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Die Menschen von Versailles: Biografie eines Schlosses
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Die Menschen von Versailles: Biografie eines Schlosses
eBook512 Seiten6 Stunden

Die Menschen von Versailles: Biografie eines Schlosses

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Über dieses E-Book

VERSAILLES VOM SEHNSUCHTSORT ZU STEINGEWORDENER GESCHICHTEDer Aufstieg und Niedergang des Prachtschlosses bei Paris vom Bau bis ins 20. Jahrhundert: Wir begegnen Ludwig XIV., seinen Höflingen, Geliebten und Nachfolgern, aber auch den großen Namen französischer Kultur wie Lully oder Molière.Dieses Buch ist eine ungekürzte Neuauflage des 1973 erschienenen ersten Buches von Paul Barz. Es folgt dem Text der Originalausgabe. Lediglich die Rechtschreibung wurde behutsam modernisiert.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Apr. 2021
ISBN9783985222148
Die Menschen von Versailles: Biografie eines Schlosses

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    Buchvorschau

    Die Menschen von Versailles - Paul Barz

    Paul Barz - Die Menschen von Versailles

    Paul Barz

    Die Menschen von Versailles

    Biografie eines Schlosses

    Inhaltsverzeichnis

    In Versailles wurde auch gelebt

    Ein Haus für die Sonne

    Fort von Paris

    Der lange Weg nach Versailles

    Meine Herren, der König

    Debüt der Sonne

    Ein Mythos wird gebaut

    Die Männer am Thron

    Ganz Europa ein Versailles?

    Ein Haus in der Sonne

    Der Mythos wird eröffnet

    Die Frauen von Versailles

    Das Recht von Versailles

    Die Kunst von Versailles

    Der Adel von Versailles

    Der Alltag von Versailles

    Das Gift von Versailles

    Zwischenspiel im Trianon

    Ein Haus ohne Sonne

    Letztes Licht für den Mythos

    Die Mütter von Versailles

    Sturm auf die Horizonte

    Tote im Haus

    Der Mythos stirbt

    Die Erben des Hauses

    Nach ihm die Sintflut

    Viele Leute in Versailles

    Haus zu verkaufen

    Zeittafel

    Literatur

    Historische Überblicke und Zusammenfassungen

    Biografien und biografische Studien (Ludwig XIV.)

    Biografien und biografische Studien (Sonstige)

    Dokumente und Dokumentationen

    Teilaspekte (Politik und Wirtschaft)

    Teilaspekte (Kultur- und Sittengeschichte)

    Monografien von Schlössern

    Über den Autor

    Die Bücher von Paul Barz

    Die Bücher von Helmut Barz

    Impressum

    In Versailles wurde auch gelebt

    Versailles braucht die Sonne.

    Oder auch: Nur an Sonnentagen leuchtet die Fassade in ihrem berühmten mattgelben Schimmer auf, füllen sich die Räume mit Farben, liegt über dem Spiegelsaal wieder der silberne Firnis von einst.

    Nur an Sonnentagen scheinen die Gärten keinen Horizont zu haben, verlaufen ihre Linien ins blau-dunstig Grenzenlose.

    Nur an Sonnentagen wirkt dies Riesenhaus noch immer wie der steinerne Auftakt zu weltweiter Besitzergreifung.

    Regentage aber nehmen dem Haus seinen Glanz. Dann werden die Farben fahl, dann schwindet der Silberfirnis, dann bleibt nur eine monotone Folge muffig-grauer Säle, und der Park draußen vor den Fenstern versinkt in milchigen Nebelschwaden.

    Kein Gang hinunter zur Orangerie, keine Promenade zum Drachenbecken — sein Wasser ist trübe, der Kies knirscht feucht unter den Füßen, Statuen werden zu klobigen Fremdkörpern.

    Den vielen Hunderttausend Besuchern eines jeden Jahres jedoch scheint es gleichgültig zu sein, ob auf Versailles Sonne oder Regen fällt. Ihr Strom reißt nie ab, für sie ist Versailles die Pflichtlektion, der man das große staunende Bewundern schuldet.

    Tag für Tag vollbringt dies Haus ein Wunder: Hunderte stehen vor seiner Fassade, doch nur die wenigsten wagen sich einzugestehen, wie gründlich sie dies vermeintliche Juwel barocker Baukunst enttäuscht, wie langweilig es doch ist, dies Schloss der Schlösser.

    Von Paris her kommen die meisten. Sie haben ihren Wagen genommen oder die idyllische Vorortbahn, sie sind allein oder gehören zu jenen zahllosen Trupps, die als Reisegesellschaften in Omnibussen hinaus zum Schloss gekarrt werden. Vorn neben dem Chauffeur der Fremdenführer, über Mikrofon programmiert er seine Kundschaft, bevor überhaupt der Riesenbau in Sicht ist: künstlicher Hügel … Louis Quatorze Quinze Seize … Mansart … Le Notre … grand siècle … größtes Schloss der Welt …

    Das Städtchen wird durchquert, in dem heute immerhin schon achtzigtausend Menschen leben. Hier liebt man das Schloss, hier lebt man von ihm. Das war schon immer so — in den Tagen der Könige, als deren Lakaien in den engen Gässchen die Überreste der königlichen Tafel zu guten Preisen verkauften, und auch jetzt, da zu nicht minder gutem Preis die Überreste eines Mythos feilgeboten werden: Cafés dienen ihren Gästen den »Blick aufs Schloss« an, Kioske quellen über von buntlackierten Souvenirs, der Handel blüht, das Geschäft rentiert sich.

    Nach dem Einbruch der Großen Revolution war es gefährdet gewesen. Da hatten die Menschen dieser Stadt in den Schlossgärten rasch Obst und Gemüse gepflanzt, um den neuen Herren die Unentbehrlichkeit der Anlage zu beweisen. Die Rechnung war aufgegangen, das Schloss blieb unzerstört. Und auch jetzt noch scheint man unentwegt beweisen zu wollen, dass dieses Monument noch sinnvoll, seine Größe nicht tot, sein Mythos noch lebendig ist.

    Einen »kleinen Menschen mit großen Armen und einem dicken Kopf« hatte es schon der große Colbert mit traurigem Spott genannt. Doch so sieht es nur, wer sich den beschwerlichen Weg von dem großen Gitter über das grobklobige Pflaster bis hinauf zu Marmorhof und Mitteltrakt nicht schenkt. Den Teilnehmern arrangierter Versailles-Ausflüge bleibt in der Regel diese Tortur erspart, sie werden seitlich in das Haus geführt wie neugierige Eindringlinge, die hier eigentlich nichts zu suchen haben und denen man nur rasch einen Blick auf all die Herrlichkeiten gönnen will.

    Im Schloss dann die von Menschen überquellenden Räume, ein rascher Blick in die Kapelle, rascher Gang durch den Spiegelsaal. In Französisch, Englisch, Deutsch wird erklärt und kommentiert, verschiedene Sprachen, gleiche Worte, Geschichte zurechtgerührt zu belangloser petite histoire: Mangelnde Hygiene … barocke Illusionsmalerei … noch einmal mangelnde Hygiene, das kommt immer an, Kamine als Abort … Molière vielleicht und für Deutsche ganz sicher Liselotte von der Pfalz … ein bisschen Revolutionshorror noch, ein scheuer Blick auf die Schwelle, vor der 1789 die Gardisten der Königin hingemetzelt wurden …

    Die Stimmen überlagern, die Sprachen vermischen sich, bis ein internationales Kauderwelsch bleibt, verwirrend und wirr. So lässt man sich vom Regen nicht abhalten, so flieht man schließlich hinaus in den Park, hinaus zur Großen Terrasse. Hier ist es kalt und feucht, doch still, und diese Stille braucht man jetzt, um die Eindrücke der letzten Stunden in sich aufgehen zu lassen — die Räume, die nicht wie Zimmer, sondern wie Dekorationen wirken, die Gänge und Treppen, seltsam leer trotz der darüberflutenden Menschenmenge …

    Nicht schön, doch nützlich ist solch ein Versailler Regentag. Er meint es nicht gut, aber ehrlich mit diesem Schloss. Er zwingt zu dem Gedanken, wie es dazu hat kommen können, dass hier einmal der Mittelpunkt der Welt war. Und er zwingt zum kopfschüttelnden Resümee: In Versailles hat man also auch gelebt …

    Keinem anderen bedeutenden Bauwerk der Geschichte dürfte so wenig mit kunsthistorischer Terminologie beizukommen sein wie diesem Versailles. Barock, Rokoko — das sagt noch nichts, das lenkt nur ab von seiner wahren Wesensart. Und auch seine Entstehungsgeschichte, auf den äußeren Ablauf reduziert, gibt allenfalls Anhaltspunkte und noch nicht die Erklärung des Phänomens Versailles.

    Denn dies hier ist ein Phänomen. Oder auch: ein Mythos. So hat Versailles auf seine Zeit und auf seine Nachwelt gewirkt, auf Außenstehende und auf Dazugehörende — als mythisches Phänomen mit eigenen Gesetzen, die mit logischer Zwangsläufigkeit aus seinen Voraussetzungen hervorgingen, dann jedoch ihre eigene und unberechenbare Wirklichkeit gewannen und schließlich Herr wurden auch über den, der sie geschaffen hatte. Vergeblich haben seine Nachfolger versucht, diesen Mythos zu widerlegen, ihn auf ein normales Maß zurückzuführen — sinnlose Bemühungen. Mit einem Mythos leben hieß die Formel der französischen Politik, solange Versailles ihr Mittelpunkt war.

    Schwer macht es der Mythos seinem Betrachter. Fassbar aus Stein gebildet scheint er sich zu präsentieren, entzieht sich jedoch wieder dem Augenschein, sobald man in seinem äußeren Bild nach dem einen erklärenden Ansatzpunkt sucht.

    Das Phänomen gibt sich dem Fremden gegenüber offen und verbirgt doch zugleich seine innere Wahrheit, scheint ihn einzuladen und stößt ihn doch ab. Kein Indiz in den Räumen, kein Indiz auch das Denkmal des Erbauers, das ihm eine spätere Zeit im Schlosshof errichtet hat.

    Dies also ist er: Ludwig XIV., Sonnenkönig, Herr von Versailles. Hoch zu Ross, den Arm ausgestreckt. Man folgt der Richtung, in die er weist, man begreift nicht, was diese Geste bedeuten soll. Dort ungefähr, wohin die steinerne Hand weist, müsste Paris liegen, ausgerechnet Paris, nach dem der wirkliche Ludwig nie eine Hand ausgestreckt hat. Im Gegenteil: Viele Impulse mögen am Anfang von Versailles gestanden haben, doch keiner war so deutlich, so eindeutig wie der eine: Fort von Paris …

    Ein Haus für die Sonne

    Fort von Paris

    Paris. Ein Morgen wie viele, sehr früh. Hufschläge auf dem hohen Pflaster vor dem Schloss, Reiter, sie traben der Stadtgrenze entgegen.

    Noch ist es kühl. Doch wenn erst die Sonne höher steht und mit ihr die große Hitze kommt, wird Schlammgeruch aus den Wallgräben aufsteigen und sich dumpf über die Häuser legen. Dann wird Paris unerträglich sein.

    Um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts ist diese Stadt noch nicht die schimmernde Metropole künftiger Zeiten. Doch wurde sie bereits zur Groß-, zur Weltstadt. Noch klebt der Dreck des Mittelalters an den Mauern der winkligen Häuser und in den Ecken der finsteren Höfe. Doch schon ist dies Heimstatt für Hunderttausende. Schon kommt man aus allen Himmelsrichtungen hierher, doch nicht, um den seidigen Glanz des Wunders Paris zu bestaunen. Wer in dieser Zeit zu den Ufern der Seine aufbricht, will nicht das Amüsement. Der will allein das einträgliche Abenteuer, die große Beute, den raschen Gewinn.

    Das Meer ist nicht weit, seine Häfen entlassen täglich Legionen trüber Kreaturen in das Binnenland. Viele finden sich in dieser Stadt wieder, suchen sich irgendwo unter den muffigen Brücken, in den Winkeln der Gassen ihren Unterschlupf. Sie dürfen sicher sein, bald auf ihresgleichen zu stoßen, und sie alle formieren sich zum anonymen Riesenheer der Gesetzlosen, der professionellen Gauner, Bettler, Mörder.

    Dies sind die einen, die kleinen Abenteurer, die sich rasch in den Labyrinthen der Unterwelt verlieren. Die anderen aber, die großen Hasardeure mit den klingenden Namen und leuchtenden Wappen, brauchen für ihre Taten und Untaten kein schützendes Dunkel.

    Was den einen der umrätselte »Hof der Wunder« ist, jenes gespenstische Asyl aller Recht- und Gesetzlosen seit den Tagen Ludwigs XI., sind den anderen die Gärten der Tuilerien und das Parkett des Louvre, dieser alten Königsburg aus dem dreizehnten Jahrhundert, die Franz I. für die Neuzeit bewohnbar zu machen, suchte und die doch nie recht fertig geworden ist. Nichts Einladendes haben ihre düsteren Gänge und Säle, doch bieten ihre Mauern immerhin vagen Schutz in unsicheren Zeiten.

    Immer schon haben Frankreichs Könige versucht, vor Paris zu fliehen. Sie flüchteten sich an die hellen Ufer der Loire oder hinaus nach Fontainebleau, sie zogen ruhelos von Schloss zu Schloss, um doch immer wieder in diesen Louvre zurückzukehren. In diese Stadt, die ihre Hauptstadt ist und sich ihnen doch oft schon verweigert hat. Mächtige vor den verschlossenen Toren ihrer eigenen Kapitale — das gab es schon häufig in der Geschichte dieses Paris mit dem Wahlspruch: Fluctuat nec mergitur — mag es auch schwanken, es sinkt nicht.

    Und es sinkt auch nicht, das ewig schwankende Schiff Paris. Doch wer auf ihm Kapitän sein will, braucht einen festen Schritt und eine harte Faust. Manche haben sie besessen: der düstere Ludwig XI., rattenhaft in die Bastille-Burg verkrochen … der helle, heitere Heinrich IV., dem Paris eine Messe wert war … auch sein Sohn, der ihm so unähnliche dreizehnte Ludwig …

    Wer sich in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts noch an ihn erinnert, denkt an den ewig kränkelnden Greis, der dieser Mann schon mit vierzig war, bereits von einem frühen Tod gezeichnet, glücklos ein Leben lang: kaum Freunde, nur Neider, die Ehe zerrüttet, zwanzig Jahre kinderlos. Dann ein Wandel, so schien es: Geburt eines Sohnes, den man Louis-Dieudonné nennt, den von Gott gegebenen Ludwig.

    Nur vermeintlich war er ein Gottesgeschenk. Längst war es zu spät, als dass die Geburt eines Dauphins Beginn einer neuen und fröhlicheren Zeit am Königshof hätte sein können. Schon erzählte man sich in den Gängen des Louvre: Nach der Geburt hatte der König seiner Frau die zeremonielle Umarmung verweigert. Schon wusste man in den Straßen von Paris: Der König hasste seinen kleinen Sohn, misstraute ihm, drohte der Mutter, das Kind ihrem Einfluss zu entziehen.

    Weiter also blieben die Schatten über dem Haus dieses Königs, und es waren Schatten, die Namen trugen, Gesichter hatten.

    Da war der König selbst: nicht der Narr, den viele in ihm sehen wollten, vielmehr ein Mann mit vernünftigen Vorstellungen und klugen Gedanken. Doch wollte er sie formulieren, so traten ihm die Worte nur stotternd über die Lippen. Wer war er überhaupt — trotz seiner Königskrone? Niemand wusste es so recht, niemand interessierte sich dafür, am wenigsten die Frau, die es hätte interessieren sollen. Denn sie war seine Frau, die Königin.

    Mit fünfzehn hatte man die Schwester des spanischen Königs nach Frankreich geholt, eine Habsburgerin, die nun Königin von Frankreich wurde und sich Anna von Österreich nannte, die in ihrem Inneren jedoch immer nur das eine war: die Spanierin. Hass, Demütigungen, wachsende Isolation — das war ihr Schicksal am französischen Hof. Es änderte sich auch nicht mit der Geburt des so lange ersehnten Dauphin.

    Wäre nicht der andere, der große Dritte in diesem unseligen Terzett gewesen, dann hätte vielleicht noch die Ehe zwischen Anna und Ludwig wenn nicht gut, so doch immerhin erträglich werden können. Dann hätte sich die Königin endlich davor sicher fühlen dürfen, eines Tages doch noch das Schicksal ihrer Schwiegermutter zu teilen, die dieser große Dritte mit einem Gleichmut in die Verbannung hatte schicken lassen, als hätte es sich bei Maria von Medici nie um eine Königin von Frankreich gehandelt.

    Allgegenwärtig war dieser andere: erster am Hof, erster am Thron, erster bei jeder Entscheidung — Armand du Plessis, Herzog von Richelieu, Kardinal und Prinzipalminister Frankreichs, ein unberechenbarer Kalter, dessen schmale weiße Hände mit der gleichen Leichtigkeit irgendein Lustspiel konzipieren wie ein Todesurteil unterschreiben konnten.

    Niemand am Hof, der ihn nicht fürchtete — am wenigsten der König selbst. Und doch hatte Ludwig zugelassen, dass die rote Eminenz zwei Jahrzehnte lang Frankreichs wahrer Herrscher wurde. Er brauchte diese Kraft, diese Unerschrockenheit, diese von keinerlei Skrupeln behelligte Intelligenz, denn was wäre er, was wäre Frankreich ohne das Genie Richelieu gewesen?

    Misstrauen, Zweifel und Verzweiflung prägten den Hof Ludwigs XIII., und früh schon erfasste seine ausgedörrte Atmosphäre auch das Kind, das hier heranwuchs. Nichts aus dieser Zeit legt davon Zeugnis ab, dass dieser kleine Junge je mehr sein würde als ein allenfalls durchschnittlicher Mensch. Und doch war er dazu bestimmt, Frankreichs nächster König zu werden. Er war fünf, als er es wurde: Ludwig XIV.

    Gestorben der Kardinal, dahin der König — im Laufe eines Jahres hatte der Tod das hasserfüllt ineinander verkrampfte Trio auseinandergetrieben. Zurück blieb die nun zweiundvierzigjährige Anna, längst nicht mehr das schöne Mädchen von einst, sondern eine verbitterte Frau an der Schwelle des Alters. Nur eine Chance blieb ihr noch, das große Defizit ihres Lebens auszugleichen. Sie nutzte sie. Paris, 18. Mai 1643.

    Im Justizpalast hatten sich Frankreichs Große versammelt: die Vertreter des Parlaments, die hohen Geistlichen und Militärs, die höchsten Würdenträger. Hatten sie nicht noch vor einem Jahr einen Richelieu gefürchtet? War nicht erst vor wenigen Tagen Ludwig XIII. zu Grabe getragen worden? Jetzt erinnert man sich allenfalls noch an das »Es lebe der König!«, das die Zeremonie beschlossen hatte.

    Sollte er nur leben, der neue kleine König. Er würde keinen stören. Höfliche Redner nannten ihn noch rasch das »Sinnbild Gottes auf Erden« und eine »sichtbare Gottheit«, dann wandte man sich der Tagesordnung zu, und an der kleinen Marionette rauschte vorüber, was sich die Mutter und ihre Verbündeten für die nächste Zukunft hatten einfallen lassen: Unter dem Zuspruch der Noblen des Landes wurde Anna Regentin mit absoluter Vollmacht.

    Aber es gab doch ein Testament Ludwigs XIII., das der gesamte Hof und auch Anna feierlich hatten beschwören müssen. Und in diesem Testament war eindeutig davon die Rede, dass die Königinmutter zwar Regentin werden sollte, doch nur unter Vorbehalten und erheblichen Einschränkungen ihrer Macht.

    Niemand interessierte sich an diesem strahlenden Maimorgen dafür, nichts zählte mehr der Wille eines Toten, das Leben hatte nach den Vorstellungen der Lebendigen weiterzugehen — eine üble Komödie, traurig und gemein. Sie blieb nicht die einzige dieser Jahre.

    Bald schon sah man im Louvre ein neues Gesicht. Wieder schillerte eine purpurrote Robe neben dem Königsthron. Doch der nun den Kardinalsmantel wie auch den Rang des neuen Prinzipalministers mit viel Eleganz zu tragen wusste, war kein zweiter Richelieu. Vor allem war er kein Feind der Königin. Mochten es auch nur Gerüchte sein, nach denen sich die beiden heimlich hatten trauen lassen — ohne Zweifel jedenfalls war dieser Neue nun Frankreichs eigentlicher König.

    Verächtlich hoben die anderen die Schultern. Wie hieß dieser seltsame Diener Gottes doch gleich? Ursprünglich Mazarini, doch dieser Condottiere der Diplomatie, der schon in mancherlei Ländern mancherlei Posten innehatte, strich mit liebenswürdiger Beiläufigkeit das letzte i aus seinem Namen und war von nun an der getreue Franzose Mazarin.

    Groß war der Charme, mit dem sich der kluge Mann über das Parkett des Königshofs zu bewegen wusste, unendlich die Höflichkeit, mit der er einem jeden begegnete. Doch nicht bei allen hatte er damit den gleichen Erfolg wie bei der verliebten Anna. Mochte er auch mit noch so viel Geschick Frankreichs Adel umschmeicheln, so wurde doch rasch deutlich, dass man kein zweites Mal einen geheimen Herrscher über sich dulden wollte. Wozu schließlich die Beihilfe bei dem posthumen Betrug am verstorbenen Ludwig XIII.? Warum überhaupt hatte man sich zum Werkzeug Annas machen lassen? Etwa, um einem Mazarin den Weg zur Macht zu öffnen?

    Nicht nur am Hof, auch in der Stadt, im gesamten Land gärte es: Immer höher waren die Steuern geworden, der Parvenü Mazarin jedoch galt als der reichste Mann Frankreichs und stellte diesen aus trüben Quellen stammenden Reichtum auch ungeniert zur Schau. Unkluge Gesetze waren zudem erlassen worden, die sehr nötigen Reformen in der Wirtschaft und Rechtsprechung blieben aus — und all diese Missstände, die zunehmende Armut und Verschuldung waren unschwer auf einen Nenner zu bringen. Der aber hieß Mazarin.

    In dieser Situation genügte schon ein Funke. Lächerlich der Anfang jener Revolte, die dann schon bald unter dem Namen »Fronde« das Ausmaß einer Revolution erreichte: Ein populärer Parlamentarier war verhaftet worden, ein Rechtsbruch, von dem bald schon ganz Paris erfuhr. Am Hof glaubte man noch, sich darüber amüsieren zu dürfen, und sprach von einer »Nachttopfrevolution«, doch die Barrikaden, die auf einmal überall die Straßen versperrten, die vom Volk geschwungenen Piken und Gewehre hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgendwelchem Nachtgeschirr.

    In diesem Augenblick hatte selbst die lustige Witwe im Louvre begriffen, dass der Thron in Gefahr war. Nun war Anna weder sehr intelligent noch sehr weitblickend in den Tagen des Glanzes gewesen, jetzt aber, im Moment der Gefahr, zeigte sie sich auch zu unverzüglichem Handeln fähig. Und sie handelte.

    Am 7. Januar 1649 erfuhr das Volk von Paris, dass in der Nacht zuvor Regentin, König und Hof fluchtartig die Hauptstadt verlassen hatten. Das nun hatte niemand gewusst, niemand geahnt. Und doch traf es zu: Nicht im Louvre wollte die mutig gewordene Anna die weitere Entwicklung abwarten, sondern im Schloss von St. Germain.

    Zu groß war das allgemeine Erschrecken, als dass irgendjemand die grimmige Ironie dieser Flucht nach St. Germain begriffen oder gar belächelt hätte. Und doch war es grotesk: Ausgerechnet am Lieblingsplatz ihres toten Mannes verbarg sich die Königin, die das gleiche St. Germain nach Ludwigs Ableben fluchtartig verlassen hatte, um nur recht schnell den Toten zu vergessen. Nun aber war sie zurückgekehrt und spürte fröstelnd die Schattenseiten der einst so gierig herbeigesehnten Macht.

    Böse Monate für Anna, bitterböse für den kleinen König, der fror und in Lumpen ging, der oft hungern musste und auf Stroh zu schlafen hatte. Und das alles wegen eines Monstrums mit dem Namen Paris, das angeblich seine Hauptstadt war.

    Oktober wurde es, bevor sich die Tore der Stadt wieder für die königlichen Karossen öffneten, und hoch war der Preis der Passage: Mehr Gefangene als Herrscher, lebten nun der König und seine Mutter im Louvre, kläglich scheiterten die ungeschickten Versuche der Königin, wieder die Macht von einst herzustellen. Mazarin aber hatte das Land verlassen müssen.

    Und dann kam 1651 jene Winternacht, die Ludwig nie mehr vergessen sollte.

    In der Stadt machten Gerüchte die Runde: Wieder wollte Anna fliehen, wollte sich und ihren Sohn vor den Parisern in Sicherheit bringen. Vor dem Louvre fand sich eine tobende Menge zusammen. Ein Schrei: Wo ist der König?

    Hier war er, in seinem Schloss. Mitten in Paris.

    Die Menge glaubte es nicht. Boten wurden ausgeschickt, sie sollten sich mit eigenen Augen überzeugen. Sie überzeugten sich: Der König war im Louvre.

    Die Schreie gellten weiter. Der Pöbel von Paris hatte seine große Stunde. Ungehindert drang er in das Schloss, hastete die Treppen hinauf, beugte sich gierig über das Bett des Zwölfjährigen: Ja, es war der König, man konnte zufrieden sein. Aber man war es noch lange nicht.

    Diese einmalige Stunde wollte ausgekostet sein, und immer neue Gesichter starrten auf den Schlafenden herab. Erst das Morgengrauen vertrieb die Letzten aus dem Haus des Königs, der nun erfahren hatte, was es auch bedeuten konnte, eine sichtbare Gottheit zu sein.

    Welche Farce für den Dreizehnjährigen, wenige Monate nach dieser Nacht in umständlicher und feierlicher Zeremonie nach altem Brauch die Volljährigkeit zugesprochen zu bekommen! Welche Farce sein Auftritt vor dem Parlament, wie absurd die Rede, die er dort zu halten hatte! Und was für ein Hohn der Jubel in den Straßen, der Beifall der Pariser!

    Dem jungen Ludwig brauchte niemand mehr seine Mündigkeit zu bestätigen. Er hatte sie in jener Schreckensnacht gewonnen. Und er bestätigte sie im Jahr darauf, als er auszog, nun wirklich König zu werden. Nur wenige Tausend Getreue folgten ihm dabei — weniger, als später seine Leibgarde umfassen sollte.

    Wieder war die Revolte ausgebrochen, wütender und gefährlicher als je. Nun ging es nicht mehr darum, den König in Paris zu halten. Man wollte ihn endgültig vertreiben. Und schon schien dieses Ziel erreicht.

    Die Hauptstadt in den Händen der Feinde, verschlossen die Tore vieler anderer Städte — wer war Ludwig noch? Eine Größe von vielen im aufbegehrenden Frankreich. Und gewiss nicht die, auf die sich noch zu setzen lohnte.

    Und doch kam noch im gleichen Jahr der Tag, an dem Ludwig seiner Hauptstadt wieder entgegenreiten konnte und dabei sicher sein durfte, diesmal von keinen neuen Rebellen empfangen zu werden. Sie waren verjagt, geschlagen, waren wieder brave Diener ihres Herrn. Der Marschall Turenne, vor Kurzem noch gemeinsam mit dem Prinzen Condé ein Führer der Fronde, hatte sich in letzter Stunde doch noch auf die Seite der Krone gestellt. Seinen Truppen verdankte Ludwig Sieg und Thron.

    Offen die Tore, Jubel in den Straßen. Bald darauf betrat auch Mazarin wieder französischen Boden — zweimal verjagt, zum zweiten Mal zurückgekehrt, nun wieder Prinzipalminister und unangefochten erster Mann im Staat.

    Willig überließ ihm der König den Vortritt. Noch war die Zeit nicht gekommen, in der er selbst und nur noch er den Herrscher Frankreichs spielen konnte. Noch brauchte er seinen Premier, der in den kommenden Jahren den Höhepunkt seiner Macht erreichen sollte. Oft saßen sich in diesen Jahren Kardinal und König gegenüber. Immer war es der Jüngere, der den Älteren aufzusuchen hatte, und Mazarin erwies Ludwig nicht einmal die Ehre, ihn schon an der Treppe zu empfangen. In seinem Zimmer erwartete er ihn, und dann begannen die Lektionen in Sachen Politik. Und Ludwig hörte geduldig der schönen, durch den harten Akzent leicht entstellten Stimme zu, lernte.

    Dann wieder ließ er den alternden, schon kranken Kardinal bei seiner Politik zurück, ritt hinaus aus Paris, dort die Erinnerungen zurücklassend, die er doch nie würde vergessen können und die jetzt schon den Weg weisen, den er einmal nehmen wird: der aufbegehrende Adel … das unberechenbare Volk … das Gefängnis, das Louvre heißt … die bewaffnete Macht, die ein Herrscher braucht, wenn er in Frankreich herrschen will…

    Es sind vergnügte, lebensfrohe Ausflüge, die der junge Mann in diesen Jahren unternimmt. Klein die Zahl der Gefährten, alle jung wie er, zuweilen ist ein hübsches Mädchen dabei, Louise heißt sie, guter Kamerad unter Kameraden. In die Wälder um Paris führen die Ritte, Hirsche jagt man, hält schließlich ein Picknick ab, und der König fühlt sich wohl dabei, ist es doch immer die Weite, die freie Natur, die ihn anzieht, nicht die Enge einer Stadt. Und manchmal ist das Ziel dieser Ritte das Schloss, das in der Nähe eines kleinen Dorfes liegt und mit ihm den Namen teilt: Versailles.

    Ein Schloss?

    Um diese Zeit ist es kaum mehr als ein größeres Jagdhaus mit zwei Flügeln und vier kleinen Pavillons. Schmucklos karg die Front — vieles erinnert noch an die kleine Hütte, die hier früher einmal stand. Der dreizehnte Ludwig hatte sie oft aufgesucht, Versailles war schließlich einer der Lieblingsaufenthalte des einsamen Monarchen geworden, und schließlich hatte er die Hütte durch diesen kleinen Bau ersetzt.

    Ein seltsamer Ort, dieser kleine Hügel mit dem Schlossbau auf seiner Spitze — wenn man die Linien seiner Konturen fortführt, entsteht das Bild einer Anlage, wie sie hier eines Tages geschaffen werden wird: Ein Haus in der Mitte, unermessliche Gärten, alles klar, übersichtlich, Mauern, die in Alleen übergehen, Alleen, die sich am Horizont verlieren — Platz für Hunderte, vielleicht Tausende, Platz auch für nur einen, um den die Tausende kreisen wie die Planeten um die Sonne. Raum genug ist vorhanden, alles könnte von Grund auf neu entstehen. Und Paris, der Louvre liegen weit hinter dem Horizont, dürfen versinken, vergessen werden.

    Träume nur, wahnwitzige Illusionen, hätte sie jemand in den Jahren vor 1660 geäußert. Sand und Sumpf erstrecken sich um das kleine Schloss von Versailles, sie tragen vielleicht ein Jagdhaus, doch nie einen Riesenbau, der größer als der Louvre, größer als alle anderen Schlösser in Europa sein müsste. Viel später wird der Herzog von Saint-Simon Versailles den »traurigsten und reizlosesten aller Orte« nennen, und so sehr persönliche Ressentiments dieses böse Wort diktieren — es dürfte in der Tat schwierig sein, einen Ort zu suchen, der so ungeeignet für das größte Schloss aller Zeiten ist wie die Nachbarschaft des armseligen Dörfchens Versailles.

    Doch wer immer dieser junge Mann ist, der sich schon König nennen darf, ohne König zu sein: Er wird noch in mancher Hinsicht seine Zeit das Staunen lehren. Und die Szenerie, vor der er sich dann bestaunen lässt, wird eben dies Versailles sein.

    Der lange Weg nach Versailles

    Dies also ist Ludwig, vierzehnter seines Namens und dritter Bourbon auf Frankreichs Thron: um diese Zeit noch der eher unauffällige junge Mann von angenehmem Äußeren, an dem auch aufmerksame Beobachter nichts Ungewöhnliches entdecken können.

    Es ist in der Tat nur wenig Außerordentliches um den jungen Ludwig. Er verspricht, einer jener redlich-blassen Herrschergestalten zu werden, die ihr Land für einige Jahre mit Anstand regieren, um dann wieder im großen Sog der Geschichte unterzugehen.

    Doch dieser Ludwig wird etwas ganz anderes: Frankreichs grand monarque, der König schlechthin. Und so nachhaltig prägt sein Bild das Bewusstsein der Franzosen, dass nichts mehr seine Spur verwischen wird — kein schwacher oder starker Nachfolger, keine Große Revolution, kein erster bis dritter Napoleon, keine dritte bis fünfte Republik. Und das, obwohl er nur in den allerersten Jahren seiner Regierungszeit im eigentlichen Sinn populär war und sich die Grenzen seines Ruhms bereits zu seinen Lebzeiten abzeichneten. Wie das Schloss, das er schuf als steinernes Sinnbild seiner selbst, ist dieser Mann ein Phänomen. Und beschwört man sein Bild, so erfasst den Betrachter das gleiche Staunen wie vor der Fassade von Versailles. Was nur hat bewirkt, dass gerade er, bar der persönlichen Strahlkraft etwa eines Bonaparte, zu einer Zentralgestalt nicht nur der französischen, sondern der europäischen Geschichte schlechthin werden konnte? Sein Äußeres, seltsam gleichbleibend sein überlanges Leben lang, gibt darüber ebenso wenig Auskunft wie das Äußere des heutigen Versailles.

    Zweierlei Indizien seien immerhin vorweggenommen:

    Ludwig war wenn schon kein großer Mann im Bilderbuchsinn, so doch ein großer Schauspieler mit all dem Instinkt eines jeden großen Schauspielers für den großen Effekt.

    Und er hatte das Glück, eine Rolle zu spielen, deren Erfolg bereits vorgeformt war. Für sie nun hatte dieser Mann alle mimischen Mittel zur Verfügung. Nicht er selbst schrieb sich seinen Text — an solcher Aufgabe wäre er gescheitert. Doch er sprach ihn, als sei er nur für ihn verfasst — diese Aufgabe war ihm gemäß.

    Um dies nun zu verstehen, muss zum Ursprung dieser Rolle zurückgegangen werden, zurück bis zu dem Zeitpunkt in Frankreichs Historie, an dem ein nun schon neunzig Jahre dauernder Krieg Frankreich verwüstet hatte und ein junges Mädchen aus Lothringen ihr heimatliches Dorf verließ, um ihrem König zu versichern, er und nur er sei des Landes legitimer Herrscher. Sie aber, das Bauernmädchen, würde ihn nun seiner rechtmäßigen Krönung in der Kathedrale zu Reims entgegenführen. Denn Frankreich müsste wieder ein Land unter dem einen wahren Herrscher werden.

    Es war das fünfzehnte Jahrhundert, in dem diese für jene Zeit wahrhaft revolutionären Worte fielen.

    Denn der 1339 zwischen den Kronen Frankreichs und Englands ausgebrochene Krieg war in seinem Kern so recht ein Relikt des Feudalismus gewesen, bei dessen Kriegen es nicht um Völker oder gar Ideen ging, sondern allein um private Interessen einzelner Mächtiger.

    Über Jahrzehnte hatte sich das Völkerschlachten hingeschleppt. Es hatte keine spektakulären Siege gegeben und keine entscheidenden Niederlagen, und all die Last hatten jene zu tragen, die immer die Opfer eines Krieges sind — die Bürger in den immer wieder von Neuem zerstörten Städten, die Bauern auf ihren unentwegt verwüsteten Feldern. Solche Zeiten haben immer schon das Revolutionäre im Bewusstsein der Menschen provoziert und ihre latenten Sehnsüchte an die Oberfläche gespült. Im Frankreich des Hundertjährigen Kriegs war es der Nationalismus. Die Zugehörigkeit zu einem Volk und nicht mehr der Gehorsam gegenüber einem Herrscherhaus bestimmte von nun an das politische Verhalten des einzelnen Franzosen.

    Die das aber bewirkte, war eben jenes Mädchen aus dem Dorf Domremy, das von himmlischen Stimmen den Auftrag erhalten haben wollte, Frankreich von seinen Feinden zu befreien.

    Um nur wenige Frauengestalten der Weltgeschichte spinnt sich das Netz der Legenden so dicht wie um die der kleinen Jeanne d’Arc. Doch nicht, wer nun diese rührend fromme Amazone wirklich gewesen ist, braucht jetzt zu interessieren, sondern allein die Wirkung auf die französischen Menschen ihrer Zeit.

    Es ist noch immer nicht leicht, eine Erscheinung wie Jeanne d’Arc ohne Emotion zu betrachten. Eben hierin lag ihre Stärke. Doch löst man sich von allem Mitgefühl für die kleine Heilige, so erscheint ihr Weg als eine Folge lauter sehr schöner, sehr rührender, zuweilen etwas überspannter und törichter, doch stets großer Gesten:

    ihr spektakulärer Ritt zum französischen Dauphin;

    ihr Auftritt vor dem verängstigten und seiner Macht fast schon gänzlich beraubten Repräsentanten des Hauses Valois;

    ihr großer Sieg vor Orléans;

    der Zug durch das allmählich wieder Mut fassende Land; die Krönung in Reims, Jeanne im Hintergrund mit der weißen Fahne in der Hand;

    dann ihre Gefangennahme und der schändliche Prozess mit dem von vorneherein festgelegten Ausgang, den Jeanne mit der Gelassenheit einer wahrhaft Glaubenden auf sich nahm;

    die letzte und größte Geste schließlich: der tapfer ertragene Flammentod.

    Noch heute fügt sich dies alles zu einem Bilderbogen von anrührender Kraft. Doch wie erst wirkte das in jener Zeit auf ein schon müdes, seit Jahrzehnten geschundenes Volk! Mochten die Engländer Jeanne als Hexe verbrennen lassen — für die Franzosen war sie von nun an für alle Zeiten die gute und reine Verkörperung Frankreichs, Vorreiterin einer Zeit, in der es nicht mehr um die Querelen weniger Mächtiger ging, nicht um Erbansprüche, Kronrechte und politische Finten, sondern allein um Frankreich. Jeannes große Gesten hatten sich zum ersten nationalen Mythos summiert.

    Ihn nutzte vor allem einer: der zu Reims gekrönte Karl VII., als Persönlichkeit ebenso unerfreulich wie Jeanne erfreulich, ein Opportunist und Intrigant, am Tod der kleinen Heiligen kaum weniger schuld als ihr Henker. Doch zugleich der Mann, der nach ihrem Ende mit großem politischen Instinkt seine Gegner gegeneinander auszuspielen verstand, den Krieg zu Ende führte und Reformen einleitete, die seinem Land eine starke und erfolgreiche Zukunft brachten.

    Ein Staatsmann von Format also — und wenn er sich von seiner Retterin abgewandt hatte, als erstmals nicht sie ihm, sondern er ihr behilflich sein musste, so ist darin nicht nur Charaktermangel zu sehen. Eher schon wusste dieser Karl sehr genau, worin Jeannes Kraft lag: nicht in ihr selbst so sehr, sondern vielmehr in der Legende, die sich um sie gebildet hatte. Grausam, doch logisch die Konsequenz im Augenblick der Gefangennahme Jeannes, als für den französischen König noch die Möglichkeit bestand, sie mit Lösegeld zu retten: Eine tote, dazu noch den Märtyrertod gestorbene Jungfrau von Orléans musste ungleich stärker wirken als die lebende, deren militärischer Ruhm ohnehin schon zu verblassen begann. Die Rechnung war grausig, doch ging sie auf: Jeannes Tod wurde zum Fanal, seine Sühne nationales Anliegen. Und die französische Krone trug von nun an eine Gloriole, blieb verbunden mit dem nationalen Mythos Jeanne. Der Monarch und sein Land waren von nun an eine Einheit, und diese Einheit hat niemand so vollkommen repräsentiert wie zwei Jahrhunderte später der Sonnenkönig vor dem Hintergrund von Versailles.

    Doch ein Konflikt musste noch ausgetragen sein, bevor ein nationaler Herrscher wie Ludwig XIV. möglich war: die Auseinandersetzung zwischen Krone und Adel, zwischen dem Gestern des Feudalismus und dem Morgen des Absolutismus. Wer war der König von Frankreich — Primus inter Pares, allenfalls, inmitten der großen Adelshäuser? Oder uneingeschränkter Herr?

    Der Niedergang des Hauses Valois sowie die religiösen Differenzen im sechzehnten Jahrhundert brachten die Entscheidung. Von Deutschland her war das Gedankengut der Reformation nach Frankreich gekommen und hatte den Adel in zwei Parteien gespalten, denen der konfessionelle Gegensatz willkommener Anlass zum Kampf um die Macht war. Aus ihm ging als Sieger ein Hugenotte hervor, der Katholik geworden war: Heinrich IV., Großvater Ludwigs XIV. und erster Bourbon auf dem Thron.

    Zutiefst zerrüttet war das Frankreich, das er von nun an zu regieren hatte, und groß war die Aufgabe, die sich dem neuen Herrscher stellte: dem aus den Fugen geratenen Land wieder den Frieden zu bringen und der französischen Krone den alten Glanz zurückzugeben. Er erreichte das eine wie das andere und eröffnete damit für die Monarchie die letzte Phase ihres Wegs zur absoluten Macht.

    So logisch war nach dem Erscheinen dieses einen Mannes die Entwicklung, dass alle folgenden Ereignisse etwas von einer wohleinstudierten grande comédie an sich haben.

    Pünktlich treffen die Akteure auf der Szene ein, haben Auftritt und Abgang, zuweilen verspätet sich der eine oder andere Star, oder dieser und jener Chargenspieler versucht, die Protagonisten an die Wand zu drängen — geringfügige Unebenheiten des großen Spiels, die im Parkett kaum auffallen. Und zum Schluss formiert sich alles zum großen Tableau, dessen Kulisse Versailles heißt. Nie wäre sie errichtet worden, hätte nicht jenes große Spiel stattgefunden.

    Mit dem ersten Hauptdarsteller hat zugleich auch der sympathischste die politische Bühne betreten: eben der Bourbone Heinrich, der nicht nur ein großer, sondern auch ein guter König wurde — Frankreichs bon roi.

    Nie zuvor und nie mehr danach hat das Land einen ähnlich volkstümlichen Monarchen besessen. Liebenswürdige Anekdoten begleiteten seinen Lebensweg von der Stunde seiner Geburt an, so ergiebig war dafür die Persönlichkeit dieses Mannes mit seinem fröhlichen Humor und vergnügten Sarkasmus. Unerschöpflich schien seine Vitalität und bewahrte doch immer die irdische Dimension. Und so stark leuchteten die Farben seiner Aura, dass das Bild vom guten König Heinrich selbst die Revolution von 1789 überdauerte.

    Ein so verklärtes Bild kann sich natürlich nicht mit der historischen Wirklichkeit decken. Ein nur edler, nur witziger und liebenswerter Heinrich hätte kaum das politische Geschäft mit so viel Bravour durchgestanden. Doch nimmt man alles nur in allem, so war er ein Mensch, der gern und gut lebte und dabei genügend Verstand besaß, um sich zu sagen, dass in einer wirren Welt voll Blut und Elend kein gutes Leben lange währen könnte. Und wenn man diesen Mann während der Glaubenskriege nicht weniger als dreimal seine Konfession wechseln sieht, so ist auch dies kein Bruch in seinem Charakter, sondern nur Bestätigung einer undogmatischen, allein am Hier und Heute orientierten Denkweise.

    Dennoch muss Heinrichs Aufstieg zum bon roi erstaunen, denn nach dem Tod des letzten Valois-Monarchen im Jahr 1589 wies zunächst kaum etwas darauf hin, dass der Hugenotte Heinrich überhaupt je König werden würde. Die Katholische Liga befand sich auf der Höhe ihrer Macht, das Ausland hielt sich bereit, seinerseits im großen Spiel um die Krone Frankreichs mitzumischen, und seit den Tagen des Hundertjährigen Kriegs stand das Land nicht mehr so kurz davor, die nationale Autonomie zu verlieren und zum Schlachtfeld fremder Interessen zu werden.

    Und wieder bewährte sich der Mythos um Frankreich als Nation: Gerade die Bedrohung jenseits der Grenzen trieb die Entwicklung für Heinrich voran. Immer häufiger konnte er nun hören, dass man ihn als König akzeptieren würde, hätte er nur den rechten Glauben. Dies aber hatte Heinrich noch nie eigens erklärt werden müssen.

    1593 war es soweit. Zum

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