Vertrauen - Schuld - Angst: Menschen, Grenzerfahrungen, Begegnungen und was dem Leben eine neue Richtung verleiht.
Von Ralf Veith
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Über dieses E-Book
Sie alle kreuzen in unterschiedlicher Weise den Lebensweg von Menschen, die
psychische Grenzerfahrungen gemacht haben. Jede dieser Begegnungen bleibt
nicht ohne Folgen und hinterläßt auf ihre ganz eigene Art Spuren bei den
Beteiligten.
Ein Plädoyer für vorurteilsfreie Begegnung von Menschen, den eigenen Standpunkt zu verändern, für ein aufeinander Zugehen und dem voneinander Lernen.
Drei Erzählungen, die den Leser einladen, an den Gedanken,
Erlebnissen und Veränderungen der Handelnden teilzunehmen, in die Geschichten einzutauchen und diese mit eigenem Erleben zu füllen, um hierdurch bereichert aufzusteigen.
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Buchvorschau
Vertrauen - Schuld - Angst - Ralf Veith
Vertrauen - Schuld - Angst
Vertrauen - Schuld - Angst
Gedanken zum Anfang und zum Schluss
Das Geräusch
Die Mauer
Das Ganze
Vertrauen-Schuld-Angst
Menschen, Grenzerfahrungen,
Begegnungen und was dem Leben
eine neue Richtung verleiht
Impressum
Texte & Umschlag: © Ralf Veith
Verlag: RaVe - Selbstverlag
Lektorat: SV-DIN-Lektorat
Gedanken zum Anfang und zum Schluss
Dieses Buch entstand aus dem Wunsch heraus, andere Menschen an den Gefühlen und Sichtweisen von Menschen teilhaben zu lassen, die psychische Grenzerfahrungen bewältigen mussten.
Je mehr man diesen Gefühlen und Sichtweisen Eintritt zu der eigenen Gedankenwelt erlaubt, umso deutlicher kann demjenigen die eigene Verletzbarkeit werden.
Gleichsam wird einem zudem gewahr, wie klein der Schritt seien kann, der einem diese Verletzbarkeit an sich selbst entdecken lässt.
Immer wieder berühren wir als Menschen in unserem Leben die Grenzlinie der Verletzbarkeit, die nie deutlich hervortritt, sondern mit unserem Leben in einem dynamischen Auf- und Ab verbunden ist.
Für das Werden und Wachsen eines jeden Menschen kann es hilfreich sein, sich dem hierdurch ermöglichten eigenen Neuentdecken nicht zu verschließen. Genauso wie es immer verschiedene Weg geben kann, auf denen wir unseren Lebensweg fortsetzen, genau so sind die Erzählungen, die in diesem Buch vereint sind, nie fertig oder festgeschrieben.
Ich habe das Glück, dass ich in den vielen Jahren meiner bisherigen beruflichen Tätigkeit immer wieder mit Menschen zu tun hatte, die an einer psychischen Beeinträchtigung litten - oder noch leiden - und mir erlaubten, an ihren Erfahrungen und Sichtweisen teilhaben zu lassen.
Ja, ich bezeichne es als Glück – nicht als Belastung, wie es vielleicht von vielen anderen gesehen wird – diesen Menschen begegnet zu sein und freue mich darauf, ihnen auch möglichst weiterhin begegnen zu können. Nicht nur in den Zusammenkünften in Psychoseseminaren, an denen ich seit vielen Jahren teilnehme.
Wenn es um Auswirkungen von psychischen Erkrankungen geht, prägen in den Medien – leider – die Menschen das Bild, die durch ihre psychischen Einschränkungen zu Gewalttaten gedrängt werden, obwohl diese nur einen winzigen Bruchteil aller Menschen mit psychischen Erkrankungen ausmachen. Der mit riesigem Abstand weitaus größere Anteil aller Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, sind oder waren oftmals selbst von Gewalt bedroht bzw. richten meist Gewalt höchstens gegen sich selbst, als dass sie jemals eine Bedrohung für andere darstellen würden.
Vielmehr haben viele Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen gemein, dass sie über ein hohes Maß an Empfindsamkeit und meist auch Einfühlungsvermögen verfügen, den man oft als Schatz empfinden könnte, wenn dieser nicht auch gleichermaßen oft für den Einzelnen eine Belastung darstellen würde.
Der offene und selbstkritische Austausch über Empfindungen und die verschiedenen Sichtweisen durch und auf die Erfahrungen mit psychischem Erleben können eine Bereicherung für Jeden darstellen, der offen und selbstkritisch durch die Welt schreitet und würde unsere Welt mit Sicherheit positiv, nachhaltig verändern.
Gleichgültig über welche seelische Verletzung ein Austausch im Gespräch stattfindet, meist kommen wiederkehrend intensive Empfindungen zum Vorschein, die mit dem Erleben von Vertrauen, Schuld und Angst in Verbindung stehen.
Die Erzählungen in diesem Buch handeln von Menschen, die in ihrem Leben extremen psychischen Belastungen ausgesetzt waren, ihrem weiteren Lebensweg, ihren Begegnungen und Erfahrungen und gleichzeitig dem Wachsen und Erleben von Personen, die ihnen zufällig begegnen. Dabei zeigen sie immer nur Teile einer Lebensgeschichte, die jeder Leser für sich mit seinen eigenen Eindrücken, ausgehend von den vielen eigenen bisherigen Erlebnissen, füllen kann und wird. Die Erzählungen bieten keine Lösungen und keine festgeschriebene Erkenntnis an. Sie können auch nie ein Gespräch mit freundlich zugewandten Freunden oder Gesprächspartnern ersetzen, können aber bestimmt Anregungen hierfür geben. Das Leben ist und bleibt vielfältig.
Die drei, in sich abgeschlossenen Geschichten in diesem Buch sind frei erfunden, wären aber ohne den Austausch mit betroffenen Experten nicht so entstanden und bereichert worden, wie sie es sind.
In jeder der Geschichten verändert die Begegnung der Akteure untereinander oft das Denken und Empfinden des jeweils anderen. Diese Binsenweisheit an sich erhält in der Begegnung mit Menschen, die eigene psychische Belastungserfahrungen gemacht haben, eine tiefere Bedeutung und birgt die Möglichkeit, in besonderem Maße in sich zu reifen und ein tieferes Verständnis für das zu gewinnen, was uns Menschen bewegt.
In diesem Sinne möchte ich mit diesem Buch keine fertigen Lösungen für ein gegenseitiges aufeinander Zugehen oder Erklärungen warum etwas so oder so passiert bereitstellen, sondern jeden Leser einladen an den Gedanken, Erlebnissen und Veränderungen der Handelnden teilzunehmen, um hierdurch bereichert um einige Gedanken und immer mit einer größeren Achtsamkeit für sich und andere Menschen wieder aufzutauchen.
Einige Inhalte in diesem Buch können für Menschen, die auf ihrem Lebensweg besondere Belastungserfahrungen gemacht haben, verstörend, beängstigend und vielleicht auch symptomverstärkend oder -auslösend wirken. Sollten sie dies an sich verspüren, suchen sie bitte einen Ort und/oder Personen auf, wo sie sich aufgehoben und entlastet fühlen. Vielleicht kann ein dann gemeinsamer Wiedereinstieg in das Buch gelingen, wenn Sie es wünschen.
Danke an...
… meine Frau, meine Kinder, meine Familie und die Freunde und vielen Menschen, die ihre oft ganz persönlichen Erfahrungen mit mir teilen
Das Geräusch
Kapitel:
1. Die Siedlung
2. Draußen
3. Rätsel
4. Gewohntes
5. Phantasie
6. Beständig
7. Begegnung
8. Kontakt
9. Fragen
10. Ein Freund
11. Helfende Hände
12. Selbstverständlich
13. Beobachtungen
14. Helfen
15. Mehr
16. Entscheidung
17. Erlebnisse
18. Besuche
19. Lange Zeit
20. Überrascht
21. Dann
22. Das Bild
23. Gemeinschaft
24. Weggefährten
25. Nachbarn
26. Gedanken
27. Abenteuer
28. Erinnerungen
1. Die Siedlung
Tick, tick .... tack, tick, tack
. Es war schon von weitem zu hören und schallte wie ein Trommelfeuer von den Häuserwänden wieder. Laufen, das konnte ich gut und ich lief wie immer schnell. Das Geräusch hatte sich schon so in mein Gedächtnis gebrannt, dass eigentlich schon das erste Tick
reichte, dass ich mich in Bewegung setzte, obwohl – jetzt im Nachhinein betrachtet - ich gar nicht so richtig wusste warum. Aber, so war das eben, und so richtig dachte ich wohl damals auch nicht darüber nach.
Auch die Häuserwände schienen jedes Mal zu vibrieren und mit jedem Tack
wurde es lauter. Obwohl ich die Gänsehaut an meinem Körper spüren konnte, ging doch auch etwas Geheimnisvolles, Unausgesprochenes von diesem Geräusch aus, was mich immer wieder dazu veranlasste, doch nur so weit zu laufen, dass ich es noch leise hören konnte und die Möglichkeit hatte, den Grund für dieses seltsame, in mir furchtauslösende Geräusch zu betrachten. Gleichsam hatte dieses Geräusch ja auch eine magische Anziehungskraft, wie die oft grausamen Märchen, die ich mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke verschlingen konnte, obwohl ich wusste, dass die anschließenden Träume mich nicht unbedingt ruhig schlafen ließen. Wie oft hatte ich mich gefragt, warum diese beiden Kinder denn überhaupt erst in den Hexenwald hineingegangen sind oder warum sie nicht sofort wieder herausgelaufen sind. Dann wäre ihnen viel Schreck erspart geblieben. Erst viel später fiel mir meine eigene Antwort darauf ein.
Kauernd hinter ein paar alten Zaunbrettern wartete ich gespannt, bis das Geräusch vorüber war und traute mich erst heraus, wenn wirklich nichts mehr zu hören war. Aber irgendwie war ich auch jedes Mal enttäuscht. Denn obwohl ich mich beim nächsten Mal bestimmt wieder genauso schnell verstecken würde, konnte ich es doch nicht erwarten, dieses mich erregende und gleichzeitig ängstigende Geräusch wieder zu hören.
Karl rannte manchmal mit mir um die Wette, wer als Erster einen Verschlag oder irgendein Versteck erreichen würde. Er wohnte ein Haus weiter in unserer Siedlung, direkt neben uns. Seine langen Beine waren der Grund, warum er doch meistens als Erster das rettende Ziel erreichte. Wenn ich jetzt so zurückdenke, sind seine langen Beine und seine großen, hervorstechende Augen das, was mir am meisten von ihm in Erinnerung geblieben ist. Wir kauerten dann immer eng aneinander geschlungen in einem Versteck und es schien, als ob unser Herzschlag jedes Mal mit dem lauter werdenden, sich nähernden Geräusch an Lautstärke mithalten wollte. Dabei hörte ich seinen Herzschlag meist noch viel lauter als meinen eigenen. Obwohl uns bestimmt keiner hören konnte, so wagten wir doch trotzdem nicht auch nur leise zu tuscheln, bis das Geräusch nicht mehr zu hören war. Dann kamen wir hervor und fuhren mit unserem Spiel oder was wir gerade taten, bevor das Geräusch erklang, fort.
Karl holte mich öfter zum Spielen ab und manchmal spielten wir auch gemeinsam mit anderen Kindern aus unserer Siedlung. Ich konnte es oft kaum erwarten, bis er an unserer Haustür schellte. Karl ist da, mach' ihm auf
, rief meine Mutter dann meist aus der Küche und ich eilte so schnell ich konnte zur Tür, weil ich jedes Mal dachte, er könne, wenn ich nicht schnell genug aufmachen würde, schon wieder gegangen sein.
Karl ging mit mir in eine Klasse und wir verbrachten auch in der Schule viel Zeit gemeinsam. Rückblickend kann ich wohl sagen, dass Karl damals mein bester Freund war. Die Pausen verbrachten wir gerne zusammen oder spielten mit Klassenkameraden. Ich kann mich auch noch gut an die oftmals länger als erlaubt ausgedehnten Pausen und unsere ausgiebigen Wettrennen erinnern, die uns so manchen Tadel der aufsichtführenden Lehrer einbrachten. Gab es mal Streitigkeiten mit anderen Schülern, konnte ich mich fast immer darauf verlassen, dass mein Freund Karl mir beistand. Das Gleiche galt natürlich auch umgekehrt, wie es sich für richtige Freunde gehört.
Auf dem Weg zur Schule und zurück war Karl meist mein Begleiter und wir kannten unseren gemeinsamen Weg so gut, dass wir sogar die Anzahl der großen Randsteine auf dem Weg von unserer Tür bis zu Schule wussten, 374. Ich selbst kannte auch alle Hunde, die morgens schon auf die Kinder warteten, die auf dem Weg zu Schule waren, und die meisten kannten mich. Besonders Jackson, der Hund von Familie Siebert. Jeden Morgen bellte er alle Kinder, die an dem Haus der Sieberts vorbeikamen, laut an, lief am Gartenzaun aufgeregt auf und ab. Nur bei mir machte er eine Ausnahme. Er blieb stehen, guckte mich mit seinen großen, braunen Augen an und ging auf der anderen Seite des Gartenzaun gemeinsam mit mir Schritt für Schritt auf meinem Weg zur Schule, musste aber am Ende des Zauns immer zurückbleiben. Auf dem Rückweg von der Schule wiederholte sich dann die Zeremonie in umgekehrter Richtung. Dabei schien es so, als ob Jackson meinen Stundenplan kannte, denn auch, wenn ich mal früher als sonst von der Schule nach Hause ging, wartete er scheinbar geduldig am Zaun, bis ich vorbeikam und wir gingen wieder unseren kurzen gemeinsamen Weg. Ich mochte ihn und ich glaube er mochte mich. Wir hatten etwas Gemeinsames, das uns verband.
In meiner Erinnerung wohnten wir schon immer in unserer kleinen Siedlung, obwohl – wie ich erst viel später erfuhr – meine Eltern mit mir und meinem Bruder hier hingezogen waren, als ich 2 Jahre alt war. Mein Vater musste den Arbeitsplatz wechseln und obwohl es knapp war, reichte das Geld, das er an seiner neuen Arbeitsstelle verdiente, dass wir uns eine Hälfte eines Doppelhauses in der Siedlung leisten konnten. Die Siedlung bestand aus vielen Doppelhäusern, die, als sie gebaut wurden, alle gleich aussahen. Aber zwei Generationen von Bewohnern hatten die Häuser und ihre Vorgärten und Hinterhöfe verändert, so dass nun jedes Haus etwas anders als seine Nachbarhäuser war.
Die einen Häuser hatten ein Blumenbeet vor dem Haus, andere Sträucher und kleine Büsche, wieder andere waren mit Steinwegen oder Parkbuchten versehen. Nur die Fenster und Türen waren meist noch an derselben Stelle, wo sie vor 50 Jahren gewesen waren. Und so gingen auch viele anderen Veränderungen in unserer Siedlung meist nur langsam voran. Zumindest schien es mir so. Im Nachhinein glaube ich, dass dies so war, weil ich es so sehen wollte und vielleicht auch brauchte. Na ja, aber vielleicht auch nicht. Wer weiß?
Mein Bruder Samuel war 5 Jahre älter als ich. In meiner Erinnerung verging kein Tag, an dem er nicht mit irgendeiner Schramme oder blutenden Wunde nach Hause kam. Er hatte nur eine Leidenschaft: Fußball spielen. Er und seine Freunde waren in unserer Siedlung berüchtigt für eine Vielzahl zertrampelter Beete, umgeknickter Blumen, Flecken an frisch gestrichenen Häuserwänden und der einen oder anderen zu Bruch gegangenen Scheibe. Besonders meine Mutter war eine eifrige Besucherin im Gartencenter, um sowohl die eigenen als auch die Blumen in der Nachbarschaft zu ersetzen und es war nicht nur einmal, dass ein Ball - natürlich unter lautem Protest meines Bruder - für mehrere Tage im Kleiderschrank verschwand und von meinem Vater erst wieder hervorgeholt wurde, als jeder Schaden ersetzt worden war. Ich selbst hatte mit Fußball nicht so viel im Sinn und meine kurze nicht wesentliche Karriere endete spätestens damit, als einmal ein Ball mit voller Wucht mit meinem Kopf Bekanntschaft machte, wobei ich zum Glück aber mit nur einem blauen Auge davon kam.
Meinen Vater sah ich – wie übrigens die meisten der Kinder ihre Väter in unserer Siedlung – meistens nur am Abend und an den Wochenenden.
Er arbeitete im Büro der großen Papierfabrik in unserer Stadt. Wofür er genau zuständig war, verstand ich nicht so genau, aber er musste manchmal auch am Wochenende zur Firma, weil irgendetwas bestellt oder kontrolliert werden musste. So musste immer wieder mal der ein oder andere geplante Ausflug ausfallen. Und ich war nicht der Einzige in unserer Familie, der darüber die eine oder andere Träne vergoss. Meine Eltern lebten eine liebevolle Ehe und es kam nicht selten vor, dass ich in ein Zimmer in unserem Haus hineinplatzte und sie eng umschlungen sah. Ich stürmte dann jedes Mal mit hellrotem Kopf unter Protest meiner Eltern – weil ich wieder mal vor dem Eintreten nicht angeklopft hatte – in mein Zimmer. Alles in allem glaube ich, waren wir eine ganz normale Familie in einer ganz normalen Kleinstadtsiedlung. Wenn dort damals nicht dieses Geräusch gewesen wäre.
Meine Mutter Helen war die gute Seele der Nachbarschaft und immer bereit mit Bepflanzungs-, Backtipps oder auch medizinischem Rat zur Stelle zu sein. Und sie hatte ein hervorragendes Gedächtnis. Ich glaube, wenn es sie nicht gegeben hätte, hätte mein Vater auch nach 20 Jahren in der Siedlung noch keinen einzigen Namen der Nachbarn gekannt. Sie liebte Tiere und es machte den Eindruck, als ob sie auf manchmal wundersame Weise mit ihnen sprechen konnte. Oder zumindest schien es so. Sie konnte an keiner Katze – und davon gab es in unserer Siedlung einige – vorbei gehen, ohne sie liebevoll zu kraulen und es gab Katzen, die sich auch nur von meiner Mutter kraulen ließen. Ich glaube beide Seiten hatten einen Gewinn von diesen Begegnungen. Ich erinnere mich noch gut daran, als zwei aus dem Nest gefallene Dohlen von meiner Mutter mit liebevoll zurechtgemachtem Futter großgezogen wurden und Wochen lang unsere Hausgäste waren, bis sie irgendwann ohne ein Abschiedskrähen davonflogen und nicht mehr zurückkamen. Die Tränen in den Augen meiner Mutter zu sehen war für mich damals schlimmer als die Tatsache, dass wir die Krähen, die auch ich lieb gewonnen hatte, nicht mehr wiedersehen würden. So war unsere Siedlung immer für Neuigkeiten und Abenteuer gut.
Nicht weit entfernt gab es einen Wald und einen Bach, an dem es jeden Tag neues zu entdecken gab, und wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war es eine schöne und aufregende Zeit gewesen, auch wenn das meiste doch in meiner Erinnerung verblasst ist. Aber nichts blieb mir so in Erinnerung, wie das erste Mal, als ich dieses Tick, tick .... tack, tick,tack
hörte, dessen unregelmäßige Lautstärke in der Nähe unseres Hauses langsam anschwoll, um dann genauso langsam wieder leiser zu werden.
Wann war es das erste Mal, dass ich dieses ungewöhnliche, mir nicht erklärbare Geräusch hörte? Ich kann mich beim besten Wissen nicht ganz genau daran erinnern. Aber ich weiß noch gut, dass es ein lauer Frühlingstag war. Einer dieser Tage, an denen schon ein Hauch des herannahenden Sommers zu verspüren war und Mutter wieder unseren Garten zu dem machte, was nur sie konnte. Obwohl es eigentlich noch zu kalt war, verführten mich die ersten Sonnenstrahlen doch dazu, mir meine kurze Sommerlieblingshose anzuziehen. Blau, aus Jeans, mit einem Aufnäher an der rechten Seite, der einen roten Sportwagen zeigte. Ich liebte diese Hose, vielleicht, weil sie so viele Erlebnisse mit mir teilte und auch oder gerade weil man ihr ansah, dass sie den einen oder anderen Sturz gemeinsam mit mir gut überstanden hatte.
Karl war damals mit seinen Eltern übers Wochenende zu seinen Großeltern gefahren und somit ein Besuch von ihm nicht zu erwarten. Vor unserem Haus, neben einem der schönen Blumenbeete, die Mutter mit farblich abwechselnden Blumen bepflanzt hatte, hatte ich mir mit Bausteinen eine große Burganlage gebaut und überlegte gerade, wie wohl die Burginsassen sich am besten vor den herannahenden Feinden schützen könnten.
Da hörte ich das Tick, tick...
zum ersten Mal. Dann eine kurze Pause, dann ein anderes Geräusch, wie ein Tack...
, gefolgt von einem leicht schleifenden undefinierbarem Geräusch. Dann wieder ein Tick, tick...
ohne das Tack..
, eine Pause und dann wieder von vorne. Mir war so unerklärlich, was dieses Geräusch ausgelöst hatte, dass ich merkte, wie gleichsam Furcht und Neugier in mir aufkam und sich die Burginsassen nun mit ihrem Problem alleine beschäftigen mussten.
2. Draußen
Tim hatte heute gut geschlafen und war nur wenig von Alpträumen geschüttelt worden. Im Übergang vom Traum in das Wachwerden konnte er gut die Vögel hören, die auf dem Baum vor seinem Fenster scheinbar die morgendliche Sonne mit ihren Lauten begrüßten. Trotzdem hielt ihn etwas davon ab, sofort aufzustehen. Es fühlte sich an, als ob ein schweres Gewicht ihn nicht aufstehen ließ. Er wusste, was es für Konsequenzen haben konnte, wenn er später als die anderen Kinder am Tisch im großen Speisesaal sitzen würde, aber irgendetwas, schwer wie Blei ließ ihn einfach nicht aufstehen. So ließ er für eine kurze Zeit weiter seine Augen geschlossen und dreht sich nochmal auf die Seite, die dem Fenster zugewandt war.
Tim war damals froh, als ihm dieser Platz im Schlafraum zugewiesen wurde. Es war ein Bett direkt an einem der wenigen Fenster. Er fühlte sich dort geborgen, auch wenn in kalten Nächten der Wind ungemütlich durch die Ritzen des Fensters zog und ihn seine Bettdecke noch höher als sonst ziehen ließ. Dennoch waren der Wind und das Licht, das ihn oft morgens weckte, wie Verbündete, denn sie kamen von da draußen
.
Da draußen
war für ihn alles, was außerhalb der großen Festung war und irgendwie schien vieles, was lebte sich da draußen
abzuspielen. Mit jedem Mal, bei denen sich beide Welten berührten, wurde es für ihn immer schwerer, sich an das Drinnen
zu gewöhnen, und so vermied er mehr und mehr die Begegnung, auch wenn eine kleine Sehnsucht wach blieb. Und so war es auch wieder an diesem Morgen, als er die Vogelstimmen vernahm.
Das Drinnen
war ihm so vertraut geworden, dass es ihm gefiel, sich einfach noch etwas länger unter seiner Decke zu verkriechen, gleichsam wissend, was es für ihn für Konsequenzen haben könnte, wenn er wieder mal zu spät zum Morgentisch erscheinen würde. Er wusste auch, heute war Pater Michael zur Aufsicht eingeteilt, um die etwa vierzigköpfige Schar von Jungen zur Ruhe und Ordnung zu bringen. Pater Michael war ein sehr junger, kleiner, dürr wirkender Mann, mit hellen und meist fröhlich wirkenden Augen. Tim mochte ihn damals. Nur selten waren die Strafen, die sich Pater Michael für zu bestrafende Vergehen ausdachte – im Gegensatz zu den meisten anderen Patern - schlimm. Manchmal gefielen Tim diese Strafen