stellt sich das Fach ähnlich erfolgreich oder bisweilen erfolglos wie andere Fächer. Vertreter der Pädagogik werden auch außerhalb des Hochschulbetriebs in gesellschaftlichen Praxisbereichen als gesellschaftliche Experten herangezogen und kommen (oft aus Zeitgründen und Überlastung) nur mühsam – wie Vertreter anderer Disziplinen auch – ihren kulturellen Aufgaben sowie ihrem Engagement in der wissenschaftlichen Weiterbildung und Berufsfortbildung nach. (Tippelt 2002, S. 43f.)

    Oder knapper: „Die Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft […] hat die äußeren Merkmale einer stabilen ausdifferenzierten wissenschaftlichen Disziplin aufzuweisen. (Tippelt 2002, S. 43) Doch diese Befunde provozieren, indem sie geäußert werden, Nachfragen. Nicht jedes universitäre Fach kommt ungefragt zu solchen beschwichtigenden Selbstdarstellungen. Sie sind der Pädagogik nicht nur dem Tonfall und dem Gestus nach eigentümlich. Es scheint ein Moment in ihrem Zustand oder in ihrem Verhältnis zur Umwelt zu liegen, das diese Selbstgewissheitsbekundungen hervorbringt. Ein normalisierender Hinweis auf die rein altersmäßige „Jugend des akademischen Faches, den man gelegentlich hört, geht an der spezifischen Situation der Erziehungswissenschaft vorbei.³ Das zeigt sich einerseits im Vergleich mit anderen Fächern: Die Soziologie ist – im Durchschnitt der historischen Auslegungen – nicht so viel älter. Die Informatik ist deutlich jünger. Und doch klingen die jeweiligen Selbsteinschätzungen von Informatikern, so sie überhaupt welche publizieren, und Soziologen – kaum überraschend – anders; nämlich selbstsicherer, bruchloser. Das wirft die Frage auf, welches Unbehagen sich eigentlich in den eigentümlichen Selbst-Erfolgs-Bescheinigungen der Erziehungswissenschaft artikuliert. Welche „große Aspiration" (Oelkers 1989) lastet auf der Erziehungswissenschaft oder anders gefragt: Welcher Zweifel zieht auf, sobald angehoben wird, ein Lob auf die Disziplin auszusprechen?

    2.2 „Eine verachtete Disziplin"

    So lang man Pädagogik an der Universität studieren kann und muss, erweckt die akademische Disziplin, die für dieses Studium verantwortlich ist, ein allgemeines Misstrauen. Sie erweckt Misstrauen bei den Studierenden, den akademischen Kollegen, der Bildungspolitik, nachgerade der gesamten nichtakademischen Umwelt – und nicht zuletzt weckt sie schließlich geradezu unvermeidlich auch Selbstzweifel bei ihren eigenen Vertretern. Dieser Umstand ist von so allgemeiner Bekanntheit, dass wir ihn hier nur grob zu skizzieren brauchen. (vgl. Ricken 2007a) Selbst wer noch nie eine Universität betreten hat, weiß oder ahnt, dass Pädagogik respektive Erziehungswissenschaft nicht zu den etablierten, stabilen, angesehenen, „eleganten" Studienfächern zählt. Wie wird dieser schlechte Ruf begründet?

    Zunächst einmal fehlt es der Erziehungswissenschaft dem allgemeinen Urteil nach an Autorität und Würde. Sie ist ein „weiches Fach, wenn nicht das „weichste von allen. Die formalen Bedingungen, Erziehungswissenschaft zu studieren, sind niedrig. Man bedarf keiner besonderen Begabung und keiner besonders herausragenden Schulnoten. Das Studium verheißt reproduktionslogisch folgerichtig auch keine glanzvolle Karriere. Man studiert Erziehungswissenschaft normalerweise deshalb, weil man einen pädagogischen Beruf ergreifen möchte; mithin als Mittel zum Zweck. Das Fach macht einen inneruniversitär zum Brotstudenten, wobei das Brot, das der Abschluss verspricht, dann noch nicht einmal allzu üppig ausfällt, vergleicht man es mit anderen typischen Brotstudiengängen wie etwa Jura, Medizin und den ingenieuralen Fächern.

    Doch man misstraut auch der pädagogischen Wirkung der Erziehungswissenschaft. Die Frage lautet: Was hat die akademische Pädagogik der modernen Gesellschaft für Erfolge beschert? Die Antwort: Man weiß es nicht. Man kann mit ihr jedenfalls „nicht zum Mond fliegen", wie es ein dazu in einem Interview befragter Student ausgedrückt hat.⁴ Konnte sie dann wenigstens Misserfolge von uns abwenden? Nicht einmal das. Die PISA-Ergebnisse wurden schnell zum Beleg des vorher Geahnten stilisiert: Die (deutsche) Pädagogik unterbietet zur allseitig gespielten Überraschung („PISA-Schock) noch das erwartbarste. Selbst an der machbaren Aufgabe, in einer derart fortschrittlichen und erfolgreichen Gesellschaft wie der deutschen, ein repräsentables Schul- und Bildungssystem zu besorgen, ist sie kläglich gescheitert. (vgl. Radtke 2003, S. 109)⁵ Dass man in der Zeitung nie von erziehungswissenschaftlichen Entdeckungen oder Erfolgen liest, sondern allenfalls davon, woran sie wieder einmal gescheitert ist, scheint das ewige Los dieser Disziplin zu sein. Fast ist man geneigt Mitleid zu empfinden angesichts der Unfähigkeit und Ungeschicktheit, die man der Erziehungswissenschaft zu attestieren sich gezwungen sieht.⁶ Ähnlich wie man wohlmeinend zugibt, dass die Lehrer einen „harten Job machen – wenn auch nicht gut –, lässt man sich – jedenfalls im saturierten akademischen Milieu – günstigstenfalls zu der Konzession herab, dass die Erziehungswissenschaft es „auch nicht leicht" hat.⁷

    Doch Mitleid ist mitnichten die dominante Reaktion auf die Erziehungswissenschaft. Wie keine zweite zieht die Disziplin Häme auf sich. Noch von Zeitungsreportern muss sie sich attestieren lassen, sie sei nur „bedingt wissenschaftlich", wie in einem vielbeachteten⁸ Artikel in der ZEIT von 2005 prägnant getitelt wurde. Dilthey urteilte bereits 1888, es handle sich um eine „Anomalie unter den Wissenschaften". Der Anschein der historischen Persistenz, den diese zwei Schlaglichter erwecken, lässt sich leicht an weiteren Beispielen erhärten. Es ist doch bemerkenswert, zu was für ähnlichen Einschätzungen so ungleiche Beobachter wie die OECD und Siegfried Bernfeld zu so ungleichen Beobachtungszeitpunkten kommen. Heißt es bei den Gutachtern ersterer 2002:

    Education is not an autonomous discipline. Like medicine or architecture it relies on the other disciplines for its theoretical foundation. But, unlike architecture or medicine, education is still in a primitive stage of development. It is an art, not a science. (OECD 2002, S. 9)

    So lautete Bernfelds erstaunlich ähnlichklängiges Verdikt von 1925:

    Unter allen gesellschaftlichen, kulturellen Tätigkeiten entbehrt fast allein die Pädagogik dieser Tatbestands-Gesinnung: der Wissenschaftlichkeit. Sie steht beinahe auf der Entwicklungsstufe, welche die Medizin innehatte, als Heilkunst und Heilwissenschaft voneinander unabhängig bestanden, ja als die Heilwissenschaft noch nicht erfunden war. […] Aber die Mittel dieser primitiven, animistischen Medizin hatten an sich nichts mit dem Heilerfolg zu tun. (Bernfeld 1925, S. 13f.)

    Dass die Erziehungswissenschaft ein anhaltendes Statusproblem hat, kann insofern als common sense betrachtet werden. Aber es klingt auch bereits an, mit welchen materialen Mängeln dieses Statusproblem begründet wird. Zwei Defizitzuschreibungen stehen im Raum. Die erste lautet: Die Erziehungswissenschaft sei eigentlich gar keine (autonome) Wissenschaft, kein auf Wahrheit und Methode gebautes Gebilde, sondern, ohne dass dieser Begriff benutzt wird, eine Pseudo-Wissenschaft; eine Ideologie, eine Sammlung abergläubischer Phrasen, die sich zu unrecht als Wissenschaft ausgibt. Dieser Vorwurf misst die Erziehungswissenschaft an ihrer Wissenschaftlichkeit und bescheinigt ihr unter diesem Gesichtspunkt gravierende Defizite. Der andere Vorwurf lautet: Die Pädagogik als „praktische Seite der philosophischen Fakultät (Trapp) kommt ihren praktischen Aufgaben in der außerwissenschaftlichen Welt nicht im ausreichenden Maße nach. Egal ob man von ihr erwartet, der Politik Expertisen bereitzustellen, die allgemeine Öffentlichkeit „aufzuklären oder direkt Einfluss auf die pädagogische Praxis, also zuvorderst auf die Schule, zu nehmen und ihr funktionale Handlungsorientierungen bereitzustellen oder schließlich ob man ihren praktischen Beitrag primär in ihrer ausbildungspraktischen Funktion verortet – was all diese Aufgaben angeht, bestehen Zweifel, ob die Erziehungswissenschaft diesen ihren pädagogischen Pflichten in gebührender Weise nachkommt.

    2.3 „Der Traum von einer besseren Pädagogik"

    In den um Kreativität bemühten Beiträgen zur Geringschätzung der Pädagogik ist immer auch ein Moment der Enttäuschung enthalten. Man lehnt nicht die Idee einer akademischen Pädagogik oder Erziehungswissenschaft ab – im Gegenteil –, sondern ist enttäuscht über ihre faktische Realisierung. Der Traum von einer besseren Pädagogik geht der Verachtung der realen Erziehungswissenschaft voraus. Den zentralen Motor dieser Verachtung hat die Schulpädagogik der akademischen Erziehungswissenschaft vererbt. Adorno hat ihn in dem Vortrag Tabus über dem Lehrberuf in der Figur der „Delegation und Verleugnung auf den Begriff gebracht. (vgl. Adorno 1959) Diese besagt im Kern, dass der Lehrer, wo er verachtet wird, zum Sündenbock für ein vermeintliches Scheitern gemacht wird, für das er nichts kann. An ihn wird eine gesellschaftliche „Aufgabe delegiert, die nicht erfüllt werden kann. In der Folge wird er nun aber nicht nur für sein Scheitern an dieser Aufgabe verurteilt, sondern auch für die Aufgabe selbst. Die Hoffnung, die man in der Erteilung einer „unmöglichen Aufgabe" peinlicherweise auf ihn gelegt hatte, wird verleugnet; und der Hoffnungsträger zum Sündenbock.¹⁰

    Diesen Zusammenhang beziehen jene pädagogischen Stimmen nicht ein, die die Achtung der Erziehungswissenschaft manipulativ hervorbringen wollen. Es wird die Skeptiker nicht beeindrucken, wenn man ihnen vorrechnet, welche enorme Größe und welchen Einfluss die Erziehungswissenschaft heute hat – im Gegenteil wird es ihren Groll eher noch verstärken. Weder der Code der Positivität, der den pädagogischen Euphemismus kennzeichnet, wird dazu beitragen, die Verachtung zu lindern, noch die beiläufige und betont gelassene oder aber die feierliche Erklärung, die Erziehungswissenschaft habe bereits den Status der wissenschaftlichen Normalität inne. Die Zweifel, die der Disziplin entgegengebracht werden, sitzen tiefer und werden sich von solchen Tricks nicht einlullen lassen.¹¹

    Man kann angesichts dieser neurotischen Zusammenhänge natürlich auch entscheiden, die Sache auszusitzen und zu ihr zu schweigen. In der Disziplin hat diese Tabuisierungslösung viele Anhänger, die streng darauf achten, dass sie eingehalten wird. Mit geradezu erzieherischer Härte werden jene Erziehungswissenschaftler getadelt, die es sich erlauben über den Status der Disziplin zu „jammern". (Tenorth 2011, S. 21; vgl. auch Keiner/Tenorth 2007, S. 155) Eine solche Rüge handelt sich etwa der Herausgeber des Bandes Über die Verachtung der Pädagogik ein, der – anscheinend schon qua Betitelung – dem Sog der Abwertung der Disziplin neues Futter lieferte. Stattdessen sei positiver Realismus die Forderung des Tages. Schon Anfang der 1990er Jahre sorgte die tonangebende Beurteilung für Beachtung (und wird auch heute noch gern zitiert), dass der „lauten Klage über die Pädagogik – nicht nur über ihren Status als wissenschaftliche Disziplin – ein „stiller Sieg hinsichtlich der Einlösung ihrer programmatischen Zwecke entgegenstehe. (vgl. Tenorth 1992) Man kann dies auch als einen Versuch deuten, der benannten Tradition der Negativdeutung, die als „laute Klage bezeichnet wird, ein Ende zu setzen, indem man sie durch das neue, suggestive Narrativ des „stillen Siegs ersetzt.

    Aber unabhängig davon ob disziplinpolitisch oder pädagogisch motiviert oder nicht – ein solches Motiv läge jedenfalls objektiv vor –; wenn man den Diskurs um die „Anormalität der Disziplin Erziehungswissenschaft (vgl. Herzog 2005, Vogel 2016a, Tenorth 2016) – wenn überhaupt – nur implizit als historisch zu überwindende Anomalie würdigt und stattdessen ihre „Normalität hervorkehrt, richtet man seinen Blick gezielt auf die stabilen Bestandteile der Disziplin und schaut vorbei an ihren Instabilitäten. Schaut man hingegen nur auf das, was die Erziehungswissenschaft (vermeintlich) nicht ist oder (noch) nicht leistet (aber aus systematischen Gründen sein bzw. leisten sollte), schaut man vorbei an dem, was sie faktisch ist. Ganz offensichtlich kultiviert die Erziehungswissenschaft, was immer sie ist, ein sehr spezifisches Spannungsverhältnis – sowohl zu ihrer universitären als auch zu ihrer außeruniversitären Umwelt, nicht zuletzt aber auch zu sich selbst.¹²

    2.3.1 Exkurs I: Eine primitive Disziplin

    Die Problematisierung der Erziehungswissenschaft als „entwicklungsrückständig oder „primitiv in ihrem Szientifizierungsniveau, wie sie Bernfeld oder die OECD oben formulieren, suggeriert, dass es um die Frage ginge, ob die Methoden und Begriffe dieses Faches schon den bzw. einen bestimmten Status der Wissenschaftlichkeit erreicht hätten. Doch, so wollen wir im Folgenden argumentieren, die Rede von einer primitiven Entwicklungsstufe der Erziehungswissenschaft setzt einen Begriff von Fortschritt voraus, der nicht für alle Wissenschaften und ihre Methodiken passt. Dieser Begriff beruht auf der Übertragung eines Modells von Wissenschaft aus der Sphäre der Naturwissenschaften auf die Erziehungswissenschaft. So waren die Methoden der humanbiologischen Forschung von vor 200 Jahren aus heutiger Sicht auf einem „primitiven Level und entsprechend die Technik der Medizin. Allein die im engeren Sinne technologischen Errungenschaften, die dieser Zeitraum beschert hat, haben das Niveau der naturwissenschaftlichen Forschung – das heißt eigentlich: die Präzision der naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse – tatsächlich beträchtlich erhöht und mithin die Chancen zur Heilung und Verhinderung bestimmter Krankheiten. Ähnliches könnte man über ingenieurales Handeln und die dafür relevanten Fortschritte in der Physik sagen. Tatsächlich kann man heute zum Mond fliegen. Einen vergleichbaren Fortschritt gab und gibt es in den nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen aber offensichtlich nicht. Die Entwicklungslogik dieser Disziplinen lässt sich nur sehr eingeschränkt überhaupt als „Fortschritt beschreiben. Wir wollen diesen Vorwurf der Primitivität also zurückweisen: Er nimmt ein für die Erziehungswissenschaft nicht sinnvolles, rein naturwissenschaftlich-technologisches Modell von Wissenschaftlichkeit in Anspruch. Diesem Modell nach wären alle Geistes- und Sozialwissenschaften primitiv.¹³

    Eine andere Anlaufstelle der Kritik der Wissenschaftlichkeit der Erziehungswissenschaft, die gerade für den aktuellen Diskurs eine große Rolle spielt, ist die Kritik einer fehlenden oder defizitären empirischen Orientierung. Auch das hatte Bernfeld bereits moniert. Er attestiert der Pädagogik einen Mangel an „Tatbestands-Gesinnung (Bernfeld 1925, S. 13) bzw. eine „völlig fehlende empirische Basis (ebd., S. 31). Diese Diskussion begleitet die deutsche Erziehungswissenschaft schon länger. Ihre Ursprünge kann man mindestens bis in die 1850er Jahre zurückverfolgen, wie es Oelkers getan hat. (Oelkers 1989, S. 96–115) Sie durchzieht die Selbstreflexion der Disziplin durch das ganze 20. Jahrhundert, wie man bei Horn (2014, S. 18–24) nachlesen kann. Man kann die gegenwärtigen Programme einer „evidenzbasierten Pädagogik bzw. einer „empirischen Bildungsforschung als neueste Formen der Zueigenmachung und (symbolischen) Bearbeitung dieses Vorwurfs innerhalb der Erziehungswissenschaft verstehen.

    Wenn man aber der Erziehungswissenschaft vorhält, ihr ermangele es hinsichtlich ihrer Theorieproduktion grundsätzlich an einer empirischen Grundlage oder Sättigung, so scheint auch dieser Vorwurf jedenfalls in dieser Form zu unspezifisch und nicht treffend. Denn, um es mit einem pointierten Argument aus einem frühen Aufsatz Oevermanns auszudrücken, „wie wollte denn wohl Sozialforschung als Sozialforschung anders seriös betrieben werden denn als empirische?" (Oevermann 1981, S. 1 Fn. 1)¹⁴ Wir können dieses Argument unmittelbar auf die Erziehungswissenschaft (als Sozialwissenschaft) anwenden. Wie wollte erziehungswissenschaftliche Forschung anders (seriös) betrieben werden, denn als empirische? Man braucht nur wenig Kant, nur wenig Rousseau, nur wenig Trapp oder Herbart zu lesen, um die Einschätzung bestätigt zu sehen, dass auch die „Pioniere der Pädagogik diese keinesfalls als eine von der Empirie losgelöst zu behandelnde Disziplin, als nicht-empirische Wissenschaft (wie Mathematik oder Philosophie) betrieben haben.¹⁵ Jedes Nachdenken über die Gegenstände der Erziehungswissenschaft und der Pädagogik bezieht sich auf die empirische Realität des pädagogischen Handelns.¹⁶ Wie sollte es auch anders möglich sein? Die Legitimation einer Kulturwissenschaft liegt, wie wir später noch eingehender erläutern werden, in der an Erkenntnis interessierten Untersuchung einer Kultur, d. h. einer konkreten, empirisch vorliegenden Kultur – und hier wiederum disziplinspezifisch auf einen bestimmten Ausschnitt aus dem „unübersehbar mannigfaltigen Ablauf der Erscheinungen. (Weber 1917, S. 170)

    Erst vor dem Hintergrund dieses konstitutionellen Empirismus der Erziehungswissenschaft als Kulturwissenschaft macht es Sinn, die bekannte Beobachtung zu formulieren, dass erziehungswissenschaftliche Forschungsgegenstände im Gegensatz zu den Gegenständen anderer Kulturwissenschaften – wie etwa der Ethnologie oder aber auch der Geschichtswissenschaft – durch eine hervorragende und nachgerade universale Bekanntheit und sogar intime Vertrautheit gekennzeichnet sind. Unweigerlich ist der Gegenstand der Erziehungswissenschaft niemandem, der über diesen nachdenkt, „fremd, niemand hat nicht lebensweltlich die Bedeutung von Erziehung, Schule und Biographie „am eigenen Fall (Helsper 2018b, S. 38) erfahren. Kaum ein Erziehungswissenschaftler kann sich über „Erziehungswissenschaftliches" äußern, ohne auch – wenigstens innerlich – die eigene und intime Erfahrungswelt zu tangieren.¹⁷

    Selbstredend gibt es Unterschiede, auf welche Art und Weise Erziehungswissenschaft (empirisch) betrieben wird. Immer wieder wurde die paradigmatische Kontroverse geführt, ob eher psychologisch-experimentell oder eher soziologisch vorgegangen werden solle. (vgl. hierzu grundlegend Durkheim 1902) Eine andere Präzisierung betrifft die methodische Kontrolle der Erfassung der Realität durch die empirischen Aussagen. Was ist damit gemeint? Grob vereinfachend kann man zwei Typen des aussagenlogischen Bezugs auf die (z. B. pädagogische) Realität durch einen darüber sprechenden und nachdenkenden Geist unterscheiden: einen empirischen auf der einen und einen erfahrungsbasierten auf der anderen Seite. (vgl. Prange 1992) Wir werden später genauer klären, warum hier – zumindest wenn wir dem Hauptstrom der sozialwissenschaftlichen Erkenntnistheorie folgen, der die These einer Differenz sozialwissenschaftlichen und alltagsweltlichem Wissens, Denkens und Kommunizierens zum Ausgangspunkt nimmt – auch von einem wissenschaftlichen und einem alltagspraktischen empirischen Zugriff gesprochen werden könnte. Erziehungswissenschaft kann sich nur darin rechtfertigen, dass sie die empirische Realität in ihrem Zugriff „anders" versteht, als das alltagsweltliche Denken. Sie muss immanent von einer gewissen besonderen Qualität eines methodisch kontrollierten und systematischen Zugriffs auf die empirische Welt gegenüber einem unkontrollierten und intuitiven ausgehen (vgl. Roth 1963, S. 113). Die Notwendigkeit des Anspruchs auf diese Differenz ist unabhängig von der Frage, ob diese Methoden psychologisch-statistische oder hermeneutisch-sinnverstehende sind.

    Jedenfalls können wir festhalten, dass der Verdacht einer gänzlich fehlenden, an einer falschen Bezugsdisziplin orientierten oder aber schlichtweg methodisch (noch) unausgereiften empirischen Forschung der Erziehungswissenschaft ebenfalls nicht geeignet ist, zu erklären, worin die spezifischen Probleme der Erziehungswissenschaft liegen. Roths Versprechen, „[d]ie Lösung der Wissenschaftsprobleme der Pädagogik [hinge] davon ab, ob uns die direkte Erforschung der pädagogischen Situation, in der sich die Lern- und Erziehungsprozesse vollziehen, ebenso gelingt, wie die Hermeneutik von Texten gelungen ist" (Roth 1963, S. 114), der in gewisser Weise ja den Mythos des visible learning schon vorbereitet hat, geht am Kern des Problems vorbei. Erziehungswissenschaft fußt auf (empirischer) Erforschung sozialer Tatsachen im Feld von Erziehung, Sozialisation und Bildung. Sie tat dies immer, sie entwickelt sich hierin weiter. Naiv wäre der Gedanke, dass es hier den einen historischen Umschlagspunkt gäbe, die eine Entwicklungsstufe, die erklommen werden müsste, um den Verdacht einer pädagogischen Primitivität endlich und ein für alle Mal abzuschütteln. Würde das, was als Rückständigkeit bezeichnet wird, tatsächlich auf der Triftigkeit dieses Modells beruhen, wären alle (empirischen) Sozialwissenschaften „primitiv". Kurz: Weder unter dem Aspekt des technischen Optimierungsniveaus ihrer Forschung, noch unter dem Aspekt ihrer (mangelnden) Empirieorientierung bildet sich die spezifische Spannung der Erziehungswissenschaft, um die es uns hier geht, ab.

    Fußnoten

    1

    Der Titel dieses Kapitels wurde auch schon von Krüger/Rauschenbach (1994) bemüht. Keiner spricht von einer „fast ganz normalen Disziplin" (Keiner 1999, S. 15).

    2

    Vogel konstatiert mit stilisiertem Widerwillen diesen Hang zur Erfolgsgeschichtsschreibung: „blickt man von außen auf die Entwicklung der Erziehungswissenschaft als Teil des Wissenschaftssystems, fällt es schwer, sie nicht als Erfolgsgeschichte zu beschreiben" (Vogel 2016a, S. 452).

    3

    Wir kommen auf diesen Vorwurf in einem anschließenden Exkurs zurück.

    4

    Vgl. Wenzl/Kollmer/Wernet 2018, S. 15–22.

    5

    Radtke kritisiert insbesondere die Inszenierung des sog. „PISA-Schocks von der OECD und der Bildungspolitik, die er auf ökonomische Interessen zurückführt. Diese Kritik soll hier nicht als solche im Vordergrund stehen, sondern ihre „Richtung. Sie richtet sich insbesondere auf äußerliche Einflussfaktoren der Erziehungswissenschaft wie „transnationale privater Bildungsdienstleister (vgl. E. Flitner 2006, Zit.: S. 246). Demgegenüber geht es mir hier um eine Analyse dessen, was in ihrem „Innenleben die Erziehungswissenschaft für eine solche Beeinflussung so empfänglich macht. Auch Radtke deutet diese Denkrichtung an: „Die Responsivität eines Systems gegenüber einer Irritation von außen [d.i. in diesem Fall der „Pisa-Schock als (inszeniertes) „Diskurs-Ereignis, H.K.] wächst in dem Maße, wie das betroffene System die kommunizierten Informationen als Gelegenheit nutzen kann, interne Probleme zu lösen, sich dabei an veränderte Umweltbedingungen zu adjustieren und die Fortsetzbarkeit der eigenen Operationen zu sichern. […] Die Erziehungswissenschaft als PISA-Produzent löst mit ihrem neuen „Auftritt scheinbar die Probleme ihrer epistemologischen Unsicherheit und ihrer inneruniversitären Randständigkeit, die sich in versagter Anerkennung durch die (wissenschaftliche) Öffentlichkeit fortsetzt. (Radtke 2003, S. 122)

    6

    So polemisierte Helmut Schelsky einmal, es gäbe „nichts Rührenderes in der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte als die geistigen Autonomiebestrebungen der Pädagogik." (Schelsky 1975, S. 301)

    7

    Bernfelds Idee, den mythischen Sisyphos zum Patron oder Totem der Pädagogik zu machen, den, der damit gestraft ist, sich ewig zu mühen und doch immer wieder geräuschvoll zu scheitern, bringt diese Haltung sinnfällig zum Ausdruck.

    8

    Immerhin hat sich der damalige Präsident der DGfE veranlasst gesehen, dem Artikel eine Replik („Unbedingt wissenschaftlich") entgegenzusetzen.

    9

    Am Rande bemerkt sei, dass Bernfelds Sisyphos im Jahr 2000 mit weitem Abstand eine Umfrage unter Fachvertretern der DGfE gewonnen hat, welches die pädagogisch wichtigsten, wirkungsmächtigsten, anregendsten, interessantesten, gelehrtesten Bücher des 20. Jahrhunderts (!) seien. (vgl. Lohmann 2001, S. 51) In einem Steckbrief zu diesem „Klassiker der Pädagogik ist man um Schadensbegrenzung sichtlich bemüht: „Allerdings: Von denen, die auf die Umfrage geantwortet haben, haben immerhin drei Viertel die Schrift nicht genannt. Und überhaupt beteiligt haben sich kaum mehr als zehn Prozent der in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft organisierten FachvertreterInnen, an die der Fragebogen verschickt wurde […]. (Lohmann 2001, S. 51)

    10

    Auch und gerade darauf, dass diese Irrationalität den Ressentiments gegen den Lehrerberuf wesentlich ist, weist Adorno hin. Insofern ist auch Rickens Bemerkung, Adorno versetze der Pädagogik mit seinem Vortrag einen „Tiefschlag" (Ricken 2007b, S. 23) Ausdruck eines bemerkenswerten Missverständnisses.

    11

    „Die Praxisbezogenheit der Forschung schränkt die Würde einer Wissenschaft nicht ein, darüber entscheidet allein die Frage, ob ihre Forschung einer universalen und hohen menschlichen Idee, dem Wohl des Ganzen dient. Wer wollte aber das der Pädagogik bestreiten?" (Roth 1963, S. 116)

    12

    Keiner konstatiert, es handle sich bei der Erziehungswissenschaft um „eine Disziplin, die, wie es scheint, im besonderen Maße durch Differenzen, Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen zwischen programmatischen Selbstentwürfen und der alltäglichen Praxis in Forschung und Lehre gekennzeichnet ist." (Keiner 1999, S. 14)

    13

    Vgl. hierzu auch Bellmann, der in einer Kritik der neueren „Bildungsforschung ebenfalls bezweifelt, dass Erziehungswissenschaft in diesem Sinne als eine technologische Wissenschaft gelten könne, wenn auch unter einer anderen Fragestellung: „Es geht vielmehr um die Frage, ob der Gegenstand der Erziehung im Rahmen eines einheitswissenschaftlichen Modells von „science behandelt werden kann. […] Nach dem Vorbild der evidenzbasierten Medizin soll sich auch pädagogisches Handeln als wirksame Intervention verstehen […]. Es wird lediglich ein in der Medizin, der pharmakologischen Forschung und der Agrarwissenschaft erprobtes Paradigma der Wirkungsforschung auf das pädagogische Feld übertragen." (Bellmann 2016, S. 59) Habermas hat im Prinzip dasselbe Argument schon 1963 mobilisiert – und es ebenfalls am Beispiel der Medizin expliziert. (vgl. Habermas 1963, S. 103 f.) Wir kommen auf die Details dieser Inadäquanz der Übertragung zurück, wollen sie hier allerdings erstmal als Behauptung stehen lassen.

    14

    Vgl. auch Hirschauer über die (nicht explizite) „Empiriegeladenheit von Theorien" (2008, S. 168–173) und die dort angegebenen Referenzen.

    15

    Heinrich Roth beginnt seine berühmte Vorlesung Die realistische Wendung in der Pädagogischen Forschung mit der Bemerkung: „Realistische Wendungen hat es in der Pädagogik immer wieder gegeben: bei Comenius, bei Rousseau, bei Pestalozzi, bis herauf zu Herrmann Nohl und Theodor Litt." (Roth 1963, S. 109)

    16

    Am Beispiel des Bildungsbegriffs und seiner Bedeutung für die Biographieforschung formuliert Vogel, es läge „auf der Hand, dass die Konfrontation von Bildungstheorie und Bildungsforschung sinnlos ist:

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