Vom gehorsamen Kirchenschaf zum selbstbestimmten Katholiken: Wie sich mein Bild von katholischer Religion gewandelt hat
Von Alfons Wiebe
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Über dieses E-Book
Dass sich die katholische Welt seit zwei Generationen mächtig verändert, bekommt nur mit, wer als Insider die Entwicklung selber miterlebt.
Der katholische Religionslehrer Alfons Wiebe hat diese Veränderung in seinem Leben erfahren. Er beschreibt den Weg, wie er in Auseinandersetzung mit verschiedenen Theologen und Religionspädagogen zu einem neuen Verständnis des katholischen Glaubens gefunden hat.
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Buchvorschau
Vom gehorsamen Kirchenschaf zum selbstbestimmten Katholiken - Alfons Wiebe
1Vorwort
Im Frühjahr 2019 entdeckte ich auf der Web-Seite der Gesellschaft für eine Glaubensreform die Rezension des Buches „Der Traum des Königs Nebukadnezar" von Roger Lenaers. Der Autor sprach so begeistert von diesem Buch, dass ich beschloss, es mir zu kaufen. Bei der Lektüre merkte ich, dass Herr Lenaers sich mit dem gleichen Anliegen beschäftigte, das mich dazu geführt hatte, diesen Text zu verfassen. Roger Lenaers, ein belgischer Jesuit, untersuchte in dem Buch Glaubensaussagen und Praktiken der Kirche daraufhin, was an ihnen zeitbedingt ist, also dem antiken Weltbild geschuldet und daher aufgegeben werden kann und was von überzeitlicher Bedeutung ist, weil es der Intention Jesu entspricht und deshalb zu bewahren ist. Für ausgewählte Glaubenswahrheiten erarbeitet er, wie sie heute verstanden und gelebt werden können. Mich hat gefreut, dass seine Ergebnisse, die er mit theologischem Wissen und systematischer Akribie gewonnen hat, in sehr Vielem den meinen gleichen, die ich mir durch Intuition, Lebenserfahrung und Folgerungen aus meiner Lektüre erarbeitet habe. Ich fühlte mich durch ihn bestätigt.
2Zur Intention meines Textes
Das wichtigste Thema meines Lebens war die Religion. Sie hat dazu geführt, dass ich Religionslehrer geworden bin und mich aus beruflichen Gründen, aber auch aus existenziellem Interesse immer mit ihr beschäftigt habe. Was verstehe ich unter Religion? Ich möchte, bevor ich mein Verständnis von ihr beschreibe, das Gedicht „Reklame" von Ingeborg Bachmann zitieren. In ihm wird ein wesentliches Element von Religion deutlich.
Wohin aber gehen wir
ohne Sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber
mit Musik
was sollen wir tun
heiter und mit Musik
und denken
heiter
Angesichts eines Endes
mit Musik
und wohin tragen wir
am besten
unsere Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei sei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Todesstille eintritt
Als ich in der 12. Klasse des Gymnasiums dieses Gedicht in einem Referat vor der Klasse interpretierte, da ahnte ich noch nicht, dass es mir einmal dazu dienen würde, meine Vorstellung von Religion zu verdeutlichen.
Das Gedicht spricht von einem Menschen, der auf der Suche nach Halt und Geborgenheit ist. Er stellt Fragen, die davon zeugen, in welcher existenziellen Not er ist. Aber er erhält nur nichtssagende Antworten, die ihn einlullen und ablenken wollen. Vor der letzten Frage, der Frage nach dem, was nach dem Tod mit dem Menschen passieren wird, verstummt die Reklame, das Sinnbild aller innerweltlichen Sinn- und Antwortgeber. Dass er so fragen kann, ja muss, ist Ausdruck seiner religiösen Natur. Er fragt, weil er Antworten sucht. In den einzelnen Kulturen fanden Menschen bei ihrem Nachdenken über die Fragen unterschiedliche Antworten. Die Antworten, die den Menschen plausibel erscheinen, fassten die Menschen in ihren Hl. Schriften zusammen. Und sie gaben diesen Antworten den Status absoluter Wahrheiten. Im Christenrum heißen sie Offenbarungen. Wer sie für sich als wahr annimmt, glaubt an sie. Er kann sie auch nur glauben. Denn mit wissenschaftlichen Methoden können sie nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden. Diese Antworten sind in den verfassten Religionen vor langer Zeit gegeben und mündlich und schriftlich überliefert worden. Sie sind unterschiedlich, je nach Kultur, in der sie auf die existenziellen Fragen gestellt wurden. Jede Kultur hat ihre eigenen Antwortsysteme hervorgebracht. Sie bilden heute die unterschiedlichen Religionen. Demnach ist eine Religion ein System, das auf existenzielle Fragen, wie sie z.B. das obige Gedicht stellt, erschöpfende Antworten gibt. Das ist ihr Sinn. Eine Religion will jedem Menschen den Raum eröffnen, in dem er solche existenziellen Fragen stellen kann, damit er in ihren Antworten Sicherheit in seiner Bedrängnis finden kann. In diesem Sinne ist die christliche Religion eine unter vielen anderen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Erinnerung an die Transzendenz wach halten , ihren Mitgliedern Richtlinien geben, wie sie verantwortlich ihr Leben gestalten können und worin der Sinn ihres Lebens besteht. Sie sammeln die religiösen Zeugnisse ihrer Protagonisten in hl. Schriften und tradieren sie an die nachfolgenden Generationen.
Einer der wichtigsten Begriffe der Religion ist das Wort Gott. Es drückt aus, dass es über dem Menschen etwas gibt, was höher ist als er , was dem Gläubigen als das Höchste erscheint, vor dem er sich verneigt und dem gegenüber er sich verantwortlich fühlt. Es beruht auf der Ahnung von einem Mehr an Wirklichkeit, das über das sinnlich Erfassbare hinausgeht. Wie es zur Entstehung dieses Wortes kam, möchte ich weiter unten ausführen. Hier soll nur der Zusammenhang zwischen Gott und Religion aufgezeigt werden. Religion hat die Aufgabe, ihre Gläubigen zu der Anerkennung Gottes und seiner Verehrung zu führen. Das tut sie durch Gebete und Riten und Liturgie.
Aus dem gesagten wird deutlich, dass ich unter Religion eigentlich zwei Dinge verstehe.
Einmal das psychologische Grundgefühl des Menschen, das dazu führt, dass er sich auf die Suche nach Antworten auf seine existenziellen Fragen begibt, die ihm sein wissenschaftliches Denken nicht geben kann. Sie ist also eine spezielle Art, wie der Mensch sein Leben auffasst. Man kann das auch Religiosität nennen.
Und zweitens verstehe ich darunter die Systeme, die sich aus diesem Frage- und Antwortspiel ergeben. Das sind die Lehren der Religionen, ihre Gebete und Rituale und ihre organisatorischen Gegebenheiten.
Ein Mensch, der sich als reifer Mensch einer Religion anschließt, wählt sie aus den vielen anderen heraus, weil sie ihm plausibel erscheint. Er gibt ihr durch seinen Glauben an sie absolute Bedeutung. Von ihr erhofft er sich dann die Antworten, die seinem Leben den absoluten Sinn geben, so dass er sich im Leben und Sterben geborgen fühlen kann. Diesen Weg jedoch bin ich nicht gegangen. Wie die meisten Menschen, so habe auch ich meine Religion nicht selber gewählt, sondern bin in sie durch meine Eltern hineingeboren.
3Meine Herkunft
Seit meiner Geburt gehöre ich der christlichen Religion an in Form des katholischen Bekenntnisses. In ihr haben mich meine Eltern erzogen, in ihr bin ich groß geworden, mit ihr habe ich mich, seitdem ich über Religion nachdenke, auseinander gesetzt. Sie hat mein Leben geformt. Durch sie habe ich mein Gewissen vor Gott auszurichten gelernt.
graphics1Meine Eltern haben am 14.5.1938 in Danzig geheiratet. 10 Tage vor Kriegsbeginn, am 20.8.39 bin ich geboren. Meinen Eltern verdanke ich meine körperliche und geistige Entwicklung.
Sie ist also ein eminent wichtiger und bestimmender Teil meines Lebens. Deshalb drängt es mich jetzt, da ich nach der Pensionierung Zeit dazu habe, mir über den Werdegang meines religiösen Lebens, Rechenschaft abzulegen.
Ganz allgemein kann ich im Rückblick sagen: Das Wesentliche der Religion der katholischen Kirche hat sich trotz vieler Änderungen im Äußeren nicht verändert. Ich glaube, dass jemand, der die Religion meiner Kindheit erlebte, sie auch heute noch als solche identifizieren kann. Was sich verändert hat ist meine Einstellung zu ihr, die Art, wie ich mit den Äußerungen der Religion umgegangen bin und wie ich sie in meinem Leben zur Wirkung kommen ließ. Über die Wandlungen, die ich dabei auf meinem Weg durchgemacht habe, möchte ich mir hier Klarheit verschaffen. Ich will hier also aus meinem Leben berichten. Dabei will ich aber keine Autobiografie schreiben, in der möglichst alle Lebensstationen erzählt werden, sondern ich wähle die Stationen aus, die für meinen religiösen Werdegang von Bedeutung sind. Neben dieser für mich bedeutsamen Intention habe ich aber noch eine andere. Ich möchte meinen Kindern wenn sie eines Tages vielleicht etwas mehr über mich erfahren möchten, die Möglichkeit geben, es aus diesem Text zu entnehmen. Aus ihm können sie ersehen, was mir in meinem Leben am wichtigsten erschien. Und vielleicht könnten meine Aufzeichnungen auch von allgemeinem Interesse sein. Wir leben in einer Zeit, in der es nicht selbstverständlich ist, ob man an Gott glaubt und sich einer Religion zugehörig fühlt. Als ich Kind war, war das anders. Da gab es noch geschlossene religiöse Milieus. Dahinein war man geboren und blieb in ihm sein Leben lang, wenn man seinen Aufenthaltsort nicht wechselte. Aber auch die geistige Welt, in die man hineingeboren war, blieb ziemlich gleich. Die Wert- und Glaubensvorstellungen und die Autoritäten, die diese Vorstellungen repräsentierten und garantierten, veränderten sich kaum. Und so blieben die meisten Menschen in den ererbten Geisteshaltungen. Das alles hat sich heute verändert. Die heutige Zeit ist von Mobilität geprägt. In der Regel verändert jeder seine Örtlichkeiten. Er kommt aus sozialen Milieus mit ihren Werthaltungen heraus und muss sich entscheiden, wie er künftig leben will. Das tun viele Menschen sehr unbewusst und unreflektiert. Ich denke, dass man an meinem Fall schön sehen kann, wie das auch anders passieren kann.
4Das Waisenkind
Die mächtigen weißen Hauben der Vinzentinerinnen mit ihrer Spitze über der Stirn und ihren wippenden Flügeln über den Schultern sind die ersten Zeichen von Religion, die ich in Erinnerung habe. Ich erlebte sie im Waisenhaus in Karthaus, in das ich mit etwa 5 Jahren eingewiesen wurde. Es war das letzte Kriegsjahr. Mein Vater war im Krieg und meine Mutter arbeitete in Karthaus im Krankenhaus, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Dorthin waren wir evakuiert worden, als Danzig bombardiert wurde und der Einmarsch der Russen bevorstand. Da meine Mutter uns drei Kinder nicht betreuen konnte, gab sie uns in die Obhut der Schwestern, die in Karthaus ein Waisenhaus betreuten. Hier lebten wir mit polnischen und russischen Kindern zusammen, die der Krieg von ihren Eltern getrennt hatte oder sie zu Waisen gemacht hatte. Die Schwestern behandelten uns streng, aber gütig. Die Schwester, die meine Gruppe betreute, hatte ich gern. An eine nähere Bindung oder gar Zärtlichkeiten von den Schwestern kann ich mich jedoch nicht erinnern.
Eigenartig, dass ich keine Erinnerung an etwas Religiöses aus der Zeit vor dem Waisenhaus habe, das sich im Elternhaus ereignet hätte. Denn meine Eltern waren praktizierende Katholiken, hatten mit uns gebetet und waren mit uns in die Kirche gegangen. Beide Eltern kamen aus katholischen Elternhäusern, waren aktiv in der Gemeindejugend, wo sie sich auch kennen gelernt hatten. Mein Vater war lange Zeit bis in die Jungmannszeit Ministrant, pflegte Umgang mit den Geistlichen der Pfarrei, von denen einer auch mein Pate wurde und mir den Vornamen vererbte. Er hatte vor der Ehe mit meiner Mutter daran gedacht, Priester zu werden. Dass die religiöse Einstellung meiner Eltern aber doch einen bestimmenden Einfluss auf mich hatte, zeigen folgende zwei Begebenheiten: Als 3- oder 4-jähriger lag ich mit Diphtherie im Krankenhaus. In meinem Gitterbettchen spielte ich manchmal mit meinem Glied. Ich erinnere mich noch daran, wie ich das Gefühl hatte, dabei etwas Falsches zu tun. Auch die zweite Begebenheit hat etwas mit Sexualität zu tun. Bevor ich ins Waisenhaus kam, wohnten wir eine Zeitlang bei einem Bauern in der Nähe von Karthaus. Hier musste ich mit einem Mädchen, das etwas älter war als ich, öfter die Gänse hüten. Dabei trieben wir sie auf eine Wiese, die abseits lag und wo uns niemand sah. Wir vertrieben uns die Zeit, indem wir uns gegenseitig unsere Genitalien untersuchten und sie mit Grashalmen kitzelten. Der Anblick der Scheide des Mädchens ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Ich empfand die Spiele als sehr angenehm und die sexuellen Empfindungen dabei haben mich das ganze Leben begleitet. Gleichzeitig hatte ich aber auch hier das Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun. Denn am Sonntag, dem heiligen Tag, unterließen wir diese Spielchen. Offensichtlich hatten mir meine Eltern, die ihr Lebtag sehr prüde waren, schon sehr früh sexuelle Einschränkungen auferlegt, ohne dass ich mich daran erinnere. -
In Karthaus besuchte ich die ersten beiden Schuljahre der polnischen Schule. Hier ist mir in Erinnerung geblieben, dass die Lehrerin uns die Passionsgeschichte Jesu erzählte, von der ich sehr beeindruckt war. Ich konnte es jedoch nicht verstehen, dass Jesus