Gesellschaftlichen Zusammenhalt gestalten
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Über dieses E-Book
Dieser Sammelband beantwortet folgende Fragen - formuliert von einem interdisziplinären Team aus Forscher*innen und Praktiker*innen: Welche Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt existieren aktuell – insbesondere in Ostdeutschland? Welche Lösungswege werden bereits in der politischen Praxis genutzt, und mit welchem Erfolg? Wie lässt sich gesellschaftlicher Zusammenhalt proaktiv gestalten – insbesondere unter den Bedingungen zunehmender Vielfalt? Welche Rolle spielen Bürgerdialoge im Erhalt des gesellschaftlichen Zusammenhalts?
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Buchvorschau
Gesellschaftlichen Zusammenhalt gestalten - Cathleen Bochmann
Hrsg.
Cathleen Bochmann und Helge Döring
Gesellschaftlichen Zusammenhalt gestalten
../images/478871_1_De_BookFrontmatter_Figa_HTML.pngHrsg.
Cathleen Bochmann
Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Dresden, Dresden, Sachsen, Deutschland
Helge Döring
Fachbereich Sozialwesen, Fachhochschule Münster, Münster, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
ISBN 978-3-658-28346-9e-ISBN 978-3-658-28347-6
https://doi.org/10.1007/978-3-658-28347-6
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Inhaltsverzeichnis
1 Gesellschaftlichen Zusammenhalt gestalten – ein Problemaufriss 1
Cathleen Bochmann und Helge Döring
Teil I Gesellschaftlicher Zusammenhalt
2 Ressourcen gesellschaftlichen Zusammenhalts 11
Werner J. Patzelt
3 Ein evolutionär-anthropologischer Blick auf soziale Kohäsion 27
Christoph Antweiler, Hannes Rusch und Eckart Voland
4 Resonanz(räume) erforschen, bilden und Wege aus der Entfremdung gestalten 53
Philipp Gies, Jakob Stephan, Maren Stephan und Andreas Klee
5 Ostdeutsche Besonderheiten? Über Unterschiede politischer Kultur in Ost- und Westdeutschland mit Fokus auf den Freistaat Sachsen 75
Alexandra Neumann
6 Sozialkapital und Demokratie: der ambivalente Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und politischer Partizipation in Deutschland und Sachsen 97
Astrid Lorenz und Hendrik Träger
7 Streit um demokratischen Konsens – Herausforderungen und Grenzen beim parlamentarischen Umgang mit der AfD 121
Anna-Sophie Heinze
Teil II Kommunikation und Dialog
8 Versammlungen in Krisenzeiten – Eine Typologie anhand des Konfliktverlaufs 139
Willi Hetze
9 Erfolgsfaktoren für kommunale Dialogformate 167
Ulrike Schumacher
10 Dialog in der Dauerkrise. Einblicke in die Alltagsbewältigung armutsgeprägter Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien in die Dortmunder Nordstadt 187
Helge Döring und Sebastian Kurtenbach
11 Demokratische Diskussionskultur – eine Bilanz des Projektes „Dilemma-Diskussion in Sachsen" (DDiS) 219
Sieglinde Eichert
12 „Bitte bleiben Sie sachlich!" – Politische Kommunikation im Netz unter besonderer Berücksichtigung des Debattenportals www.lasst-uns-streiten.de 247
Annette Rehfeld-Staudt
Teil III Gestaltungsideen
13 Bedarfe an neuen Beteiligungsformaten aus Sicht kommunaler Verantwortlicher in Sachsen 267
David Gäbel und Cathleen Bochmann
14 Systemtheorie der Integration – Auf dem Weg zu einer Synthese der Integrationstheorien in praktischer Verwertungsabsicht 305
Anselm Vogler und Erik Fritzsche
15 Politische Bildung als Einbürgerungsangebot? 327
Laura Rind-Menzel
16 Demokratie braucht Konflikt – wie sich gesellschaftlicher Zusammenhalt fördern lässt – Praktische Handlungsempfehlungen für Dialoge basierend auf der Thérapie Sociale 351
Anne Wiebelitz
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber
Dr. Cathleen Bochmann
studierte Politikwissenschaft in Dresden, mit Gastaufenthalten in den USA und Pakistan. Seit 2009 lehrt und forscht sie an der Professur für politische Systeme und Systemvergleich der Technischen Universität Dresden. Ihre Schwerpunkte umfassen die Stabilität politischer Systeme, die Weiterentwicklung der evolutionären Institutionen- sowie die Parlamentarismusforschung. Seit dem Frühjahr 2018 leitet sie das BMBF-Forschungsprojekt „Krisen-Dialog-Zukunft", welches sich der Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Zeiten von Krisen und Umbrüchen durch neue Formen des Bürgerdialogs widmet.
Dr. Helge Döring,
geboren 1979, ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt: „Krisen-Dialog-Zukunft am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster. Er studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Technischen Universität Dortmund. 2015 promovierte er an der Technischen Universität Dortmund zum Thema: „Wissensmanagement in Familienunternehmen
. Er arbeitete als Organizational Development Manager bei der Neven Subotic Stiftung (N2S) in Dortmund und als Referent für Digitalisierung von Arbeit und Industrie 4.0 beim Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) in Düsseldorf. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Konfliktforschung, soziale Ungleichheit und Jugendkulturforschung.
Autorinnenverzeichnis
Christoph Antweiler
Abteilung für Südostasienwissenschaft, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Bonn, Deutschland
Cathleen Bochmann
Institut für Politikwissenschaft, Projekt KDZ, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
Helge Döring
Fachbereich Sozialwesen, Fachhochschule Münster, Münster, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
Sieglinde Eichert
Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, Dresden, Deutschland
Erik Fritzsche
Institut für Politikwissenschaft, Professur für Internationale Politik, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
David Gäbel
Institut für Politikwissenschaft, Projekt KDZ, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
Philipp Gies
Zentrum für Arbeit und Politik (zap), Universität Bremen, Bremen, Deutschland
Anna-Sophie Heinze
Institut für Politikwissenschaft, Professur für politische Systeme, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
Willi Hetze
Institut für Politikwissenschaft, Projekt KDZ, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
Andreas Klee
Zentrum für Arbeit und Politik (zap), Universität Bremen, Bremen, Deutschland
Sebastian Kurtenbach
Fachbereich Sozialwesen, FH Münster, Münster, Deutschland
Astrid Lorenz
Institut für Politikwissenschaft, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
Alexandra Neumann
Institut für Politikwissenschaft, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
Werner J. Patzelt
Institut für Politikwissenschaft, Professur für politische Systeme, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
Annette Rehfeld-Staudt
Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, Dresden, Deutschland
Laura Rind-Menzel
Institut für Politikwissenschaft, Didaktik der politischen Bildung, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
Hannes Rusch
Department of Microeconomics and Public Economics, Maastricht University, Maastricht, Niederlande
Ulrike Schumacher
Institut für Politikwissenschaft, Projekt KDZ, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
Jakob Stephan
Zentrum für Arbeit und Politik (zap), Universität Bremen, Bremen, Deutschland
Maren Stephan
Zentrum für Arbeit und Politik (zap), Universität Bremen, Bremen, Deutschland
Hendrik Träger
Institut für Politikwissenschaft, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
Anselm Vogler
Institut für Politikwissenschaft, Professur für Internationale Politik, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
Eckart Voland
Scheden, Deutschland
Anne Wiebelitz
Dresden, Deutschland
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C. Bochmann, H. Döring (Hrsg.)Gesellschaftlichen Zusammenhalt gestaltenhttps://doi.org/10.1007/978-3-658-28347-6_1
1. Gesellschaftlichen Zusammenhalt gestalten – ein Problemaufriss
Cathleen Bochmann¹ und Helge Döring²
(1)
Institut für Politikwissenschaft, Projekt KDZ, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
(2)
Fachbereich Sozialwesen, Fachhochschule Münster, Münster, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
Cathleen Bochmann (Korrespondenzautor)
Email: cathleen.bochmann@tu-dresden.de
Helge Döring
Email: helge.doering@fh-muenster.de
Literatur
Schlüsselwörter
Gesellschaftlicher ZusammenhaltOstdeutschlandKrisenerscheinungenProblemlösungenDialogverfahrenVielfaltBürgerdialogBürgerbeteiligungKriseDemokratie
Dr. Cathleen Bochmann
studierte Politikwissenschaft in Dresden, mit Gastaufenthalten in den USA und Pakistan. Seit 2009 lehrt und forscht sie an der Professur für politische Systeme und Systemvergleich der Technischen Universität Dresden. Ihre Schwerpunkte umfassen die Stabilität politischer Systeme, die Weiterentwicklung der evolutionären Institutionen- sowie die Parlamentarismusforschung. Seit dem Frühjahr 2018 leitet sie das BMBF-Forschungsprojekt „Krisen-Dialog-Zukunft", welches sich der Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Zeiten von Krisen und Umbrüchen durch neue Formen des Bürgerdialogs widmet.
Dr. Helge Döring,
geboren 1979, ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt: „Krisen-Dialog-Zukunft am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster. Er studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Technischen Universität Dortmund. 2015 promovierte er an der Technischen Universität Dortmund zum Thema: „Wissensmanagement in Familienunternehmen
. Er arbeitete als Organizational Development Manager bei der Neven Subotic Stiftung (N2S) in Dortmund und als Referent für Digitalisierung von Arbeit und Industrie 4.0 beim Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) in Düsseldorf. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Konfliktforschung, soziale Ungleichheit und Jugendkulturforschung.
„Wir leben in stürmischen Zeiten. Viele in unserem Land sind verunsichert. Die Welt – das hat der ein oder andere vermutlich von mir schon mal gehört – scheint aus den Fugen. Aber viele fragen auch: Was ist eigentlich der Kitt – der Kitt, der unsere Gesellschaft im Kern zusammenhält? Und hält dieser Kitt auch für die Zukunft?" Dr. Frank-Walter Steinmeier im Deutschen Bundestag 2017
Ein Thema hat Konjunktur: Sei es die Stabilisierung eines vereinten Europas, die Veränderungen des bundesdeutschen Parteiensystems, Verwerfungen des Finanzsystems, der Klimawandel, Folgeeffekte der Wiedervereinigung oder die Bewältigung von Migration – immer wieder stellt sich die Frage, was uns als Gesellschaft zusammenhält und wie sich dieser Zusammenhalt auch in Zukunft erhalten lässt. Unser Zeitgefühl ist geprägt von Verunsicherung, ob der Fliehkräfte in unserer Gesellschaft. Wir Menschen leben inzwischen in Sozialzusammenhängen, die weit größer als diejenigen sind, für die wir ursprünglich einmal ausgelegt waren. Wir haben höchst anspruchsvolle Sozialgefüge geschaffen. Das Ausmaß an Komplexität, Arbeitsteilung und Interdependenz, welches wir aktuell erleben, ist eine kulturelle Meisterleistung. Und man sollte sich nichts vormachen; diese Leistung ist fragil, denn der neuzeitliche Individualismus mit seinen fragmentarisierten politischen, sozialen, ethnischen und religiösen Partikularinteressen steht einer konsensorientierten Gemeinwohlorientierung häufig entgegen. Was also macht den „Kitt" aus, der eine so komplexe Gesellschaft auch in stürmischen Zeiten zusammenhält? Wann und wie erodiert gesellschaftlicher Zusammenhalt? Und was kann und soll schließlich ganz praktisch dafür getan werden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land zu erhalten? Diesen Fragen widmet sich dieses Buch.
Hinter der gesteigerten Aufmerksamkeit, welche das Thema in den letzten Jahren erfuhr, steckt indes eine normative Annahme, die meist nicht so recht explizit gemacht wird: Zusammenhalt ist eine wünschenswerte Qualität sozialer Systeme. Ein Fehlen oder die Erosion des Zusammenhalts bergen Risiken in sich und sollten verhindert werden. Deshalb wird das Thema immer dann präsent, wenn Pathologien auftreten und Zusammenhalt gefährdet ist – oder zumindest gefährdet scheint. Nun ist die Prämisse, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt eine notwendige Bedingung für die Existenz komplexer sozialer und politischer Systeme ist, sicher nicht falsch. Es stellt sich indes die Frage, wo die Grenze verläuft zwischen dem, was an Zusammenhalt unabdingbar und dem was an Trennendem zumutbar ist. Bewusst kritisch formuliert geht es hierbei um die Frage von Gleichförmigkeit, Bevormundung, ja vielleicht sogar Repression versus die Akzeptanz natürlicher Heterogenität, gelebtem Pluralismus und dem Wettbewerb unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe. Besonders die Flüchtlingskrise 2015 hat diese Debatte in Deutschland verschärft. Während die eine radikale Seite die Existenz einer, wie auch immer definierten deutschen Kultur scharf verneint und Forderungen hinsichtlich Integration als unzulässige Assimilationsbestrebungen ablehnt, sehnen sich die anderen populistisch und zunehmend extrem nach Nation und Heimat und warnen lautstark vor Überfremdung, Multikulturalismus und den Kollateralschäden von Pluralismus. Die breite Masse der Bevölkerung bewegt sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen und auch die politisch Verantwortlichen ringen um Positionierung. Eine Antwort auf die Frage, wie sich gesellschaftlicher Zusammenhalt gestalten lässt, lässt sich indes nicht allein durch normative Theorien beantworten, sondern muss den Blick in die empirische Wirklichkeit lenken. Aus diesem Grund soll der folgende Sammelband in der Tradition einer praxisnützlichen Sozialwissenschaft das Phänomen systematisch erarbeiten und dabei insbesondere jene empirischen Befunde präsentieren und zusammenführen, die alle für sich jeweils einen Ausschnitt der komplexen Wirklichkeit erhellen.
Der erste Teil der Beiträge befasst sich hierbei mit dem Phänomen des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf den unterschiedlichen analytischen Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeit (vgl. Patzelt 2007, S. 184–193). Konkret soll es darum gehen, was gesellschaftlicher Zusammenhalt überhaupt ist und woraus jener Kitt besteht, der eine Gesellschaft zusammenhält. Dazu dient eine Befassung mit sozialen Grundmechanismen, wie der Frage, welche sozialen Interaktionsmuster dem Menschen angeboren sind, wie soziale Netzwerke entstehen, wie sie über den unmittelbaren Nahbereich hinaus expandieren und in welchen Situationen Konflikte entstehen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. Damit wird der Grundstock des menschlichen Verhaltensrepertoires erfasst, auf welchem dann komplexere Konzeptionen von Zusammenhalt überhaupt erst aufschichten können.
In jenem Feld geht es dann vor allem um solche Wissensbestände, Sinndeutungen und Handlungsmuster, die Teil politischer Sozialisation von Menschen sind und im Aggregat die politische Kultur eines Landes ergeben. Es stellt sich die Frage, welche Sozialisationsinhalte es ermöglichen, jenes Mindestmaß an Gemeinsinn in einer Gesellschaft zu generieren, welches die Voraussetzung für das Fehlen dauerhaft gewalttätiger Konflikte als ersten Schritt und das Gelingen eines anspruchsvollen und komplexen politischen Systems einer Demokratie als zweiten Schritt zu sein scheint (vgl. Dragolov et al. 2016, S. 1–13). Insbesondere stellt sich hier die Frage, inwieweit unterschiedliche Sozialisationserfahrungen der Bürger in Ost- und Westdeutschland und feststellbare Unterschiede in der politischen Kultur dazu führen, dass ein bundesdeutscher gesellschaftlicher Zusammenhalt gefährdet wird. Der Befassung mit „ostdeutschen Besonderheiten" wird in diesem Buch daher viel Raum eingeräumt. Dabei interessieren sowohl unterschiedliche normative Vorstellungen darüber, was eine Gesellschaft überhaupt verbindet, als auch der weitere soziokulturelle Rahmen, in den jegliche den Zusammenhalt stärkenden Politikbemühungen eingebettet wären. Neben soziokulturellen Faktoren spielen als nächste Analyseebene soziostrukturelle Faktoren eine Rolle in der Herstellung gesellschaftlichen Zusammenhalts. Insbesondere soziale Organisationen, wie Verbände, Kirchen oder Parteien, sind in der Lage, jenes brückenbildende Sozialkapital zu generieren, welches es Menschen ermöglicht, über den Nahbereich der familiären und örtlichen Bindungen hinauszugehen, Vielfalt zu erleben und Diversitätstoleranz zu trainieren. Unterfüttert wird dies mit der Befassung konkreter Erosionserscheinungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Denn Zusammenhalt lässt sich nicht allein in der Kategorie von sozialer Kohäsion denken, sondern existiert stets gleichermaßen als exkludierendes Phänomen. Es stellt sich daher die Frage, wo die Grenzen des gesellschaftlichen Minimalkonsenses angesiedelt werden, entlang welcher Gräben gesellschaftliche Polarisation und Exklusion verlaufen und welche Diskursinhalte den Konflikt prägen.
Dabei sind besonders solche Phasen interessant, die als Krise erlebt werden. Eine solche aktuelle Krise ist das Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen innerhalb und außerhalb des Parteiensystems, welche als Repräsentations- und Integrationsversagen der etablierten politischen Eliten wahrgenommen wird (Patzelt 2015). Eine andere – seit Jahrhunderten bestehende – Konfliktlinie entzündet sich an der Frage, wie erwerbslose Leistungsempfänger als marginalisierte Gruppe in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft integriert werden können, in der soziales Prestige und Teilhabechancen vor allem auf Berufstätigkeit beruhen (Voswinkel 2005, S. 255). Und schlussendlich akzentuiert sich gerade ein weiterer brandaktueller Fall einer Krise, bei der es um intergenerationellen Gerechtigkeit geht, in der „Fridays for Future-Bewegung, die sich für die Verbesserung des Klimaschutzes ausspricht und dabei die Unterstützung einer ganzen Bandbreite von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erhält (Hagedorn et al. 2019). Je nachdem wie diese Krise zukünftig gesellschaftlich und politisch verhandelt wird, wachsen die Jugendlichen entweder in die Rolle kritischer Demokraten hinein oder bilden eine „radikalen Avantgarde
, die die Erreichung ihrer Ziele außerhalb der demokratischen Gepflogenheiten suchen wird.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist überdies kein statisches Phänomen, sondern ein fortlaufender Prozess der Aushandlung von Konflikten. Jene Aushandlungsprozesse lassen sich primär entlang der damit verbundenen Kommunikations- und Streitprozesse beobachten. Denn nur durch Kommunikation können Menschen ihre unterschiedlichen Ziele und Handlungspräferenzen artikulieren, aushandeln und dabei um Gemeinsames und Gemeinsinniges ringen. Dialog ist der zentrale Motor einer Gesellschaft. Weil moderne Gesellschaften nun aber zunehmend individualisierter und damit gleichzeitig inhomogener werden, steigt das Konfliktpotenzial. Diese Konflikte betreffen einerseits den lokalen Nahraum der Menschen, in denen sie mit den Menschen ihres Umfelds um die Umsetzung persönlicher Lebensentwürfe ringen. Andererseits kollidieren in komplexen ausdifferenzierten Gesellschaften die persönlichen Interessen des Individuums darüber hinaus mit einer Vielzahl abstrakter gesellschaftlicher Regeln, die der Durchsetzung von vergesellschafteten Interessen dienen. Das Fehlen eines greifbaren und ansprechbaren Gegenübers erschwert Kommunikationsanstrengungen und sorgt leicht für Wut und Enttäuschung der Bürger aufgrund von Ohnmachtsempfinden. Es besteht dabei die Gefahr, dass sich das Spielfeld dieser Entwicklung immer mehr in geschlossene virtuelle Räume der sozialen Netzwerke mit ihren „Echokammern" (Sunstein 2001) und „Filterblasen (Pariser 2011) verlagern wird, wo die eigene Meinung immer weiter bestärkt wird (Rehfeld-Staudt 2017), aber ein Dialog mit der Gegenseite nicht mehr geführt wird. In den frühen Phasen einer jeden Krise ringen dann die Beteiligten verstärkt um die Deutungshoheit der Begriffe („Framing
) (Stocké 2014) und sprechen der Gegenseite ihre Kompetenz im Diskurs ab. Das politische System ist daher gefragt, diesen Prozess aktiv zu gestalten und Kommunikationskanäle herzustellen und zu pflegen.
Aus diesem Grund werden im zweiten Teil des Buches gezielt jene Muster untersucht, die in der Aushandlung von Zusammenhalt zur Anwendung kommen. Zum einen interessiert dabei, wie Streitstrategien und Streitverläufe mit den Verläufen politischer und gesellschaftlicher Krisen interagieren. Mit einer neu entwickelten Typologie wird erfasst, welche Kontextfaktoren in welcher Weise auf Kommunikationsprozesse einwirken. Zum anderen geht es hierbei um die Frage, inwieweit – idealerweise themeninvariant – Modelle guten Streitens eingeübt werden können. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass Konflikte stets auch Gelegenheiten zum Lernen darüber darstellen, welche veränderten Denk-, Handlungs- und Institutionalisierungsweisen in einer neu entstandenen oder sich auf unbekannte Weise verändernden Lage hilfreich wären, um die Dinge nicht auf krisenhafte Polarisierung und Feindschaft hintreiben, sondern erneuerten Gemeinsinn entstehen zu lassen. Es geht also nicht nur darum, Streit als konstitutives Merkmal aller sozialen und noch mehr aller politischen Systeme zu betrachten, sondern vor allem die Möglichkeiten des konstruktiven Streitens als zentrales Mittel der Stabilisierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in den Blick zu nehmen. Die Frage lautet daher, wie ein aktiver Austausch und lösungsorientierter Dialog praktisch hergestellt werden können. Dies rückt den Binnenverlauf von Kommunikationsprozessen in den Fokus. In diesem Kontext zu betrachtende Phänomene sind Prozesse der Meinungsbildung und Möglichkeiten der moderativen Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte, die den Zusammenhalt stören.
Angeschlossen an diese Betrachtungen wäre zu klären, wer denn konkret für die Herstellung eines solchen Dialogs zuständig sein könnte und inwieweit hierfür notwendige Bedingungen bereits bestehen oder noch zu schaffen sind. Die wissenschaftliche Aufgabe in diesem Feld besteht darin, praxisnützliche Befunde und Systematisierungen zu liefern und das Alltagshandeln der Akteure kritisch zu evaluieren. Diese Überlegungen verlangen zwingend nicht nur eine theoretische Konzeptualisierung, sondern eine Analyse aktueller empirischer Fälle. Aus diesem Grund werden in diesem Abschnitt des Buches mehrere konkrete Formate vorgestellt und untersucht. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis ergänzen sich hierbei.
Der dritte Teil des Sammelbandes steht unter dem Gedanken, die politikpraktischen Implikationen der Befunde und Problembeschreibungen der ersten beiden Teile herauszuarbeiten und konkrete Gestaltungsideen zur Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zur Diskussion zu stellen. Eine freiheitliche Demokratie steht vor der Aufgabe, die Voraussetzungen der eigenen Existenz selbst schaffen zu müssen (Böckenförde 1976, S. 60). Diese proaktive Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenhalts kann dabei nicht allein innerhalb des politischen Systems geschehen, sondern ist auf seine gesellschaftliche Basis und vielfältige Kooperationsbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen angewiesen. Dabei wäre auch hier eine praxisnützliche Politikwissenschaft angebracht, welche in der Lage ist, die zu gestaltenden Phänomene adäquat zu beschreiben, einzuordnen und auf Basis der Befunde verwertbare Handlungsanweisungen zu generieren. Gerade angesichts der hohen Relevanz des Aspekts Integration innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist eine praxistaugliche Integrationstheorie vonnöten, zu welcher im vorliegenden Buch ein Vorschlag erarbeitet wird. Aufbauend darauf muss die Rolle der politischen Bildung in den Fokus genommen werden. Welche politisch bildenden Angebote für zugewanderte Menschen verfügbar und wie diese einzuschätzen sind, wird betrachtet. In einem weiteren Schritt geht es darum, wie die Gelingensbedingungen gesellschaftlichen Zusammenhalts und zusammenhaltsfördernde Dialogkultur denn nun konkret eingeübt werden können. Daher wird exemplarisch die Möglichkeit der Vermittlung und Übertragung der Sozialtherapie in neue Kontexte kommunaler Dialoge in Sachsen beleuchtet und konkrete Handlungsempfehlungen formuliert. Es geht insgesamt also darum, die Zielvorstellungen, die Methoden und die bisherige Bilanz der unterschiedlichen Lösungsvorschläge offenzulegen und kritisch zu beleuchten. Auch dies geschieht sinnvollerweise im engen Dialog aus Forschung und Praxis.
In der Summe liefert das Buch damit zwar keine abschließenden Lösungen, wie der gesellschaftliche Zusammenhalt in Zeiten von Krisen zu sichern wäre, gibt jedoch hierfür äußerst fruchtbare Ansatzpunkte, indem einerseits das funktionslogische Verständnis des Entstehens und des Vergehens von Zusammenhalt von der Mikro- bis auf die Makroebene verbessert und zugleich eine Vielzahl von Beispielen guter Praxis aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen präsentiert wird. Diese Innovationsfähigkeit gilt es zu fördern, weiterzuentwickeln und kritisch durch wissenschaftliche Expertise zu begleiten. Nur so lassen sich die stürmischen Zeiten meistern, damit wir auch zukünftig in einer friedlichen, freiheitlichen, stabilen und prosperierenden Ordnung gut miteinander leben können.
Literatur
Böckenförde, E.-W. (1976). Staat, Gesellschaft, Freiheit: Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Dragolov, G., Ignácz, Z. S., Lorenz, J., Delhey, J., Boehnke, K., & Unzicker, K. (2016). Social Cohesion in the Western World. Cham: Springer.Crossref
Hagedorn, Gregor, et al. (2019). The concerns of the young protesters are justified: A statement by Scientists for Future concerning the protests for more climate protection. GAIA-Ecological Perspectives for Science and Society,28(2), 79–87.Crossref
Pariser, E. (2011). The filter bubble: What the internet is hiding from you. New York: Penguin Press.
Patzelt, W. J. (Hrsg.). (2007). Evolutorischer Institutionalismus. Theorie und exemplarische Studien zu Evolution, Institutionalität und Geschichtlichkeit. Würzburg: Ergon.
Patzelt, W. J. (2015). „Repräsentationslücken" im politischen System Deutschlands? Der Fall PEGIDA. Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften,13(1), 99–126.Crossref
Rehfeld-Staudt, A. (2017). www.lasst-uns-streiten.de – Die Dialogplattform der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. MedienJournal,41(2), 90–96. https://doi.org/10.24989/medienjournal.v41i2.1473.Crossref
Stocké, V. (2014). Framing und Rationalität: Die Bedeutung der Informationsdarstellung für das Entscheidungsverhalten. Berlin: De Gruyter.
Sunstein, C. (2001). Echo Chambers. Bush vs. Gore. Impeachment and Beyond. New Jersey: Princeton University Press.
Voswinkel, S. (2005). Reziprozität und Anerkennung in Arbeitsbeziehungen. In F. Adloff & S. Mau (Hrsg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität (S. 237–256). Frankfurt a. M.: Campus.
Teil IGesellschaftlicher Zusammenhalt
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Bochmann, H. Döring (Hrsg.)Gesellschaftlichen Zusammenhalt gestaltenhttps://doi.org/10.1007/978-3-658-28347-6_2
2. Ressourcen gesellschaftlichen Zusammenhalts
Werner J. Patzelt¹
(1)
Institut für Politikwissenschaft, Professur für politische Systeme, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
Werner J. Patzelt
Email: werner.patzelt@tu-dresden.de
1 Das Problem
2 Gesellschaftlicher Zusammenhalt als Herausforderung
3 Was ist „gesellschaftlicher Zusammenhalt"?
4 Ressourcen gesellschaftlichen Zusammenhalts
5 Forschungsaufgaben
6 Was tun zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts?
Literatur
Schlüsselwörter
Soziale KohäsionInklusionExklusionPopulismusPluralismusGesellschaftAfDPEGIDAPatriotismusBürgersinnZuwanderungMultikulturalität
Prof. Dr. Werner J. Patzelt
studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in München, Straßburg und Ann Arbor, danach war er als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Universität Passau tätig. Von 1991 bis 2019 war er als Professur für Politische Systeme und Systemvergleich an der Technischen Universität Dresden tätig. Forschung und zahlreiche Veröffentlichungen erfolgten u. a in den Bereichen: Sozialwissenschaftliche Forschungslogik, Grundlagen der Ethnomethodologie, Abgeordneten- und Parlamentarismus-Studien, institutionelle Analyse, Evolutorischer Institutionalismus, AfD/Pegida-Komplex, Wandel politischer Kultur und gesellschaftlicher Zusammenhalt.
1 Das Problem
Deutschland wandelt sich stark, und zwar aus vielerlei Ursachen. Da ist der technologische Wandel mitsamt veränderten wirtschafts- und energiepolitischen Zielsetzungen. Da ist die Bevölkerungsentwicklung: Aus einer sich selbst reproduzierenden Gesellschaft wurde eine Bevölkerung, welche inzwischen die für ihr Wohlergehen nötige Arbeitskraft und Innovationsfähigkeit durch Zuwanderung sichern muss. Unterm Strich ist aus einem Land mit einem noch 1949 ethnisch oder kulturell recht klar zu umreißenden Volk ein Staat geworden, in dem eine multiethnische und multikulturelle Bevölkerung lebt. Zur Gesellschaft wird sie im Wesentlichen zusammengehalten durch gemeinsame Sprache, vielfaltssichernde politische Ordnung und Teilhabe am gemeinsamen Wohlstand.
Allerdings haben die neuen Bundesländer von den alten Bundesländern deutlich abweichende Migrations- und Transformationserfahrungen. Das hat sehr besondere, politisch höchst folgenreiche Reaktionen auf diesen Wandel entstehen lassen. Zunächst war dies das beunruhigende Aufkommen von PEGIDA, sodann der – viele erschreckende – Aufstieg der AfD. Außerdem führt die Innovations- und Wandlungsgeschwindigkeit moderner Gesellschaften leicht zur gesellschaftlichen Fragmentierung entlang von – auch sprachlich bedingten – Bildungschancen. In einer multiethnischen Gesellschaft bewirkt das leicht eine Verbindung von Bildungs- und Wohlstandsspannungen mit ethnisch-kulturellen Konfliktlinien. Zudem ist in Deutschland aus einer Bevölkerung, in der Ideologie vor allem im Rahmen pluralistischer Parteienkonkurrenz eine Rolle spielte, und in der Religion sowie Religionszugehörigkeit entweder mit der politischen Ordnung gut vereinbar oder politisch nicht ins Gewicht fallende Privatsachen waren, eine solche Gesellschaft geworden, in der neu ins Land gekommene Religionen und Religionszugehörigkeiten – hier zumal der Islam – politische Brisanz nicht nur entfalten können, sondern das auch tun.
Unter solchen veränderten Sozialumständen, sowie angesichts des Wandels auch der sie überwölbenden Transzendenzvorstellungen, schwächt zusammenhaltender Gemeinsinn sich leicht ab. Tatsächlich ist aus unserem Gemeinwesen, das sich – nach schwierigen Anfangsjahren – seiner demokratischen Legitimität und Integrationskraft lange Zeit so sicher war, zunächst einmal eine politische Ordnung geworden, aus der sich – gerade nach der Wiedervereinigung – ein Teil des Volks durch jahrelang beklagte Politikverdrossenheit bzw. Wahlabstinenz zurückgezogen hat (siehe Patzelt 2018a). Und inzwischen ist das Pendel zurückgeschwungen, indem nämlich gegen diese politische Ordnung nicht wenige mit populistischem, teils auch radikalem oder gar extremistischem Protestverhalten anrennen (dazu Patzelt und Klose 2016). Sie erkennen in Deutschlands bislang staatstragenden Parteien nicht länger die zentralen Instrumente der politischen Willensbildung und Teilhabe des Volkes oder plausible Repräsentanten der realen Meinungs- und Interessenverteilung in der Bevölkerung. Ähnliches Misstrauen und entsprechende Verachtung gegenüber Massenmedien führt obendrein zu Beeinträchtigungen und Zerfallsprozessen der politischen Öffentlichkeit, etwa zwischen den „etablierten Medien und den höchst unterschiedlichen Tummelplätzen von „alternativer Berichterstattung
im Internet. Dabei verstärken gerade die neuen Medien solche Partialisierung diskursiver Zusammenhänge aufs Äußerste. In unserer politischen Sozio- und Deutungskultur wird das wiederum als Polarisierung fassbar. Diese hat in den letzten Jahren – in erheblicher regionaler und sozialräumlicher Differenzierung – folgenschwere Dynamik entfaltet und ist der am schmerzlichsten fühlbare Zug beim Schwinden gesellschaftlichen Zusammenhalts in unserem Land.
2 Gesellschaftlicher Zusammenhalt als Herausforderung
Diese neuere Entwicklung kontrastiert mit jahrelangen, ganz undramatischen Erfahrungen. Nicht nur wir, sondern die allermeisten Mitgliedsländer der Europäischen Union sind es nämlich gewohnt, in Gesellschaften ohne Bürgerkrieg zu leben. Auf diese Weise vor dem Zerfall unserer politischen Strukturen sicher, haben wir Vielfalt zu schätzen gelernt, wenigstens normativ und in Sonntagsreden, und wir ertragen sie nicht selten auch in der Praxis. Auch schaffen wir es oft, unsere Konflikte wirklich gemäß den Spielregeln von Pluralismus auszutragen. Das alles sind wichtige kulturelle Errungenschaften.
Doch weil diese Errungenschaften nach vielen Jahrzehnten einer gedeihlichen Gesellschafts- und Politikgeschichte wie selbstverständlich erscheinen, vergessen wir allzu leicht, dass ein solcher gesellschaftlicher Zusammenhalt durchaus keine „Naturtatsache ist, auf deren Vorhandensein man sich einfach verlassen könnte. Als reine „Sozialtatsache
bedarf gesellschaftlicher Zusammenhalt vielmehr steter Pflege. Die freilich gleicht dem Versuch, eine filigran verzierte gotische Kathedrale aus weichem Sandstein instand zu halten, und zwar unter den Bedingungen des Wechsels von Frost und prallem Sonnenschein, von Starkwind und üblem Wetter, sowie bei immer neuer Umweltverschmutzung durch wechselnde Schadstoffe. Eine so herausforderungsreiche Pflege wird gewiss nur dann erfolgreich sein, wenn man jene Gesellschaft nicht überfordert, um deren Zusammenhalt es geht.
Zu den besonderen Herausforderungen gesellschaftlichen Zusammenhalts in unserem Land gehören derzeit mindestens sechs. Die erste ist der absichtliche, teils demografisch notwendige, teils zur Herbeiführung von Multikulturalität und Multiethnizität erwünschte Wandel Deutschlands zu einer Einwanderungsgesellschaft. Dieser zeitigt einerseits „Entheimatungsempfindungen" nicht weniger Einheimischer, andererseits große wechselseitige Gegnerschaft von Befürwortern und Gegner unserer bisherigen Einwanderungspolitik (siehe Patzelt 2016a). Diese letztere erfolgt – weit über die verbürgte Freizügigkeit innerhalb der EU hinaus – im Wesentlichen über das Asylrecht, die Genfer Flüchtlingskonvention, die Gewährung subsidiären Schutzes sowie über den Familiennachzug. Sie wurde aber jahrzehntelang durch kein Einwanderungs- oder Fachkräftezuwanderungsgesetz gesteuert, das – nach breiter öffentlicher Diskussion – vom Bundestag beschlossen worden wäre.
Zweitens ist da das Schreckbild der – zumal in anderen Ländern (Frankreich, Belgien …) oder in einigen Städten Deutschlands (Duisburg-Marxloh, Berlin-Neukölln …) bereits entstandenen – Parallelgesellschaftlichkeit samt kulturell markierter oder ethnisierender Zerstückelung eines bislang gemeinsamen öffentlichen Raums. Das möchte man im eigenen Land, in der eigenen Region oder wenigstens in der eigenen Stadt gern verhindern. Dergleichen abzuwehren, motiviert dann aber nicht nur viele zum Praktizieren guten Willens, sondern gar nicht wenige andere ganz umgekehrt zur Xenophobie, zu Straßendemonstrationen und zum Protestwahlverhalten.
Drittens besteht ein großes Risiko, dass soziale Verteilungskonflikte sich mit kulturellen sowie mit ethnischen Konflikten verbinden. Dieses Risiko steigt im Umfang, in dem staatliche Ausgaben für existenzsichernde und auf Integration abzielende Maßnahmen im Rahmen eines politisch – und somit demokratisch – nur wenig gesteuerten Zuwanderungsgeschehens getätigt werden. Es verschärft sich zudem im Ausmaß, in dem – ausgeglichener Staatshaushalte wegen – andere wichtige öffentliche Ausgaben nicht erhöht oder gar gekürzt werden, um nämlich die erforderlich gewordenen Mittel für die Versorgung von Migranten bereitzustellen. Unter solchen Umständen lädt sich Sozialkonkurrenz sehr leicht kulturell und ethnisch auf – zumal dann, wenn in einer Bevölkerung wie der deutschen ohnehin schon ein gewisses Maß an Rassismus wirkkräftig ist.
Viertens ist zu handeln vom Risiko einer Übernutzung „öffentlicher Güter bzw. einer von manchen befürchteten „Tragödie der Allmende
. Dieses Risiko steigt zwangsläufig durch eine – normativ weiterhin unbegrenzte – Ausdehnung des Kreises von Mitnutzern. Derlei betrifft zunächst einmal die Inanspruchnahme des Sozialstaats durch solche Deutsche und Migranten, die – warum auch immer – nicht in der Lage sind, durch Aufnahme von Berufstätigkeit zur Finanzierung unseres Sozialstaats beizutragen. Sodann geht es um die Nutzung von Wohnraum, wobei zwischen Gentrifizierung einerseits und dem Bedarf an Wohnraum für Migranten andererseits die Wohnraumknappheit besonders in Großstädten zunimmt. Ferner geht es um die öffentliche Ordnung, die genau dann übernutzt wird, wenn allzu viele (kleine) Rechtsverstöße von (allzu wenigen) Polizisten oder von (sehr liberalen) Gerichten nicht generalpräventiv geahndet werden.
Fünftens messen Demoskopen ein stark abgesunkenes Vertrauen in Teilen der Bevölkerung darauf, es nähmen die Funktionseliten aus Politik, Medien, Kultur und Zivilgesellschaft all jene Herausforderungen ernst und wüssten Wege, sie nachhaltig zu bestehen. Hier setzt sich inzwischen die seit der Wiedervereinigung grassierende Politikverdrossenheit um in Rufe wie „Volksverräter" sowie in die Empfindung, Deutschland stünde – wie die DDR 1989 – vor einer Revolution des von seinen Eliten verachteten einfachen Volks. Durch das Aufkommen der AfD setzt sich entsprechendes Protestverlangen in Viel-Parteien-Parlamente um, was die Bildung stabiler und kursklarer Regierungen sehr erschwert (dazu Patzelt 2018b). Das wiederum lässt politisches Vertrauen noch weiter sinken.
Sechstens ist da die schmerzliche Polarisierung in Eliten und Gesellschaft über der Frage, welche Wege zur Bewältigung jener Herausforderungen zugleich ethisch akzeptabel wie auch in der Praxis gangbar wären. Im Hintergrund erleben wir das Ende der politisch-kulturellen Dominanz der „1968er-Generation, die in Teilen die notwendige inhaltliche Auseinandersetzung mit den als ihr Gegengewicht aufgekommenen rechtspopulistischen Kräften verweigert oder sich dieser Aufgabe nur durch Ausgrenzung und Abqualifizierung der unerwünschten politischen Konkurrenz als „politisch unkorrekt
annimmt. Das alles erhitzt, ja vergiftet das innenpolitische Diskursklima.
Leider gibt es noch nicht einmal Konsens darüber, ob diese Beschreibung der Herausforderungen unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts wirklich angemessen ist. Erst recht fehlt eine gemeinsame Einschätzung der realen Ursachen selbst übereinstimmend wahrgenommener Herausforderungen. Somit mangelt es auch am Einvernehmen über taugliche Versuche, diese neuen, durch das Migrationsgeschehen und seine Anschlussprobleme verschärften Herausforderungen unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts in den Griff zu bekommen. Und selbst wenn wir eines Tages zu einer gemeinsamen Problemdiagnose gelangten: Auf welche Ressourcen könnte dann eine problemlösende Politik zählen? Um diese in den Blick zu bekommen, sind zunächst einmal die Funktionen und Dimensionen gesellschaftlichen Zusammenhalts betrachten.
3 Was ist „gesellschaftlicher Zusammenhalt"?
Ein gewisses Maß an gesellschaftlichem Zusammenhalt und an verlässlicher wechselseitiger Solidarität („Gemeinsinn") scheint die zentrale Voraussetzung für das Fehlen dauerhaft gewalttätiger Konflikte zu sein. Erst deren Absenz ermöglicht dann eine politische Ordnung, in deren Rahmen Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Pluralismus und Demokratie praktiziert werden können. Genau diese freiheitssichernden Möglichkeiten machen gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht nur funktional wünschenswert, sondern auch normativ erstrebenswert.
Allerdings darf man die Erwartungen an gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu hoch ansetzen. Eine pluralistische Demokratie baut nämlich gerade auf die Buntheit einer Gesellschaft. Das meint die Mannigfaltigkeit der Eigentümlichkeiten unterschiedlichster Personen und Gruppen sowie die Vielfalt von Ansichten und Interessen, von politischen Positionen, von konkreten Auseinandersetzungen samt sie befeuerndem Streit. Eingeschätzt wird das alles gerade nicht als ein „leider hinzunehmendes Übel", sondern als selbstverständlicher Ausdruck von Individualität und Freiheit, als wünschenswertes Mittel politischen Lernens, als Königsweg mentaler und struktureller Anpassung an neue Herausforderungen – und somit als Ressourcen eines solchen gesellschaftlichen Zusammenhalts, der sich keineswegs aufgezwungener Homogenität verdankt, sondern der wechselseitig gut und gern ertragenen Heterogenität. Die Grundfrage lautet deshalb, wie viel und welche Art von Zusammenhalt eine pluralistische Demokratie wie die unsere braucht, um gesellschaftlichen Fliehkräften entgegenzuwirken, um die Gesellschaft stabil zu halten, sowie um Offenheit für Veränderung und Neues zuzulassen – und zwar wider alle oft verständliche Neigung zur bloßen Aufrechterhaltung des status quo.
Ein so in einen größeren Systemzusammenhang eingebettetes Konzept „gesellschaftlichen Zusammenhalts" verlangt dann aber auch nach einer präzisen Operationalisierung. Sie lässt sich entlang von drei Dimensionen gesellschaftlichen Zusammenhalts leisten: der Kohäsionsdimension, der Inklusions-/Exklusionsdimension und der Prozessdimension.
Die Kohäsionsdimension gesellschaftlichen Zusammenhalts umschließt zunächst einmal die sozioökonomische Kohäsion, erfassbar u. a. über die – auch räumlich vergleichende – Sozial- und Reichtums-/Armutsstatistik. Zur Kohäsionsdimension gehört ferner die soziokulturelle Kohäsion, nämlich die Gesamtheit der wechselseitig verbindenden, dabei das Hier-und-Jetzt transzendierenden Selbst- und/oder Zukunftskonzepte, desgleichen die mit alledem einhergehenden Solidaritätsbereitschaften samt deren räumlichen, sozialstrukturellen sowie inhaltlichen Grenzbereichen (dazu Patzelt 2018c). Dies alles ist empirisch auffindbar u. a. in den Diskursen um Beheimatung und um deren Wandel, um das Pro und Contra von (Verfassungs-) Patriotismus, um Geschichtsbilder und um deren plausibilisierende Narrative, um ethische und/oder alltagspraktische Prinzipien sowie um religiöse bzw. areligiöse Transzendenzvorstellungen. Diese decken dasjenige ab, was über das bloße Dasein hier und jetzt hinausgeht, sozusagen den jeweils nächsten Kontext, der einem zu verstehenden Sachverhalt seinen Sinn verleiht. Dabei bezeichnet man als (die) „Transzendenz oft jenen „letzten Kontext
, über den nun auch noch hinauszugehen man keine analytische Kraft oder keine Lust mehr hat. Ferner geht es um die kommunikative Kohäsion, erfassbar u. a. über – auch räumlich sowie sozialstrukturell verglichenes – Medienvertrauen und Mediennutzungsverhalten, über entsprechend verglichene Medien(nutzungs)kompetenz, sowie über das an den Tag gelegte kommunikative Handeln von Einzelnen, Gruppen und Sozialaggregaten.
Zur Inklusions-/Exklusionsdimension von gesellschaftlichem Zusammenhalt gehört zunächst einmal die Selbstinklusion bzw. Selbstexklusion. Hier geht es um den Umfang, um die Selbst- und Fremdbilder sowie um die Selbstorganisation solcher Bevölkerungsgruppen, die sich – etwa aufgrund von Veränderungs- und vieldimensionalen Entheimatungsprozessen – gesellschaftlich ausgegrenzt fühlen oder dem jeweiligen politischen System bzw. dessen Repräsentanten (deshalb) „innerlich gekündigt" haben. Sodann gehört zur Inklusions-/Exklusionsdimension die Fremdexklusion. Gegenstände sind hier jene Narrative und Praxen, sowie die Trägergruppen von alledem, durch welche – mittels einer weit über bloße Polarisierung hinausgehenden Exklusion von anderen als „Fremden oder gar „Feinden
– vor allem Eigenidentität gestiftet und Zusammenhalt gerade durch Abwehrverhalten geschaffen wird. Indikatoren für diesbezügliche praktische – und deshalb auch analytisch wichtige – Herausforderungen finden sich in den Inhalten von (Selbst-) Ausgrenzungsdiskursen und/oder von konkludenten (Selbst-) Ausgrenzungspraxen, einschließlich von Diskursen und Praxen der (Selbst-) Viktimisierung, in symbolisch markierten Abgrenzungen von Lebenswelten, Soziallagen und Kulturgruppen, sowie im Aufkommen von Repräsentationslücken und Protestbewegungen.
Bei der Prozessdimension gesellschaftlichen Zusammenhalts geht es um die Geltung und die Art der praktischen Nutzung von kulturellen, gesellschaftlichen sowie politischen Spielregeln (Patzelt 2012, 2013a), und zwar einerseits für Aushandlungs- und Konfliktdurchführungsprozesse, andererseits für Sozialisations- und soziale Kontrollprozesse, desgleichen um deren Einbettung in soziokulturelle Gemeinsinns- und Transzendenzvorstellungen (Patzelt 2013b). Zu diesen letzteren gehören jene Werte, in deren Dienst man – redlich oder taktisch – das eigene Handeln oder gleich die ganze Gesellschaft gestellt sehen will. Manche davon sind in der Verfassung oder deren Leitidee(n) verankert, manche in normativen kulturellen Selbstverständlichkeiten (in Deutschland etwa das dreifache „Nie wieder!" zu Diktatur, Krieg und Rassismus). Dabei muss stets geachtet werden auf das Wechselspiel zwischen einerseits bestehenden Strukturen, die ihrerseits meist um etablierte Werte herum aufgebaut und stabilisiert wurden, und andererseits neuen Werten, die – warum auch immer – in ein bestehendes Gesellschaftsgefüge eingebracht werden. Sie verändern nämlich jene Sinnstrukturen, in die bestehende Institutionen eingefügt sind, und somit auch die Reproduktions- und Stabilisierungsmöglichkeiten dieser Institutionen. Das wird besonders dann zur sowohl praktischen als auch analytischen Herausforderung, wenn der Gegenstandsbereich von Zusammenhangs- und Zusammenhaltsempfindungen in einer Weise erweitert wird, die viele Mitglieder einer Gesellschaft als zu rasch oder sonstwie problematisch erleben. Zu handhaben oder zu untersuchen sind dabei – mitsamt ihren Wechselwirkungen – temporale Erweiterungen („Morgen ist wohl alles anders als heute!"), horizontale Erweiterungen („Aufgehen von Heimat in nicht mehr kontrollierbaren größeren Zusammenhägen") und vertikale Erweiterungen („Überwölbung des Vertrauten durch neue Werte oder fremdartige Religiosität").
Erfassbar sind die Wandlungen all dessen samt den sie begleitenden Störungen, Stärkungen oder Neuakzentuierungen gesellschaftlichen Zusammenhalts durch die Auswertung medialer Berichterstattung über die Praxis aktueller gesellschaftlicher Konflikte, durch die Analyse der sie begleitenden – gerade auch internetvermittelten – Kommunikation, desgleichen durch Interviews, Fokusgruppen und teilnehmende Beobachtung. Drei Leitfragen sind dabei von besonderem Interesse: Wo und warum gibt es welche Diskrepanzen zwischen Problemwahrnehmungen bzw. Situationsdefinitionen durch Wissenschaft und Politik einerseits und realen Problemlagen der Bürgerinnen und Bürger andererseits? Welche Konsequenzen haben die erkannten und verstandenen bzw. erklärten Phänomene bei wem für die Schaffung, Aufrechterhaltung oder Gefährdung gesellschaftlichen Zusammenhalts? Wie wirken sich die ausfindig gemachten Sachverhalte bzw. Zusammenhänge auf die Legitimitätslage des politischen Systems und auf seine Akteure aus?
4 Ressourcen gesellschaftlichen Zusammenhalts
Aus dieser Operationalisierung von gesellschaftlichem Zusammenhalt lässt sich auch schon ein erster Überblick über dessen Ressourcen gewinnen. Hinsichtlich der Kohäsionsdimension von gesellschaftlichem Zusammenhalt gehört zu dessen zentralen Ressourcen zunächst einmal ein nicht nur als auskömmlich, sondern – vor allem