Das außergewöhnliche Leben des Friedrich Joseph Haass: Biografie einer Legende
Von Dirk Kemper
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Buchvorschau
Das außergewöhnliche Leben des Friedrich Joseph Haass - Dirk Kemper
Dirk Kemper
Das außergewöhnliche Leben
des Friedrich Joseph Haass
Biografie einer Legende
Gedruckt mit Unterstützung
der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Moskau,
des Instituts für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen an der RGGU Moskau,
der Deutschen Schule Moskau, »Friedrich-Joseph-Haass-Schule«
und der St.-Elisabeth-Gemeinde Moskau.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv aus: (russ.:) A. F. Koni:
Fjodor Petrowitsch Gaas (Friedrich Joseph Haass).
Biografische Skizze: 3. erg. Aufl. Sankt Petersburg 1904.
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-82603-0
ISBN Print: 978-3-451-39051-7
Inhalt
Einleitung: Warum Haass?
Provokation der Vernunft
Romanfähig, gut für die Weltliteratur
Eigensinn und westliche Werte
Kulturgeschichte als Leseabenteuer
Christliche Leitfigur
Der Freiheitsbaum in Münstereifel
Die Deutschen und die Revolution
Zettel und Einschlag: Das Generationengewebe der Familien
Goethe war schuld: Moderner Individualismus
Bindung und Eigensinn: Verwurzelte und entwurzelte Familientradition
Schulzeit in Münstereifel
»Besatzung«, »Befreiung« oder »Réunion«
Studienvorbereitung in Köln
Studium
Das Medizinstudium um 1800
Medizinphilosophie oder empirisch-experimentelle Naturwissenschaft
Medizinphilosophische Strömungen
Romantische Medizin
Jena
Anatomie bei Justus Christian Loder
»Romantische« Philosophie bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
Schelling I: Das ganze Wesen der Dinge und die Einheit der Welt
Schelling II: Organismus
Schelling III: Erregbarkeit
Karl Himly und die Augenheilkunde
Göttingen
Wien
»Medicinische Polizey«
Aufbrüche nach Russland
Der russische Arbeitsmarkt
Von Peter I. bis Katharina II.
Volksaufklärung und Anwerbung: Der Beginn des 19. Jahrhunderts
Der russische Arbeitsmarkt für Mediziner
Anwerbungen und Abwanderungen in Haass’ Umfeld
Nach Moskau! In Moskau
Moskau, nicht Petersburg
Kaukasus, Mineralquellen, Badekuren
Forschung im Dienst der »medicinischen Polizey«
Croup
Im »Vaterländischen Krieg« 1812–1814
Vom Erfolg im Ausland und dessen Grenzen
Gefängniskomitee
Strafe und Gefängnis
Menschenrechte im Gefängnis?
Der humanistische Einspruch gegen die Verwahrlosung der Gefängnisse
Die Erweckungsbewegung und John Howards Gefängnisvisitationen
Die Petersburger Gefängnisschutzgesellschaft
Haass im Moskauer Gefängniskomitee
Verbannung und Strafe
Der »Wilde Osten« oder das »Totenhaus«
Verbannung und Kolonisation
Vielfalt und Beliebigkeit – Verbannungsgründe
Zuständig für mobile und immobile Gefangene: Haass im Moskauer Gefängnisschutzkomitee
Medizinisches Armenasyl und »Haassowka«
Cholera
Antriebskräfte
Das Menschenbild der Aufklärung
Christlicher Glaube als Urgrund
Unbeirrbarkeit
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Über den Autor
Einleitung: Warum Haass?
Provokation der Vernunft
Niemand wird so schnell fertig mit Friedrich Joseph Haass. Das war schon bei den Zeitgenossen so. Seinem Handeln und Denken haftet etwas an, das irritiert und auch provoziert. Denn in der Auseinandersetzung mit dem eigenwilligen deutschen Arzt in Moskau stellt sich der Betrachter immer wieder die Frage, wer denn nun auf der sicheren Seite der Vernunft stehe: Er oder ich? In seinem Engagement für die nach Sibirien Verbannten handelt Haass gut – aber immer wieder auch fanatisch gut. Er verweigert stets die Logik von Macht und Verwaltung, um menschlich zu handeln – aber auch allzu menschlich. Er wird verehrt als großer Humanist – verbeißt sich aber auch so sehr ins Kleine, dass er einem schon »ganz verteufelt human« vorkommt, um Goethes Wort zu benutzen.¹
Unsere Vernunft will natürlich das Gute, aber mit Maßen; das Humane, aber im wohl erwogenen Ausgleich mit anderen Werten. Haass will das nicht. Er folgt seinem inneren Kompass, der christlich genordet ist, ganz bedingungslos. Er ist kein Revolutionär, der Grenzen einreißt, wohl aber einer, der Grenzen schlichtweg ignoriert oder gar nicht sieht. Er verdient und erheischt unsere Sympathie und Zustimmung, und doch erweist er sich als anstrengender, gelegentlich auch nervenzehrender Weggefährte.
Haass hat viele Beinamen bekommen, auch solche, die ihm nicht nur schmeicheln. Wer nicht mit ihm zurechtkommt, nennt ihn einen Sonderling an den Rändern der Gesellschaft oder einen aus dem Ruder gelaufenen Philanthropen, schlimmer noch, einen Don Quijote mit Realitätsverlust. Dem entgegen steht das faszinierende Bild des Narren in Christo, dessen Narretei nicht aus einem Defizit, sondern aus einer großen Gabe, aus einer überwältigenden Glaubens- und Weltsicherheit resultiert.
Romanfähig, gut für die Weltliteratur
Eine solche psychische Konstellation musste natürlich denjenigen russischen Schriftsteller faszinieren, der wie kein anderer das komplexe Gewirr von Sünde, Absturz, Buße, Sühne und Wiederaufrichtung im menschlichen Leben zu durchleuchten wusste. Bei Fjodor Dostojewski, dem Psychologen von Weltrang, findet sich in dem Roman Der Idiot ein kristallklares Porträt des Dr. Haass, nur dass er aus dem Mediziner einen alten General macht: »[…] der hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, dauernd die Gefängnisse und die Verbrecher zu besuchen; jede Abteilung der nach Sibirien Verschickten wusste schon im Voraus, dass außerhalb Moskaus auf den Sperlingsbergen ›der alte General‹ sie besuchen würde. Er erfüllte seinen Vorsatz mit größtem Ernst und in aller Frömmigkeit […]«. Dostojewski interessiert natürlich die vermeintliche Konfrontation des »nur« Guten mit dem »nur« Bösen und deutet kurz an, wie beide Seiten einander über- und unterschätzen. Doch dieses Zusammentreffen bleibe nicht folgenlos, so Dostojewski. Der Effekt der Haass’schen Arbeit sei nicht vordergründig zu greifen: »Aber wer kann es wissen, welch ein Samenkorn ›der alte General‹, den er in zwanzig Jahren nicht vergessen hatte, ihm [dem Schwerverbrecher] auf ewig in die Seele geworfen hat?«²
Doch das weltliterarische Potenzial von Haass reicht weiter. Der berühmte Raskolnikow in Schuld und Sühne, der eine alte Frau umbringt, einfach aus dem Bewusstsein heraus, das Recht zu dieser Tat zu haben, sollte nach einer frühen Arbeitsnotiz Dostojewskis Haass begegnen. Gespräche zwischen beiden wären gefolgt. »Warum kann ich nicht sein wie Haass?«, sollte sich Raskolnikow fragen, bevor er sich tatsächlich diesem Vorbild anverwandelte. Letztlich schrieb Dostojewski den Roman anders, doch Haass war als Hauptfigur eines großen Romans zeitweise in der Planung des Romanciers gewesen.
Eigensinn und westliche Werte
Wird Friedrich Joseph Haass aus Münstereifel von den Russen bis heute als der »heilige Doktor von Moskau« verehrt, weil er so russisch oder weil er so deutsch, beziehungsweise westeuropäisch, war? Mit seinem Engagement für die nach Sibirien Deportierten stand er jedenfalls in Russland nicht allein. Wer wusste, dass die wenigsten Verbannten von einem ordentlichen Gericht verurteilt worden waren und dass man den meisten lediglich Ordnungswidrigkeiten und geringfügige Vergehen vorgeworfen hatte, betrachtete die Gefangenen nicht als Verbrecher, sondern als »Unglückliche«, die sich in den Fallstricken des Schicksals verheddert hatten. In Russland begegnete man ihnen mitfühlend und suchte ihre Not ein wenig zu lindern, sei es aus philosophischen, sei es aus religiösen Gründen. Doch das Engagement des Friedrich Joseph Haass hatte noch eine andere Qualität. Er brachte ein westeuropäisches Denken von den Rechten der Person und der Würde des Menschen mit, das dem russischen Rechtssystem und überhaupt der russischen Kultur damals noch völlig fremd war. Für Haass war der Mensch schon von Geburt an Inhaber unveräußerlicher Rechte, die er auch im Stande der Gefangenschaft nicht ganz verlieren konnte. Leicht verband sich dieses Gedankengut der Aufklärung mir seinem christlich-katholischen Menschenbild. In der russischen Kultur, in der auch die Rechte und die Würde des Menschen noch völlig vom sozialen Status einer Person abhingen, in der Menschenrechte ein Oberklassenprivileg waren, wirkte Haass’ Standpunkt wie ein Import aus einer fernen Zukunft. Als lautstarker Theoretiker hätte er ihn auch nie vertreten dürfen. Doch als Grundlage seines praktischen Handelns verlieh dieser westliche Standpunkt seinem Engagement eine besondere Strahlkraft, etwas Verheißungsvolles. Es war das stille Versprechen, dass sich die Dinge auch in Russland ändern könnten.
Kulturgeschichte als Leseabenteuer
In Haass’ Biografie schneiden sich zahlreiche Linien der Kulturgeschichte, und zwar ganz unterschiedlicher Herkunft. Die politische Ereignisgeschichte wartet mit Umwälzungen von der Französischen Revolution über den Dekabristenaufstand 1825 gegen den neuen Zaren Nikolaus I. bis zu den europäischen revolutionären Bewegungen von 1848 auf. In der Medizingeschichte arbeiteten die Lehrer der Generation Haass daran, dem Fach eine eigene theoretische Basis zu geben und es aus dem Langzeitsog der antiken Vier-Säfte-Lehre zu befreien. In der Rechtsgeschichte stößt Westeuropa zu Haass’ Lebzeiten mit dem Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 und dem Code civil von 1804 in die Moderne vor, während Russland noch damit beschäftigt ist, mittelalterliche Rechtsvorschriften zu sammeln und zu kodifizieren. In der Theologie wird die Verherrlichung der Vernunft, die nach der Reformation in der Aufklärung so lange gefeiert wurde, bis sich die Religion(en) in ein bisschen Philosophie auflösen sollten, wieder zurückgepfiffen. Aus der geschichtlichen Erzählung von Kirche und Ketzern wurde wieder die Lehre von Gott, seiner Schöpfung und seinem Walten.
Das Buch lädt ein, auf all diesen Wegen und Kreuzungen zu flanieren, mitzunehmen, was interessiert und gefällt – und gelegentlich auch zu überspringen, was im eigenen Fragehorizont keine Rolle spielt.
Christliche Leitfigur
Jeder, der über Haass geschrieben hat, hat »seinen« Haass erfunden. Für seinen Entdecker und ersten Biografen, den Russen Anatoli Koni, war Haass ein strahlender Held der Gefängnisschutzbewegung, der er selber angehörte. Der große Humanist Lew Kopelew machte aus ihm einen großen Humanisten, der seinen Platz innerhalb der russisch-deutschen Partnerschafts- und Versöhnungsgeschichte einnimmt. Die russische Medizingeschichtsschreibung feiert ihn als Reformer auf verschiedenen Gebieten der Diagnostik und therapeutischen Praxis. Im religiösen Schrifttum erscheint er je nach Richtung als konsequenter Praktiker der Liebestheologie des Neuen Testaments oder als Narr in Christo. Auch auf Anregung der russischen Orthodoxie hin betreibt die katholische Kirche ein Seligsprechungsverfahren.
All diese Ansätze tragen ihre Berechtigung in sich und stoßen doch nach außen an Grenzen ihres Geltungsanspruchs. Natürlich entwirft auch dieses Buch einen bestimmten Haass, doch weder ihm noch seiner Lebensgeschichte soll ein bestimmtes Etikett aufgezwungen werden. Vielmehr darf und wird Haass unterschiedlich erscheinen, je nachdem, in welchem geschichtlichen oder fachlichen Zusammenhang wir ihn betrachten. Leichte Dissonanzen zwischen diesen Erzählsträngen erschienen dabei unvermeidbar und eher erkenntnisfördernd als -störend. Ein Heiligenbuch ist nicht beabsichtigt, doch liegt es in der Sache selbst, dass die Biografie auch eine christliche Leitfigur anbietet.
1 An Schiller, 19. Februar 1802.
2 Dostojewski 1963, S. 61f.
Der Freiheitsbaum in Münstereifel
Die Deutschen und die Revolution
Auch Revolutionen brauchen Symbole, die vermitteln, worin der Kern des revolutionären Anliegens besteht. Mit dem Dreiklang »Liberté, Égalité, Fraternité« hatte die Französische Revolution ab 1789 auf rhetorischer Ebene schnell eine Parole gefunden, die eingängig und klar war und sich somit für die Ausbreitung des revolutionären Funkens bestens eignete. Bis heute identifiziert sich die Französische Republik mit diesen Leitbegriffen und stellt sich damit bewusst in die Tradition der Revolution von 1789. Doch Menschen brauchen neben abstrakten Begriffen vor allem Bilder und Zeichen. Die Errichtung von Freiheitsbäumen entsprach ganz dieser Logik. Bereits 1790 soll von den Jakobinern der erste »arbre de la liberté« in Paris errichtet worden sein. Ein schlanker Baumstamm, geschmückt mit Bändern, Schleifen und Tafeln, die das revolutionäre Programm durch Schlagworte unterstrichen, an der Spitze geschmückt mit der roten Jakobinermütze, so wurden die Freiheitsbäume von Revolutionsfreunden umtanzt – und von Revolutionsgegnern wieder umgeworfen.
Abb. 2: Freiheitsbaum mit Jakobinermütze. Aquarell über Feder- und Bleistiftzeichnung von J. W. Goethe (1792)
Münstereifel, die Geburts- und Heimatstadt von Friedrich Joseph Haass, wurde von den französischen Truppen, die die linksrheinischen Gebiete besetzten, Anfang Oktober 1794 erreicht. Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz, der gleichzeitig Herzog von Jülich-Berg war, hatte als Landesherr noch im August die Bevölkerung zu unbedingtem Widerstand aufgerufen, doch seine Untertanen folgten ihm nicht. Vertreter aller Ortschaften erklärten vielmehr, bei der Besetzung keinen Widerstand leisten zu wollen, um Brandschatzungen und anderen Exzessen der Besatzer zu entgehen. Von größeren Ausschreitungen der Franzosen weiß die Stadtchronik auch nichts zu berichten. Deren Waffen waren subtiler: Sofort wurden die besetzten Gebiete vom französischen Verwaltungs- und vor allem Steuerwesen erfasst. Noch bevor die französische Herrschaft durch Militärpräsenz gesichert war, wurde dem Blankenheimer Bezirk, zu dem auch Münstereifel gehörte, im März 1794 eine Kontributionssumme von 1,2 Millionen Livres auferlegt. In den Akten der Stadt wird unter dem 12. Mai 1796 vermerkt: »In der Stadtkasse ist kein Geld mehr. Deshalb wird der Kommandant gebeten, von weiteren Requisitionen und Anschaffungen abzusehen.«¹
Kurz, der Herrschaftswechsel vollzog sich nicht unproblematisch, aber weitgehend unblutig. Das scheint die politische Atmosphäre in Münstereifel auf Dauer eher profranzösisch eingestimmt zu haben. Immerhin, in Rheinbach (zwischen Münstereifel und Bonn gelegen und Münstereifel als Kanton übergeordnet) – oder nach anderer Überlieferung direkt in Münstereifel² – errichteten am 15. März 1798 »Volksfreunde« einen Freiheitsbaum, und das zu diesem späten Zeitpunkt, offenbar nicht auf Anweisung der Franzosen. Mit dem Frieden von Campo Formio war nämlich das linksrheinische Gebiet im Oktober 1797 Frankreich zugefallen, und im Januar 1798 waren die vier neuen, linksrheinischen Departements eingerichtet worden. Die Franzosen bedurften also zu diesem Zeitpunkt der Symbolpolitik der Freiheitsbäume nicht mehr, wohl aber die »neufränkische« Bevölkerung, die – sei es aus profranzösischer Gesinnung oder Opportunismus – Kooperationssignale aussandte. In Rheinbach oder Münstereifel hatte die Sache Volksfestcharakter: »Zu dieser Feier ist die ganze Bürgerschaft auf dem Rathaus eingeladen worden, wo sie sich bei Schmaus und Tanz auf Kosten der Stadt bis über Mitternacht vergnügt.«³
In der Nacht fiel der Freiheitsbaum um. Zudem war das Symbol der republikanischen Liberté am nächsten Morgen »mit Menschendreck beschmiert« worden. Ganz klar wird die Sache nicht. Die Annalen der Stadt Münstereifel wissen zwar von einem pfälzischen Soldaten, den man im Namen der Republik wegen seines ungebührlichen Verhaltens habe vom Platz verweisen müssen, der aber schwer angetrunken in der Nacht wieder aufgetaucht sei und berichtet habe, er sei von aristokratisch gesinnten Subjekten zu gegenrevolutionären Taten aufgefordert worden. Doch ob man in ihm im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit den wahren Täter zu zwei Tagen bei Wasser und Brot verurteilt hatte, bleibt doch ungewiss.
Und es sollte ungewiss bleiben, weil das beliebte Narrativ vom aufgerichteten und dann umgehauenen Freiheitsbaum seinerseits symbolisch wirkt. Das Aufrichten changiert zwischen Anweisung der Besatzer, vorauseilendem Gehorsam der Besetzten und vermeintlich aufrechter Revolutionsbegeisterung – und das Umhauen zwischen kollektivem Widerstand, einer mutigen Einzeltat gegen die Besatzer und dem Zufallsgeschehen eines ausufernden Gelages. Schließlich hatte die Freiheitsbaum-Feier die Gemeindekasse »für Wein, Essen, Kaffee, Branntwein 248 Reichstaler und 58 Stüber«⁴ gekostet.
Diese Vagheit und Mehrdeutigkeit des Narrativs war vor allem in der nachfranzösischen Zeit, nach dem endgültigen Sieg der Koalition über Napoleon und nach dem Wiener Kongress von 1814, Gold wert. Wie in einer Kippfigur konnten profranzösische Sympathien in nationalen Patriotismus umschlagen, mochte der Täter zum Opfer werden, der Nutznießer der Franzosenherrschaft zum prinzipiellen Gegner. – Der Freiheitsbaum war umgefallen. Wer nur hatte das getan?
Die große und die kleine Bühne des Welttheaters
Als politische Tat waren Revolutionen den Deutschen in ihren vielen kleinen Staaten zwar durchaus suspekt, nicht jedoch als gedankliches Spiel, als theoretische Idee.⁵ Sich im Gedankenspiel einzurichten und sich dort für die bittere Realität schadlos zu halten, war eine den deutschen Intellektuellen durchaus vertraute Strategie. Die Aufklärung hatte ein Denken in zwei Dimensionen gelehrt: Realpolitisch war man beispielsweise Untertan in einem Duodezfürstentum; philosophisch aber war man Teil »der« Menschheit und ihrer neu erfundenen »Geschichte« (im Singular), hatte Anteil an menschheitsgeschichtlichen Entwicklungen, war ein kleines Rad in dem umfassenden Vervollkommnungsprozess, der durch die Vernunft selbst angetrieben wurde.
Das »Theatrum mundi«, das Theater der Welt, wurde gleichsam auf zwei Bühnen parallel gespielt: auf der kleinen Bühne des Alltäglichen und auf der großen der »Weltgeschichte« oder – in der Begrifflichkeit Friedrich Schillers – der »Universalgeschichte«.⁶ Ganz entscheidend war dabei, dass die Aufklärer im Laufe des 18. Jahrhunderts einen neuen Drehbuchautor für das Geschehen auf der Großbühne ausmachten, und das war nicht mehr Gott, sondern die Vernunft. »Geschichte« war nunmehr das Kontinuum, in dem sich die Vernunft selbst verwirklichte, was heißen sollte, dass die philosophische und theoretische Idee der Vernunft in der Geschichte konkret und praktisch wurde. Die Französische Revolution bedeutete für viele den Triumph der Philosophie in der Praxis.⁷
Nach diesem Drehbuch zerfiel die »Geschichte« nicht mehr in viele kleine, mehr oder weniger unzusammenhängende Geschichten, sondern bildete die eine große Erzählung. Und die war spannend und dramatisch, denn auf der Bühne stand die ganze Menschheit, die in der Geschichte langsam alle ihre Möglichkeiten entfaltete und umsetzte, um am Ende perfekt, vollkommen (Perfektibilität) zu werden. Was auf der großen Bühne geschah, war also von Belang, von Bedeutung, ja von menschheitsgeschichtlicher Dimension. Das war nicht nur bedeutungsvoll, sondern auch tröstend, denn der Universalgeschichte, so wie sie von den Aufklärern konzipiert worden war, war eine frohe, optimistische Botschaft zu eigen, nämlich die des Fortschritts. In allen Bereichen des Lebens, in der Wissenschaft, der Technik, der Ökonomie und der Politik, konnte man darauf vertrauen, dass die Logik der Geschichte in naher, mittlerer oder ferner Zukunft eine höhere Entwicklungsstufe hervorbringen würde, in der dann auch alle Probleme auf der kleinen Alltagsbühne gelöst sein würden. In exakt diesem Fortschrittsglauben bauen wir heute noch Atommeiler, obwohl wir weder die Abfalltechnik noch die Entsorgung beherrschen.
Diese neue Dimension der Weltgeschichte erzeugte also einen Raum, in dem politische Ereignisse wie Kriege oder Revolutionen, die man früher als unvermeidbare Schicksalsschläge auf der kleinen Bühne verortet hätte, plötzlich eine enorme, ja geradezu aufgeblähte Bedeutung auf der großen Bühne bekamen. Sie wurden jetzt gelesen als Teil des größten denkbaren Zusammenhangs, nämlich der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Man muss sich deutlich vor Augen führen, dass die Verlagerung von geschichtlichen Ereignissen wie der Amerikanischen oder der Französischen Revolution von der kleinen Alltagsbühne auf die große Menschheitsbühne diese Ereignisse überhaupt erst monumentalisierte: Was auf der kleinen Bühne der Streit zwischen politischen und finanziellen Einzel- und Gruppeninteressen in Frankreich war, der zudem noch mit äußerst schmutzigen Mitteln ausgetragen wurde, nahm sich auf der großen Bühne plötzlich als »Revolution« aus, in der nicht mehr Gruppen miteinander zankten, sondern die Menschheit zu Idealen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aufbrach. In dieser medialen Wandlung erschienen die Amerikanische ebenso wie (zumindest bis zum Terror) die Französische Revolution als etwas Begrüßenswertes, Zukunftsträchtiges, dem man auch in Deutschland seine Sympathien nicht verweigern mochte.⁸
Natürlich konnte die zukunftsoptimistische Botschaft auf der großen Bühne mit der Misere auf der kleinen des Alltags versöhnen, natürlich hatte das Gedankenspiel auf der großen Bühne insofern eine entlastende und auch kompensatorische Funktion. Wie jedes auf Wirkung abzielende Drama bedurften auch die Stücke auf der großen Bühne eines möglichst klaren Identifikationspotenzials, und daran mangelte es bereits dem Amerikanischen Unabhängigkeitskampf von 1775 bis 1783 wahrlich nicht. Zwei Strategien der berichtenden Texte fallen in diesem Zusammenhang auf: Erstens musste die Handlung in den Rang der »Welthistorie« erhoben werden; zweitens sollten die Helden des Dramas ihr bloßes Menschsein überschreiten, sollten als Repräsentanten eines größeren Prinzips erkennbar und verehrungsfähig sein. Es ging um eine neue Form des Nation Buildings ohne »gottgewolltes« Königtum, ohne einen Herrscher »von Gottes Gnaden«. Auf der Bühne entstand nichts weniger als die »Utopie freier Weltbürger«.⁹ Deren Lichtgestalt und Anführer, Benjamin Franklin, wurde mythologisiert, wurde zum »Prometheus der neueren Zeiten« wie zum wahren Volkstribun verklärt.¹⁰
Abb. 3: Hugo Vogel – Prometheus bringt den Menschen das Feuer, 1910
Die Prometheus-Metapher findet sich bereits 1756 bei Kant wegen der Erfindung des Blitzableiters;¹¹ doch Franklin-Prometheus ist mehr, eben auch der trutzende junge Mann, der den alten Autoritäten die Anerkennung verweigert, der die Blitze des Zeus als Strafe nicht fürchtet, der die kulturstiftende Kraft des Feuers den Göttern stiehlt und den Menschen schenkt, um so eine ganz neue Ära der Menschheitsgeschichte einzuleiten. Auch Benjamin Franklin konnte man schließlich als Menschenbildner in Szene setzen, dabei Goethes Prometheus-Hymnos folgend:
Hier sitz’ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sey, […]
Nicht, indem er Lehm in die Hand nimmt und ihm Leben einhaucht, sondern als Lehrer wird Franklin zum Menschenbildner. So redet ihn Herder an: »[…] er, der Menschheit Lehrer, einer großen Menschengesellschaft Ordner sei unser Vorbild«.¹² Als Volkstribun lehrt dieser Lehrer den Ausgang des Menschen aus dem politischen Joch der Tyrannis, der den jungen Schiller immer wieder bewegt hat. Noch im Wilhelm Tell verbindet dieser sein Motto der frühen Jahre – »in Tirannos« (Titelblatt der Räuber 1782) – mit der Figur dessen, der aus dem Himmel nicht das Feuer, sondern die unveräußerlichen Menschenrechte holt, wie sie 1789 auch in der Bill of Rights kodifiziert wurden, um die Kultur der Menschheit zu befördern:
Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last – greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel,
Und holt herunter seine ew’gen Rechte,
Die droben hangen unveräusserlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst –
Bei alldem ist zu bedenken, dass die Amerikanische Revolution – anders als die Französische – für das deutschsprachige Publikum ein reines Medienereignis war. Es gab keine Besatzung, keine durchziehenden Truppen und keine Schlachten, die das Leben auf der kleinen Alltagsbühne betroffen hätten. Umso mehr eignete sich dieses mediale Lesedrama für Projektionen sowie für die Kompensation eigener Unfreiheit. Goethe sah diesen Zusammenhang im Alter ganz klar: »Amerika war damals, vielleicht noch mehr als jetzt, das Eldorado derjenigen, die in ihrer augenblicklichen Lage sich bedrängt fanden.«¹³
Zunächst galt diese mediale Distanz auch für die Französische Revolution. In der europäischen Wahrnehmung stellte sie sich nämlich bis 1791 als innere Angelegenheit der Franzosen dar. Man konnte mit der Abschaffung von Adelsprivilegien und anderen Maßnahmen sympathisieren oder nicht; konkrete Auswirkungen auf das eigene Leben erwartete man zunächst kaum. Selbst die profiliertesten Gegner der Revolution, Gustav III. in Schweden und Katharina II. in Russland, sahen in dieser Zeit keinen Anlass für ein außenpolitisches, sprich militärisches Eingreifen.
Natürlich waren die französischen Emigranten unter Führung des Comte d’Artois, eines Bruders Ludwigs XVI., bereits zu dieser Zeit aktiv und suchten den Zusammenschluss mit den europäischen Gegnern der Revolution. Im August 1791 wurde das in einem politischen Bündnis auch bekräftigt, das als Pillnitzer Erklärung auch vom preußischen König Friedrich Wilhelm II. und dem römisch-deutschen Kaiser Leopold II. unterzeichnet wurde. Der Schutz des französischen Königtums sowie der Person Ludwigs XVI. wurde als europäisches Anliegen betrachtet, das notfalls auch militärisch durchzusetzen sei, doch Ludwig XVI. selbst sorgte zunächst dafür, dass eine Militärintervention unterblieb. Unter Druck »akzeptierte« er am 3. September 1791 die neue Verfassung der von Vertretern des Dritten Standes eingerichteten Nationalversammlung, durch die Frankreich zur konstitutionellen Monarchie wurde. Der König galt nun nicht mehr als von Gott eingesetzt, wohl aber als erster Repräsentant des Volkes, was seine Unantastbarkeit und Unversehrtheit zu garantieren schien.
Doch bereits im Oktober 1791 gewannen die Girondisten prägenden Einfluss auf die Gesetzgebende Nationalversammlung, die sich vom antirevolutionären Bündnis Österreichs und Preußens machtpolitisch provoziert fühlte. Ein halbes Jahr später, im April 1792, erfolgte die Kriegserklärung Frankreichs an Österreich, mit der Eroberungsfeldzüge Frankreichs gen Osten eingeleitet wurden, die letztlich erst 1815 ein Ende fanden.
In der internationalen Wahrnehmung veränderte sich das Gesicht der Revolution seit dem Sturm auf die Tuilerien, den städtischen Wohnsitz des Königs, am 10. August 1792. Vom Hunger gequält wie auch von der Angst, die auf französischem Boden stehenden österreichischen Heere könnten der Revolution schnell den Garaus machen, radikalisierte sich die verarmte Pariser Bevölkerung unter dem Einfluss gewaltbereiter Jakobiner. Ihre Unzufriedenheit entlud sich 1792 in den Septembermorden an inhaftierten Revolutionsgegnern und dem gegenrevolutionären Klerus. Die nun einsetzende Phase des Terrors gipfelte in der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 und der Schreckensherrschaft Robespierres 1793/94.
In der heutigen Geschichtsschreibung gilt der Sturz der Jakobiner und die Machtübernahme durch die gemäßigten Girondisten, die 1795 das Direktorium als neues Machtzentrum etablierten und durch eine neue Verfassung absicherten, als Beginn einer gemäßigten, unblutigeren Phase der Französischen Revolution. Doch für die Zeitgenossen im europäischen Ausland, vor allem für die absolutistischen Herrscher selbst, blieb das weitgehend bedeutungslos. Sie waren durch die Jahre des Terrors traumatisiert und sannen – wie im Falle Russlands – auf Maßnahmen, den französischen Bazillus außer Landes zu halten: In seiner nur fünfjährigen Regierungszeit als Zar von 1796 bis 1801 kassierte Paul I. alle Lizenzen für Druckereien in Privatbesitz und brachte den Buchdruck so wieder ganz unter staatliche Kontrolle; ausländische Bücher durften nicht importiert werden; russische Studenten wurden aus dem Ausland zurückgeholt, die Zensur wurde verschärft und die Grenze für Europäer weitgehend geschlossen. Nicht weniger konsequent hatte seine Mutter, Katharina II., prorevolutionäre Einflüsse vom Lande ferngehalten, obgleich sie sich ansonsten gern als aufgeklärte Herrscherin inszenierte, die mit Diderot in persönlichem Kontakt und mit Voltaire im Briefwechsel stand. Doch Macht- und Interessenpolitik waren der Kaiserin viel wichtiger als das Dekor schöngeistiger Aufklärung, von