Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Durch die Bank
Durch die Bank
Durch die Bank
eBook259 Seiten3 Stunden

Durch die Bank

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Claudia Petersen hat in Amerika eine Bank ruiniert. Jetzt versucht sie wieder in ihrer Heimatstadt Hamburg Fuß zu fassen. Jedoch könnte es nicht schlimmer kommen. Zum Einstand setzt sie ihr neuer Arbeitgeber ausgerechnet auf die Firma ihres Vaters an. Die soll sie nämlich abwickeln... Ein sensibel geschriebener Roman, der sich um Loyalität dreht. Entweder die Familie oder der Job. Eine ans Eingemachte gehende Konfliktsituation, die sich niemand freiwillig wünscht.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum12. Sept. 2015
ISBN9783737565554
Durch die Bank

Mehr von Dieter Lüders lesen

Ähnlich wie Durch die Bank

Ähnliche E-Books

Business für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Durch die Bank

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Durch die Bank - Dieter Lüders

    Worum es Claudia geht

    Sie ließ ihren Schlüsselbund in die Handtasche gleiten. Auf den Pflastersteinen glitzerte der Tau der letzten Nacht, als sie sich dem Frisiersalon näherte. Hoch gewachsene Platanen, in deren Zweigen noch wenige Früchte des letzten Jahres hingen, säumten die Strasse. Ein Müllfahrzeug der Stadtreinigung brachte den Verkehr ins Stocken. Die Mitarbeiter kümmerten sich nicht um die wartenden Verkehrsteilnehmer, doch Claudia Petersen war zu Fuß unterwegs, und sie schaute, ob die Neonreklame schon brannte.

    Claudia Petersen hatte an diesem Tag einen Termin bei Chantal, um sich die Haare machen zu lassen. Ein neuer Job, eine neue Frisur! Alles sollte jetzt gut und neu werden.

    „Und was sagt dein Freund zum neuen Job?", Chantal wusste es noch nicht.

    „Hab keinen mehr."

    „Was? Du bist alleine? Seit wann?"

    „Offiziell seit drei Wochen."

    „Du bist mir eine. Du bist so sozial eingestellt, du hast einen vernünftigen Beruf, und nie hast du lange einen Freund."

    „Ich bin zu kompliziert für diese Einzeller." Claudia schmunzelte dabei und suchte Chantal im Spiegel. Ihr Blicke trafen sich. Chantal dachte an ihre eigene langjährige Beziehung und wollte sich nicht auf Zweifel einlassen.

    „Dass du nochmal einen Job gefunden hast, das ist ja ein Ding." Chantal hielt Claudia einen Spiegel hinter den Kopf.

    „Eine kleine Privatbank, unten an der Elbe." Claudia betrachtete sich ihre Haare in den Spiegelbildern.

    „Und der Chef? War es dem egal, oder weiß der nichts von Amerika?"

    „Er weiß es. Er hat mich gerade deswegen eingestellt. Ein verrückter Kerl."

    „Na, dann weiß ich nicht, ob ich dir gratulieren soll?"

    „Warum das denn?" Claudia sah Chantal immer noch im Spiegel.

    „Einen verrückten Chef würde ich nicht lange aushalten. Ich bin selber eine verrückte Chefin; frag meine Angestellten!" Sie legte den Spiegel zurück in das Regal.

    „Was sollte ich machen? Die einzige Bank in Deutschland, die mich noch nimmt. Gut, der Chef ist etwas cholerisch, aber ich werde ihm beweisen, dass ich nicht jemand bin, der gleich wegrennt." Claudia sah aus dem Schaufenster und konnte beobachten, wie sie von einem Sportwagen zugeparkt wurde.

    „So kann man das auch sehen."

    „Wie meinst du das?" Claudia sah den Fahrer aussteigen, groß und gutaussehend.

    „Die Sparkasse, bei der du den Hartz-IV-Empfängern den Dispo kündigen solltest, da bist du doch nicht wieder hingegangen."

    „Das ist was für Lehrlinge oder meinetwegen für Praktikanten. Wie gesagt, verarschen lass ich mich nicht. An der Krise war ich ja nicht schuld. Aufrecht bleiben, das ist mir wichtig. Das hat mit Weglaufen nichts zu tun."

    Erst sah sie Chantal nochmal. Dann wischte sie alle Zweifel fort und sprang aus dem Frisierstuhl.

    „Wenigstens äußerlich bist du jetzt wie neu." Chantal streifte ihr den Umhang ab.

    Claudia erreichte zuerst den Tresen. Chantal kam ihr hinterher und griff zum Terminkalender.

    Claudia suchte in den an den Wänden befestigten Spiegeln nach ihrem Spiegelbild, während Chantal den nächsten Montag aufschlug.

    „Selbe Zeit?"

    „Ne, lieber abends."

    „Mit allem? Auch mit nail rescue, face skin fitting und tear bag protection?"

    Chantal suchte nach einer besonders großen freien Stelle im Kalender.

    „Alles, was dein Laden hergibt. Wenn ich die erste Woche überstanden habe, dann kann ich das alles sicher gut gebrauchen."

    „Erwartest du so eine schlimme Woche?"

    „Da ist noch was." Claudia zögerte.

    Chantal sah vom Terminkalender auf und blickte sie an.

    „Mein Vater ist doch verschwunden, da habe ich dir ja von erzählt."

    „Ja." Chantal nickte.

    „Er hat seine Firma im Stich gelassen."

    „Aber ohne seine Firma kann er doch nicht leben." Chantal wartete.

    „Über meinen Vater will ich nicht reden. Das Thema macht mich krank."

    Chantal klappte die beiden Buchdeckel ihres Terminkalenders zusammen. „Entschuldige bitte."

    „Irgendwie bin ich zwischen die Fronten geraten."

    „Und was willst du jetzt machen?"

    „Pest oder Cholera. Ganz sicher werde ich graue Haare bekommen. Vielleicht fallen sie mir auch alle aus, oder ich verliere den Kopf. Egal was kommt, ich werde meinen von dir schön gemachten Kopf durchsetzen. Der ist auch innerlich vorzeigbar. Ich mache nie wieder einen faulen Kompromiss, auch wenn ich Regeln verletzen muss. Der Zweck heiligt die Mittel."

    „Falls du wirklich graue Haare bekommen solltest, Chantal grinste in den Spiegel, „in einer halben Stunde würde ich das wieder in Ordnung bringen.

    „Ich liebe dich, Schatz." Claudia machte sich auf den Weg zur Tür.

    Claudias kleiner Trendflitzer stand auf der anderen Straßenseite. Sie wartete auf eine Lücke im Straßenverkehr, um hinüber zu gelangen. Da ging ein sportlicher Typ an ihr vorbei. Er wollte auch über die Strasse, aber er wartete nicht auf eine große Lücke, er huschte zwischen den fahrenden Autos hinüber.

    „Noch nie was von Vorbildfunktion gehört?", Claudia war wütend.

    „Soll ich Ihnen über die Straße helfen?" Er hatte sich flüchtig zu ihr umgewandt.

    Der Straßenverkehr war laut, doch sie hatte es genau verstanden. Claudia wurde noch wütender.

    „Lernen Sie erst mal richtig parken, bevor Sie mit mir reden!"

    Claudia sah ihm zu, wie er in seinen Sportwagen einstieg und abfuhr. Er hatte sich nicht mehr zu ihr umgedreht. Sie wartete weiter. Es dauerte in der Tat recht lange, bis der Strom abebbte. Insgeheim dachte sie daran, dass es ganz gut gewesen wäre, wenn er sie doch mit über die Straße genommen hätte. Für einen kurzen Moment kamen ihr noch Szenen vom gestrigen Sonntag in den Sinn. Der Flur, eine Pflegerin, im Aufenthaltsraum war manch einer noch beim Frühstück, als sie anrückten, die Notenständer aufstellten und ihre Trompeten und Posaunen aus den Koffern holten. Die Chorleiterin zählte und holte dann demonstrativ Luft. Nur wenn man deutlich Luft holte, dann setzten die Bläser zur gleichen Zeit ein. Ein Trick, den man nur in einem guten Lehrgang beigebracht bekam. Das Lied Großer Gott, wir loben dich stand aufgeschlagen auf den Notenständern, als die sieben Bläser anfingen. Eine ältere Frau schaffte es, durch die geöffnete Tür einen Blick zu erhaschen. Sie bekam Tränen in die Augen, es war Frau Malzcewski. Claudia hätte jetzt gerne an ihrem Bett gesessen, um ihr vorzulesen. Sie hatte den Besuchsdienst übernommen, solange sie ohne feste Anstellung war, und nun kam sie aus Chantals Beauty-Salon und wollte zu ihrem neuen Job.

    Die Lücke kam, sie ging über die Strasse, stieg in ihren Wagen und fuhr ab. Sie hatte noch etwas Zeit, und es störte sie nicht, dass sie in einen Stau geriet. An den vergangenen Sonntag dachte sie erstmal nicht mehr.

    In Hamburg war wieder mal eine Veranstaltung, und da sperrte man die Straßen. Im Sommer sperrte man ganze Stadtviertel und zum jährlichen Radrennen die halbe westliche Stadtseite. Claudia geriet ins Grübeln. Ihr Vater. Was der wohl gerade machte? Der Verkehr war stärker, als sie es eingeplant hatte. Wie konnte man seine Firma im Stich lassen? War es ihm so nah gegangen, als seine Frau starb, dass er sein Leben dem Schicksal gleich mit übergab? Claudia konnte sich das nicht vorstellen. Horst, ihr Vater, war ein Unternehmer, ein Macher. Sie kam zu keinem Ergebnis. Wenn sie an ihr Vorstellungsgespräch bei der Schlüter & Schlüter, Privatbank seit 1889 dachte, dann sah es schlimm aus. Aus der Sicht der Bank war ihr Vater ein böser Verräter. So hatte es Schlüter Senior nicht wörtlich gesagt, aber seine Aussagen ließen darauf schließen. Viel Achtung hatte man in der Bank nicht mehr vor Horst Wohlert.

    Inzwischen konnte Claudia den Hafen erkennen. Sie bog von der Königstraße nach links in die Kirchenstraße ein. Meter um Meter ging es voran, die Kreuzung war verstopft, und niemanden störte es, dass man hier nicht links abbiegen durfte. Am Wochenende war Hafengeburtstag, und am Montag dauerten die Abbauarbeiten bis in den Nachmittag hinein an. Die Kreuzfahrtschiffe waren längst ausgelaufen, auch nach Übersee und nach Amerika. Die Immobilienkrise war Claudia zum Verhängnis geworden, und die Schlüter & Schlüter gab ihr eine Chance. Gleich sollte es rechts in die Palmaille gehen. Segen oder Fluch? Oder doch die Breite Straße weiter fahren und dann am Fischmarkt entlang? Claudia hatte einen schwachen Punkt erreicht. So wie damals, in den USA. Einerseits musste sie eine Entscheidung treffen, andererseits hatte sie dabei ein schlechtes Gefühl.

    Es waren immer nur kleine Entscheidungen und kleine Fehler. Die kleinen Fehler hätte die Bank verkraften können, nur diesen einen letzten Fehler, den nicht. An dieses Gefühl erinnerte sie sich gerade, als ein Sportwagen neben ihr auftauchte. Ein teurer Wagen. Und ganz neu. So etwas fahren nur Leute, die etwas zu sagen haben. Manager, Abteilungsleiter und Unternehmer. Menschen, die wirtschaftlich etwas bewegten, denen wurde so etwas vom Finanzamt förmlich aufgezwungen. Geld, was nicht ausgegeben wurde, das musste versteuert werden. Also gab man es aus, für große Autos zum Beispiel. Das hielt die Mitarbeiter bei Laune und war somit ein Gehaltsbonus, erinnerte sich Claudia.

    Er sah gut aus. Ende dreißig musste er sein. Er blickte zu ihr herüber. War es Zufall oder Gewohnheit? Er hatte sich vorgenommen, dass er sich Ampelflirts abgewöhnen wollte. Keine Blicke mehr auf Frauen und keine Gedanken an weibliche Wesen. Nach wenigen Monaten war für ihn an diesem Vormittag erneut eine Beziehung den Bach runter gegangen. Marlene war Geschichte. Manuel hatte die Reisetasche mit den letzten Sachen im Kofferraum seines Wagens. Mit den wichtigsten Übernachtungsutensilien, dem Rasierer und der Zahnbürste fuhr er ins Büro. Manuels und Claudias Blicke hatten sich getrennt. Der Verkehr erlaubte wieder einige Meter. Manuel zog vor und setzte sich vor sie. Es stockte noch einige Male. Doch dann löste sich der Knoten, und es ging weiter, als wäre nie etwas gewesen. Claudias Laune erfuhr einen Quantensprung, sie schaffte es sogar noch einmal, den vierten Gang zu benutzen. Fünf Jahre war sie wohl nicht mehr hier gewesen, schätzte sie. Es hatte sich viel getan, Neubauten, wo sie nur hinsah. Auch die Sonne schien. Es war Mai, und sie hatte nach zwei Jahren wieder einen neuen Job. Schwierigkeiten gab es immer, und so ließ sie sich in ihrer Stimmung nicht beirren, bis sie ihr Fahrtziel fast erreicht hatte.

    „Perlenkette" nannten manche die Gebäude an der Großen Elbstraße. Die Strahlen der mittäglichen Maisonne glänzten auf den Wellenbergen der Elbe wie die vielen tausend funkelnden Sterne einer Feuerwerksrakete. Eine Linienfähre des Hamburger Verkehrsverbundes, die vom Fischmarkt bis nach Finkenwerder zu der Flugzeugwerft unterwegs war, bahnte sich ihren Weg durch die Wogen. Die Gischtwolken aus Elbwasser stoben auf wie das Gefieder weißer Schwäne. Es war nur ein Blick, den sie erhaschen konnte. Aber er blieb ihr im Gedächtnis. Sie fuhr sehr schnell, der Sportwagen vor ihr bestimmte das Tempo. Die Höchstgeschwindigkeiten in geschlossenen Ortschaften schienen hier nicht zu gelten. Sie kam kaum hinterher, so zog der Wagen vor ihr davon. Dann konnte sie sehen, dass er auf genau den selben Parkplatz fuhr, den sie auch befahren wollte. Aber da war eine Schranke. Und genau die schloss sich vor ihrer Kühlerhaube und hinderte sie an ihrer pünktlichen Ankunft.

    Der Fahrer des Sportwagens stellte seinen Wagen einfach ab. Er parkte nicht ein oder machte sich Gedanken über Parkplatznot und Stellplatzmangel. Er bremste neben einer großen Limousine, und das nannte er einparken. Er stieg aus und wollte in das Gebäude gehen, aber er wurde aufgehalten von Peter Schlüter. Einen Meter und achtzig groß, schlank, ein hageres Gesicht und ziemlich helles Haar. Nicht nur grau, fast weiss.

    „Den Schlüssel!", herrschte Peter den Sportwagenfahrer an.

    Claudia war inzwischen aus ihrem Auto gestiegen und hörte das mit. Sie suchte an dem Kasten, in dem der Schlagbaum endete, nach einer Möglichkeit, um ebenfalls auf den Parkplatz gelangen zu können. Doch da war nichts. Sie sah zu den beiden. Der braungebrannte Sportwagenfahrer gab Peter die Zündschlüssel und ging die Treppen zur Bank hinauf. Claudia suchte noch immer nach einem Münzeinwurfschlitz oder einem Parkscheinauswurfschlitz, während Peter Schlüter in den Sportwagen einstieg und ihn sorgfältig neben seine eigene schwere Limousine zirkelte. Dann ließ Peter Schlüter die Seitenscheibe herab und erkannte, dass er Maßarbeit geleistet hatte. Zentimetergenau hatte er den Sportwagen an die Markierungslinien gestellt. Claudia wunderte sich: was für ein verrückter Chef... Sollte dieser Chef namens Peter Schlüter einen Junior-Schlüter haben, dann musste er es gewesen sein. Der braun gebrannte Sportwagenfahrer, der ihr vor wenigen Minuten zugelächelt hatte.

    Claudias Zweifel, ihre Bedenken, ihre Vergangenheit und ihre familiär grauen Schleier auf der Seele teilten sich. So wie sich einst das Meer für Israel auf der Flucht aus Ägypten in zwei Hälften teilte und einen neuen Weg freigab. Steine fielen ihr nicht vom Herzen, es gab keine Steine mehr. Plötzlich gab es in ihrem Herzen nur noch Schäfchenwolken, die ihr den Himmel versprachen. Sie hatte keine Gedanken mehr, sie hatte nur noch ein Gefühl, und es fühlte sich gut an. Zwar war die Schranke vor ihrem Auto noch zu, der Motor ihres Wagens lief noch, und niemand schien sich um sie zu kümmern. Aber das sollte sich schnell ändern. Peter Schlüter hatte sich inzwischen aus dem Sportwagen geschält und kam auf sie zu.

    „Frau Petersen!", rief Peter Schlüter ihr zu.

    Er kam näher und reichte ihr zur Begrüßung die Hand.

    „Hallo."

    „Entschuldigen Sie bitte, ich kann Sie nicht reinlassen."

    Claudia durchfuhr ein Schreck, sie dachte schon an etwas anderes.

    „Mein Sohn hat mir nur seine Wagenschlüssel gegeben. Warten Sie, ich hole die Fernbedienung für die Schranke."

    Claudia setzte sich in ihr Auto und schaltete den Motor aus. Sie sah, wie Peter Schlüter zur Treppe eilte und noch versuchte, seinen Sohn einzuholen. Aber der war längst im Gebäude verschwunden.

    Warten. Claudia stand da wie bestellt und nicht abgeholt. Ihre Gedankenmaschine kam wieder in Gang. Sie starrte auf die „Perle an der Elbe, ein Glashaus, teuer und nobel. Das Zweite Deutsche Fernsehen funktionierte dieses Haus oft in die >Hafenklinik< an der Hafenkante um. Ein Sternekoch, der auf einem Privatsender eine coaching-show leitete, hatte ein Haus weiter sein Restaurant. Claudia hatte es in den USA oft im Fernsehen gesehen: Diese Adresse war eine der ersten Adressen der Stadt. Und Horst, Claudias Vater, hatte es sich mit diesen „Söhnen der Stadt gründlich verdorben. Hier Glanz und Gloria, und dort ein fahnenflüchtiger Landmaschinenhändler, der sich im Alkohol erging.

    Claudia musste nicht lange warten. Manuel Schlüter kam selber die Treppen herunter geeilt. Er fuchtelte mit einem elektronischen Schlüssel für die Schranke. Sie hob sich, sie senkte sich. Er fand es witzig, wie die Schranke seinem Daumendruck auf dem Sender folgte. Er verlangsamte seinen Schritt und hielt inne.

    „Frau Petersen?", fragte er und war nur noch wenige Meter von ihr entfernt.

    „Herr Schlüter?", entgegnete sie.

    Sie sahen sich an. Es waren Blicke, die tiefer nicht hätten sein können.

    Claudias Puls schnellte hoch. Der „Sunny-Boy" hatte sie angesprochen. Es musste für sie wie an einem Samstag Abend gewesen sein, als wenn man im Sekundentakt seine Lottozahlen ihm Fernsehen nach und nach fallen sah. Sein Gang, seine Frisur, seine Wangengrübchen, seine Krawatte. Und das weiße Hemd schaute vier Zentimeter unter seinen Sakkoärmeln hervor. Die Manschettenknöpfe waren garantiert aus echtem Gold. Und weiße Zähne hatte er. Konnte er gut küssen, konnte er tanzen? Claudia durchfuhr es heiß und kalt. Wen interessierte jetzt noch die Trunksucht des Vaters?

    Johann Wolfgang von Goethe, der bewusste Geheimrat, formulierte in seinem „Heinrich Faust auf dem Osterspaziergang: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein. Claudia erinnerte sich in ihrer Euphorie an diesen Ausspruch und auch an ihre Chance. Wie gut, dass ich diesen Job bekommen habe, dachte sie. Hier geht vieles, hier ist alles möglich. Hamburg, meine Heimat, das Tor zur Welt, endlich daheim.

    Sie vergaß ihr USA-Desaster und reichte Manuel Schlüter zur Begrüßung die Hand. Sie vergaß ihren Vater und ihren Job, sie war hin und weg. Manuel Schlüter war ihr Hauptgewinn, als Kollege zumindest. So empfand sie es in diesem Moment.

    „Ich mache Ihnen die Schranke auf", sagte er dann.

    Claudia konnte sich kaum von seinem Lächeln lösen. Er drückte auf die Taste seiner Fernbedienung, und die Schranke öffnete sich.

    „Was ist?" fragte er.

    Sie stieg in ihren Wagen und fuhr unter der offenen Schranke hindurch. Manuel sah ihr zu, und sein Herz schlug schneller. Ob sie verheiratet war? Solche jungen Frauen waren normalerweise vergeben. Zumindest hatten sie einen großen Freundeskreis. Einen zum Tapezieren, einen zum Quatschen, einen zum Ausgehen, einen für's Bett und so weiter. Manuel hatte so manche Frau kennen gelernt. Die meisten waren schon verheiratet, und wenn nicht, dann hatte das meistens seine Gründe. Schlechte Gründe. Beziehungsfähige Frauen waren vergeben, beziehungsunfähige waren alleine. Manuel schätzte sie in die zweite Kategorie ein. Leichte Beute, weil sie diesen Blick hatte. Er war besonders, dieser Blick. Ein Flirtblick mit dem Unterton der Unbemanntheit. Unausgeglichen und mit einem Extra-Bonus-Moment. Sie musste es nötig haben, anderen Männern zu gefallen. Nie wieder eine von dieser Sorte, dachte sich Manuel. Und weil er sich da so sicher war, dass sich da nichts entwickeln durfte, konnte er frei und ohne Hintergedanken reagieren. Die letzte Beziehung war zu anstrengend. Sie machte die grundsätzlichen Fehler. In vielen Zeitschriften und auch sonst kursierten Top-Ten-Listen. Was denkst du gerade? Bin ich zu dick? und so weiter. Diese zwei Punkte fielen ihm ein. Manuels letzte Freundin war eine Intellektuelle, eine Frau mit Grips. Gut, man müsste denken, dass das etwas Gutes sei, aber warum in Gottes Namen musste sie ständig jeden Gedanken äußern? fragte sich Manuel. Diese Frage hatte er ihr auch einmal gestellt, was er besser nicht getan hätte. Er hatte gesagt, was er dachte. Die Frage nach ihrer Figur hatte er nicht beantwortet. Über eine Antwort, die damals richtig gewesen wäre, dachte er noch oft nach. Ihm fiel aber bis heute nichts Befriedigendes ein. Claudia Petersen würde diese gewichtige Frage nicht stellen, sie war schlank und groß. Geradezu ideal, sportlich und knackig. Dass die noch keiner vor eine Fotokamera gezerrt hatte? Und diese Haare, kraftvoll und dynamisch. Alles passte zusammen.

    Sie stellte ihren Wagen neben seinem ab. Dann stieg sie aus, und zusammen gingen sie in die Höhle des Löwen namens Schlüter & Schlüter Privatbank seit 1889. Sie sprachen nicht mehr miteinander. Sie dachten und grübelten, sie hofften und phantasierten. Selbst im Aufzug sahen sie sich nicht an. Sporadische Blicke folgten. Es war, als wäre nichts

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1