Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Treulose Seelen: Eine Fantasyanthologie
Treulose Seelen: Eine Fantasyanthologie
Treulose Seelen: Eine Fantasyanthologie
eBook348 Seiten4 Stunden

Treulose Seelen: Eine Fantasyanthologie

Von Tim J. Radde, Pascal Wokan, Joshua Tree und

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Verrat trägt vielerlei Gewänder. Ob er, gekleidet in Freundschaft, dem Nächsten in den Rücken fällt oder mit dem Schleier der Liebe das Herz betrügt. Eines ist dem gemein: Es sind treulose Seelen, die sich dieser Maskierung bedienen. Aus Furcht, Eigennutz oder Rachsucht – das ist die Frage.

14 Autorinnen und Autoren haben sich diesem vielschichtigen Thema gewidmet und ihre ganz eigene Interpretation dazu niedergeschrieben. Ob düster, zauberisch oder verträumt – für jedes (verräterische) Herz ist in dieser Anthologie etwas dabei.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. März 2018
ISBN9783742746894
Treulose Seelen: Eine Fantasyanthologie

Ähnlich wie Treulose Seelen

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Treulose Seelen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Treulose Seelen - Tim J. Radde

    Vorwort

    Im Sommer 2017 hatte ich die Idee, ein gemeinsames Projekt mit anderen Autoren auf die Beine zu stellen. Kurzgeschichten haben mich schon immer fasziniert, da der Autor wenig Platz hat, um seine Vorstellungen dem Leser zu verdeutlichen. Es muss klar und intensiv gearbeitet werden. Man kommt auf den Punkt.

    Ich bin sehr froh, dass so tolle Schreiberinnen und Schreiber von meiner Idee überzeugt waren und sich mit mir an die Arbeit gemacht haben. Alle haben Verantwortung übernommen und diese Anthologie zu einem wirklich gemeinsamen Projekt gemacht.

    Jede Kurzgeschichte dieser Sammlung hat das gleiche Oberthema: Verrat. Doch wie es umgesetzt und interpretiert wurde, blieb jedem selbst überlassen.

    An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen und ein Anliegen unsererseits präsentieren.

    Diese Anthologie ist bewusst kostenlos, da wir unseren Lesern etwas zurückgeben möchten. Ohne Leser gäbe es keine Autoren. Doch vielen Menschen ist dieses Privileg, Lesen zu können, nicht vergönnt. Deshalb unsere Bitte: Helft uns, etwas dagegen zu unternehmen!

    Auf den Seiten www.plan.de/bildung-und-ausbildung/alphabetisierung.html und www.aktion-deutschland-hilft.de/de/fachthemen/bildung/alphabetisierung gibt es die Möglichkeit, durch Unterstützung und Spenden zu helfen. Es gibt viele Bereiche, wo mehr getan werden muss und in denen Organisationen Spenden dringend benötigen und verdienen. Doch jeder Mensch sollte die Chance bekommen, Lesen zu können.

    Wir würden uns wirklich sehr freuen, wenn diese gute Sache von euch/Ihnen unterstützt werden würde und gespendet wird.

    In diesem Sinne, viel Spaß beim Lesen unserer Anthologie!

    Tim J. Radde, Herausgeber

    Anmerkung: Jede Autorin und jeder Autor war für seine Kurzgeschichte und deren Inhalt selbst verantwortlich.

    Inhalt

    Sternminztee: Ein verhängnisvoller Genuss von Anne Schmitz

    Die rogodanischen Schriften: Alte Traditionen von Tim J. Radde

    Wo ein Wille, da ein Dolch von Christian Milkus

    SCHWERT & MEISTER: Das Licht der Welse von Florian Clever

    Elesztrah: Das Versprechen des Jägers von Fanny Bechert

    Die Dämonen der Stille von Joshua Tree

    Erellgorh: Seelenstaub von Matthias Teut

    Jamil: Der Anfang vom Ende von Farina de Waard

    Der alte Magier: Verräter von Jürgen Schaaf

    Der Dämon von Naruel: Der dritte Hüter von Janine Prediger

    Die Magie der Bücher: Der Poet und die Nixe von Nadja Losbohm

    Falaysia: Auferstanden von Ina Linger

    Edingaard: Ein Rat fürs Leben von Elvira Zeißler

    Arakkur: Sylons Auftrag von Pascal Wokan

    Danksagung

    Sternminztee: Ein verhängnisvoller Genuss

    Von Anne Schmitz

    Über dem Lagerfeuer hing ein gusseiserner Kessel, in dem frisches Quellwasser kochte. Jonas Schafhirte griff in sein Proviantbündel, um ein Säckchen mit grünem Tee hervorzuholen. Sorgfältig maß er zwei Lot ab und streute die getrockneten Blätter ins Wasser. Tief sog er den aufsteigenden Duft in die Nase. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihn. Er liebte diesen Tee.

    Im Alter von zehn Jahren, es war sein erster Sommer allein in den Bergen gewesen, hatte er nahe einer Höhle die etwa kleegroßen Pflanzen entdeckt, die so betörend nach Pfefferminz und Zitrone rochen. Damals pflückte er zum ersten Mal die sternförmigen, grün-roten Blättchen und bereitete einen Tee zu. Seither trank er hier oben nur diese Sorte, die er Sternminz getauft hatte.

    Hätte er vor nunmehr sieben Jahren gewusst, in welche Schwierigkeiten ihn der Tee bringen würde, hätte er ihn gemieden wie das Kaninchen den Fuchsbau.

    Jonas goss sich eine Tasse Tee ein und nahm einen großen Schluck. Das heiße Getränk wärmte ihn mehr, als seine Kleidung aus grober Wolle es vermochte. Er strich sich durch das kurze, braune Haar und lehnte sich gemütlich an einen Felsen, den schönsten Moment des Tages auskostend. Die Schafe grasten in unmittelbarer Nähe, bewacht von den Hunden Pankas und Natu. Das Feuer knisterte leise und er genoss seinen Tee, während die Sterne über ihm am Firmament leuchteten.

    »Ich habe es gut angetroffen«, sprach er zufrieden und kraulte Pankas‘ Kopf.

    Ein Knacken durchschnitt die Stille der Nacht.

    Sofort sprangen die beiden Hunde auf. Drohend knurrten sie in die Dunkelheit. Jonas griff nach seinem Hirtenstab, verharrte wartend. Mit einem Mal stürmten Pankas und Natu in den Wald und kehrten wenige Sekunden später, genüsslich auf Knochen kauend, wieder zurück. Jonas entspannte sich, als er den großen Mann erkannte, der hinter den Hunden her schritt. Es war Aonaran, der Einsiedler. Niemand wusste, wo genau er wohnte. Irgendwo in den Bergen, vermuteten die Leute. Er sei verrückt und gefährlich. Außerdem solle man ihm nicht zu nahe kommen, das verrate ja schon sein Äußeres. Seine Glatze bedeckten Symbole und Schriftzeichen, die angeblich nur er selbst zu entziffern vermöge. Ob Sommer oder Winter, er trug einen bodenlangen Pelzmantel aus Marder-, Wildschwein- oder Bärenfellen. An manchen Stellen schimmerten Schlangenhäute und sogar einige Adlerfedern waren eingenäht worden. Darunter kleidete er sich in Leinen. Schuhe trug er keine.

    Jonas ließ den Hirtenstab sinken: »Mensch, Aonaran! Du hast mich erschreckt«, beschwerte er sich und bot seinem Gast mit einer Handbewegung einen Platz am Feuer an. Jonas gab nichts auf das Geschwätz der Leute und freute sich, dass der Einsiedler ihn ab und an besuchen kam.

    »Ich habe extra einen Ast zerbrochen, damit du mich bemerkst!« Er lächelte. »Ich wollte sehen, wie es dir geht.«

    Der junge Mann goss sich eine weitere Tasse Tee ein und reichte dem Einsiedler einen Wasserschlauch.

    »Du trinkst immer noch diesen, wie nanntest du ihn doch gleich ... Sternminztee?«, erkundigte sich der Alte.

    »Möchtest du auch einen?«, antwortete Jonas mit einer Gegenfrage.

    »Nein, nein!«, Aonaran schmunzelte. »Das ist nichts für mich.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ich habe gehört, es gehen in letzter Zeit merkwürdige Dinge hier in den Bergen vor.«

    Das war Jonas neu. Verständnislos blickte er den Einsiedler an. »Mir ist nichts aufgefallen.« Er berichtete Aonaran von den Begebenheiten der vergangenen Tage. »Alles in allem ist es ruhig diesen Sommer!«, schloss er seine Ausführungen.

    »Ach, ist auch nicht so wichtig. Ich wollte dich nur bitten, auf der Hut zu sein«, sagte der alte Mann und erhob sich.

    »Was soll mir schon passieren, ich habe ja Pankas und Natu ... und meinen Hirtenstab«, fügte er mit Blick auf den übermannshohen Stab mit einer Krümmung an der Spitze, der neben seinem Hirtenmantel lag, hinzu.

    »Das ist gut, das ist gut«, Aonaran nickte zum Abschied und ging mit großen Schritten davon.

    Jonas schaute ihm hinterher. Was war das denn für ein merkwürdiger Besuch? Aber, was sollte man von einem Einsiedler anderes erwarten. Schmunzelnd rollte er sich am Feuer zusammen und schlief bald darauf ein.

    Ein Knurren weckte ihn. Jonas öffnete die Augen und blickte vor die gebleckten Reißzähne eines Bären. Die Lefzen emporgezogen knurrte das Tier drohend. Geifer troff aus seinem Maul. Der Gestank nach faulem Fleisch war Übelkeit erregend.

    Jonas wollte schreien, doch kaum hatte er einen Ton herausgebracht, wurde ihm ein Knebel in den Mund gestopft. Er hustete und würgte, bekam keine Luft. Panisch wollte er aufspringen, konnte jedoch Hände und Füße nicht bewegen.

    Der Bär brüllte. Jonas atmete stoßweise durch die Nase ein und aus. Sein Herzschlag raste. Was war hier los? Wo waren Pankas und Natu? Verzweifelt blickte er sich um. Unter den Beinen des Tieres hindurch sah er die Hunde reglos neben dem Feuer liegen. Heftig strampelte der Schafhirte, versuchte verzweifelt, sich von den Fesseln zu befreien.

    »Ihnen geht es gut. Sie schlafen«, sagte eine tiefe Stimme. Der Bär tappte einen Schritt beiseite und ein kleiner Mann kam in Jonas‘ Blickfeld. Die langen, braunen Haare hingen ihm bis auf die breiten Schultern, der Bart bis auf den Bauch herab. Er wirkte ebenso zottelig wie das Fell des Bären. Auf dem ledernen Brustharnisch prangte ein Symbol - ein stilisierter Tatzenabdruck. Unbeeindruckt von Jonas‘ Winden und erstickten Rufen knotete der Fremde ein Seil um seine Mitte, stapfte zum Bären und befestigte das Seil an einem Gurt, der sich um dessen Brust spannte. Behände schwang sich der Mann auf den Rücken des Tieres, das sich daraufhin in Bewegung setzte.

    Jonas wurde herumgerissen und über den felsigen Boden geschleift. Jede Gegenwehr war sinnlos und brachte ihm nur weitere blaue Flecken und Schürfwunden ein.

    Was ging hier eigentlich vor? Er hatte noch nie einen zahmen Bären gesehen, geschweige denn einen Mann, der auf einem ritt. Was wollte der Fremde von ihm? Jonas unterdrückte die aufsteigende Angst, vielleicht war alles ja nur ein Missverständnis ...

    Sie steuerten auf eine Höhle zu, die Jonas gut kannte. Sie war zwei Mannshöhen breit und ebenso tief, hervorragend geeignet, um Schutz vor schlechtem Wetter zu bieten, aber auch nicht mehr.

    Der Bär blieb stehen. Jonas wuchtete sich herum. Ungläubig starrte er an seinem Entführer vorbei: Die Rückwand war verschwunden – ein Durchgang ins Innere des Berges tat sich vor ihnen auf. Rechts und links in den Wänden steckten Fackeln, die zischend und knisternd den Tunnel erhellten.

    Das war unmöglich!

    Jonas strampelte, stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die des Bären. Er wollte nicht dort hinein. Doch es half nichts. Das Tier bemerkte seine Anstrengungen anscheinend gar nicht. Es zog ihn immer tiefer unter die Erde.

    Sie passierten unzählige Gänge, Tunnel und Höhlen. Jonas‘ Haut war an vielen Stellen aufgescheuert und brannte entsetzlich. Lange würde er das nicht mehr aushalten.

    Ein hoher, spitzer Schrei gellte durch die Stille.

    »Lusara!«, zischte sein Entführer, sprang mit zum Kampf erhobenem Schwert vom Rücken des Bären. Suchend blickte er sich um.

    Aus einer dunklen Nische tauchte neben Jonas eine junge Frau auf. Leise und anmutig wie eine Katze schlich sie auf allen vieren zu Jonas, beugte sich über ihn und hielt ihm ein Messer vor die Nase. Freundlich lächelnd flüsterte sie: »Lauf!« Mit einer fließenden Bewegung durchschnitt sie die Fesseln sowie das Halteseil, drehte sich um und parierte den Schwerthieb des Bärenmannes.

    Während Jonas sich aufrappelte, riss er sich den Knebel aus dem Mund und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, davon. Hinter sich hörte er die Kampfgeräusche und das Brüllen des Bären.

    Hals über Kopf sprintete Jonas in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Doch schon nach wenigen Abzweigungen wurde ihm bewusst, dass er die Orientierung verloren hatte und nicht wusste, wie er aus diesem Tunnellabyrinth herausfinden sollte. Als seine Kräfte schwanden, verlangsamte er seine Schritte.

    Irgendwo muss es einen Ausweg geben, hoffte er inständig.

    »Na, alles klar?«, fragte wie aus dem Nichts eine weibliche Stimme.

    Jonas fuhr erschrocken herum. »Du?«

    »Jap«, sagte die Frau, die ihn aus der Gefangenschaft gerettet hatte. »Ich dachte, du könntest Hilfe gebrauchen.«

    Jonas grinste verlegen: »Das ist wohl nicht zu übersehen! Wie hast du mich gefunden?«

    Die Frau umrundete Jonas und betrachtete ihn abschätzend. »Mein Name ist Lusara. Ich stamme vom Klan des Nachtsternes!« Sie band sich die langen, blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und deutete auf ihr Wams, auf dem eine strahlende Raute prangte. Ihr Hemd und die enge Hose wirkten teurer als die einfache Kleidung des Bärenmannes. Die Lederstiefel reichten ihr bis zu den Knien.

    »Ich kann dich riechen.« Sie trat dicht an Jonas heran und schnüffelte an ihm: »Hmmm, Pfefferminz und Zitrone. Du riechst nach Sternkraut!«

    Jonas starrte sie so verständnislos an, dass Lusara lachen musste.

    »Ich möchte dir einen Handel vorschlagen. Ich helfe dir hier heraus und du tust mir einen Gefallen!«

    »Um was für einen Gefallen handelt es sich?«

    Lusara blieb hinter ihm stehen, beugte sich über seine Schulter und flüsterte: »Ich will dein Blut!«

    Jonas‘ Verstand brauchte einige Zeit, um das Gesagte zu verstehen. »Das ist doch nicht dein Ernst?!«

    Bevor Lusara antworten konnte, dröhnte das Heulen eines Wolfes durch den Tunnel. »Komm erst mal mit.« Sie packte Jonas‘ Arm. »Hier sind wir nicht sicher!«

    Nachdem ein zweites Heulen erklang, befand Jonas, dass es besser sei, dieser Frau zu vertrauen, als in die Fänge eines Wolfes zu geraten. Er ließ sich von ihr durch das Labyrinth führen.

    Nach einer gefühlten Ewigkeit traten Lusara und Jonas auf einen Sims hinaus und blickten über ein bewaldetes Tal, begrenzt durch steile Berghänge, die scheinbar bis zum Himmel ragten. Staunend betrachtete Jonas die vielfältigen Pflanzen und bunten Vögel, die Lichtspiegelungen, die die Sonne auf einen schmalen Wasserfall und einen Fluss, der sich durch das Tal schlängelte, zauberte.

    »Es ist wunderschön«, hauchte Jonas.

    »Jap«, stimmte ihm Lusara zu. »Und all das ist bedroht«, flüsterte sie traurig.

    »Aber wieso?«

    »Zur Zeit unserer Urahnen lebte dein Volk und meines in ständigem Krieg. Wir, das Volk der Basurer, lieben den Frieden und wollten uns vor der Bedrohung schützen. Aus diesem Grund haben wir mit Hilfe von Magie einen Canyon um unser Tal gezogen.« Als sie Jonas‘ ungläubiges Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Ich weiß, dass ihr aus eurer Welt die Magie vollständig verbannt habt. Aber es gab sie schon immer und es wird sie auch weiterhin geben.«

    Jonas zuckte die Achseln. So ganz konnte er das nicht glauben.

    Da erklärte Lusara weiter: »Ein mächtiger Zauberer erschuf einen Schutzwall, der den Canyon wie eine Kuppel überdeckte. Er lässt unser Land für eure Augen unsichtbar werden. Nur leider ...!«, Zorn schwang bei ihren Worten mit, »muss der Wall alle hundert Jahre erneuert werden. Und dies kann nur ein Mensch.«

    Jonas stutzte: »Das scheint mir unlogisch. Warum sollte die Aufrechterhaltung des Walls ausgerechnet von euren Feinden abhängen?«

    Lusara knurrte: »Um den Kontakt zur Außenwelt nicht zu vergessen, vielleicht.« Sie wedelte wild mit den Händen in der Luft. »Keine Ahnung. Wenn du mich fragst, ist der Zauberer einfach verrückt.« Missmutig starrte sie in die Luft, bevor sich ihr Gesichtsausdruck schlagartig veränderte. Flehend sah sie Jonas an: »Würdest du uns helfen?«

    »War deshalb der Bärenmann hinter mir her? Er wollte dasselbe wie du?«

    »Nicht ganz ...« Lusara druckste herum. »Er wollte dich fangen und dich im Ganzen in den magischen Fluss werfen. Ich dagegen denke, es reicht, wenn wir dir ein wenig Blut abzapfen.«

    Im Ganzen? Werfen? Blut abzapfen? »Ich glaube, du spinnst wohl«, gab Jonas erbost zurück. »Ich brauche mein Blut noch. Sucht euch jemand anderen!« Er verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und wurde sich im gleichen Moment bewusst, wie kindisch diese Geste aussehen musste.

    Der Ruf eines Hornes scheuchte die Vögel im Tal auf.

    Ohne davon Notiz zu nehmen, erklärte Lusara: »Ich verstehe ja, dass du verärgert bist, aber ... aber ... du bist der Einzige, der unser Tal retten kann. Du bist der Einzige, der unser Sternkraut gefunden und auch gegessen hat. Dein ganzer Körper riecht danach. Ohne die Kraft des Sternkrauts im Blut wird die Magie nicht entfacht.« Flüsternd fügte sie hinzu: »Dann wird unser Tal untergehen.«

    Was sagte diese Frau da? Das Wohl des Tales lag in seinen Händen, vielmehr in seinem Blut? Das war doch verrückt! Was sollte er tun? Unschlüssig blickte Jonas in den Tunnel. Würde er ohne fremde Hilfe jemals den Ausweg finden und die Bergwiese, auf der Pankas, Natu und die Schafe warteten, wiedersehen? Er schaute zu der jungen Frau. Konnte er Lusara vertrauen? Hatte er überhaupt eine Wahl? »Ich werde euch helfen«, sagte er, »aber anschließend bringst du mich zu meiner Bergwiese zurück!«

    Lusara nickte und gemeinsam folgten sie einem etwa eine Elle breiten Vorsprung, der sich in einer sanften Steigung immer weiter den Berg hinauf schlängelte.

    Erschöpft und mit schmerzenden Muskeln erreichten sie eine Hochebene. Das ganze Volk der Basurer schien sich hier oben versammelt zu haben. Sie musterten die Neuankömmlinge neugierig. Den Bärenmann sah Jonas nicht.

    Lusara brachte ihn zu einem Podest, auf dem ein großgewachsener, schlanker Mann stand, dessen weiße Tunika ihn umwehte. Auf seiner Brust leuchtete ein goldener Nachtstern. Lusara stieg auf das Podest und umarmte den Mann. Dieser sprach laut und deutlich: »Lusara, meine Tochter, hat sich in die verbotene Zone gewagt und unter Einsatz ihres Lebens ein Menschenopfer gefunden.« Jubelrufe erklangen.

    Menschenopfer? Das Wort hämmerte in Jonas‘ Kopf, doch als Lusara ihm freundlich zulächelte, erinnerte er sich daran, dass sie ja nur ein wenig Blut brauchten ...

    Lusaras Vater hob die Hände. Die Basurer verstummten. »Somit ist unser Volk gerettet und der Klan des Nachtsternes wird für weitere einhundert Jahre die Basurer regieren!« Applaus brandete auf. Die Anwesenden johlten und jubelten. Lusara und ihr Vater sonnten sich in dem tosenden Beifall. Majestätisch lächelten sie der Menge zu.

    Jonas war nicht zum Jubeln zumute. So langsam begriff er, was vor sich ging. Es handelte sich nicht nur um die Rettungsaktion des Landes, sondern auch um Regierungsansprüche. Außerdem hatte der Bärenmann ihn gefunden und nicht Lusara. Jonas Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte nicht die Wahrheit gesagt. Was, wenn sie auch ihn angelogen hatte?

    »Bringt ihn zur Brücke!«, hörte er Lusaras Vater rufen. Vier Männer in lederner Rüstung traten auf Jonas zu, kreisten ihn ein. Zwei packten ihn an den Oberarmen.

    »Lusara!«, schrie Jonas verzweifelt und versuchte sich aus dem Griff der Wächter zu befreien. »Was soll das?« Als er den Blick der jungen Frau sah, gefror ihm das Blut in den Adern. Sie grinste ihn hinterhältig von unten herauf an. Gier und Hass in den Augen.

    Rasend vor Angst trat Jonas um sich und schrie seine Wut heraus. Vor der kleinen Gruppe teilte sich die Menschenmenge. Am Rande einer Schlucht blieben sie stehen. Die Brücke stellte sich als ein schmales Brett heraus, das etwa vier Schritte in den Canyon ragte.

    Zwei Wächter schoben den Schafhirten auf die Planke, die augenblicklich in Schwingungen geriet. Jonas ruderte mit den Armen, versuchte das Gleichgewicht zu halten.

    Ein Raunen ging durch die Menge.

    So leicht mache ich es euch nicht, dachte Jonas kämpferisch und stellte seine hektischen Bewegungen ein. Das Brett beruhigte sich. Wenn ihr wollt, dass ich dort hinunterfalle, müsst ihr mich schon stoßen.

    Er sah sich um, sah den strahlend schönen Himmel über sich, in etwa hundert Meter Tiefe den wild sprudelnden hellroten Fluss, der sich durch die Schlucht schlängelte. Eine Welle der Ruhe überkam ihn oder war es die Gewissheit, gleich sterben zu müssen? Der gegenüberliegende Canyonrand war zu weit entfernt für einen Sprung. Dicht hinter ihm standen die Wachen. Ein schabendes Geräusch verriet Jonas, dass einer der Männer ein Schwert zog. Es gab keinen Ausweg. Er würde nicht entkommen.

    Ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen rechten Unterarm. Ungläubig starrte Jonas das Blut an, das aus seiner Pulsader quoll. Dann stießen zwei starke Hände ihn in die Tiefe.

    Laut schreiend und mit Armen und Beinen rudernd fiel er bäuchlings dem Abgrund entgegen. Wind umwehte ihn und pfiff in seinen Ohren. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass sein Todesurteil schon gesprochen war, als der Bärenmann ihn gefangen genommen hatte. Und all das wegen eines Tees, dachte Jonas, schloss die Augen. Sekunden später schlug er auf.

    Doch kein Wasser schloss sich um ihn, keine Flüssigkeit drang in seinen Mund und in seine Lungen. Anstelle des Rauschens des Flusses drangen entsetzte Schreie und Rufe der Basurer an sein Ohr.

    Als Jonas die Augen öffnete, sah er, dass er sich auf dem Rücken eines gewaltigen Flugtieres befand. Es besaß keine Federn. Die Flügel bestanden aus einer ledrigen Haut, die auch den Körper überzog. Sie flogen in rasender Geschwindigkeit dicht über den Fluten durch die Schlucht.

    »Das war knapp!«, rief ein Mann, der vor Jonas saß, gegen den Wind an.

    »Aonaran!« Noch nie war Jonas so froh gewesen, den alten Einsiedler zu sehen. »Was machst du denn hier?«

    »Mein Land retten und dich.«

    Jonas robbte zu ihm und hielt sich am Mantel fest, dabei fiel sein Blick auf das Blut, das stetig aus der Wunde an seinem Arm tropfte.

    »Sieh!« Der Alte deutete auf den Fluss. Hinter ihnen färbte sich das Wasser blutrot. »Die Magie braucht kein Menschenopfer. Etwas Blut reicht!«

    »Woher weißt du das?«

    »Ich bin der oberste Magier der Basurer! Ich habe den Wall erfunden.« Er lachte und lenkte sein Flugtier in eine Höhle hinein. In halsbrecherischem Flug brausten sie durch Tunnel und Gänge, bis sie schließlich bei der Bergwiese ins Freie flogen. Sie landeten.

    »Vielen Dank, Aonaran!« Jonas rutschte vom Rücken des Flugtieres. Pankas und Natu sprangen auf den Hirtenjungen zu und begrüßten ihn freudig.

    Aonaran griff in die Innentasche seines Mantels und förderte ein Ledersäckchen zutage. »Streue etwas auf deine Wunden, dann werden sie in Sekundenschnelle heilen!« Unruhig tänzelte das Flugtier. »Für die nächsten hundert Jahre sind die Länder der Menschen und der Basurer voneinander getrennt und das haben sie dir zu verdanken. Auf Wiedersehen.« Lachend flog er davon.

    Jonas setzte sich auf seinen Schäfermantel, versorgte seine Wunde und sah der Sonne zu, die hinter den Bergen verschwand.

    »Ach du je, fast hätte ich etwas vergessen!«, rief er, kramte den Beutel mit den getrockneten Sternminzblättern aus seinem Proviant und warf ihn in die Mitte des Feuers. Jonas hatte ein für alle Mal genug von diesem Tee.

    Über Anne Schmitz

    Hallo zusammen,

    mein Name ist Anne Schmitz. Ich schreibe nun seit etwas mehr als zwei Jahren. Zuvor habe ich meinen Kindern unzählige fantastische Geschichten erzählt. Die Kinder wurden älter und die Geschichten ausgefeilter. 2015 entschloss ich mich eine Fantasy-Geschichte für Kinder aufzuschreiben. So entstand »Keylam: Die Ankunft« gefolgt von »Keylam und der Stachel des Bösen«. Beide habe ich 2016 als E-Book veröffentlicht. Dieses Jahr kam der dritte und letzte Teil »Keylam und der goldene Kristall« (E-Book) sowie ein Taschenbuch, in dem alle drei Einzelbände enthalten sind, hinzu.

    Außerdem habe ich Kurzgeschichten für mich entdeckt. Hier kann ich mich in den unterschiedlichsten Genres ausprobieren und Neues versuchen. (Eine Geschichte von mir ist in der Halloween Anthologie des Kelebek Verlages erschienen)

    Zum Abschluss noch ein Ausblick auf das Jahr: Neben weiteren Kurzgeschichten werde mich an meinen ersten Fantasy-Jugendroman wagen. Ich bin schon ein wenig aufgeregt und freue ich auf die Herausforderung.

    www.anne-schmitz.com

    www.facebook.com/anneschmitz2016

    Die rogodanischen Schriften: Alte Traditionen

    von Tim J. Radde

    König Melacho Hattovan I. saß unruhig auf seinem Thron. Sein royales Hinterteil hatte sich noch nicht an das neue Sitzkissen gewöhnt, das den Herrschersessel nun zierte. Immer wieder verlagerte er sein Gewicht von der einen auf die andere Seite. Unzufrieden brach er seine Versuche, eine bequeme Position zu finden, ab und konzentrierte sich auf den Boten, der vor ihn getreten war.

    »Du hast etwas gesagt?«, fragte er den Mann. Der Bote, der einen abgehalfterten und dreckigen Eindruck machte, zuckte zusammen, als der König das Wort an ihn richtete.

    »Ja, Herr.« Ein Räuspern aus der Ecke der Senatoren ertönte, erneut erschrak der Bote. »Ja, Hoheit. Ich stamme aus der Eisernen Region, aus Alotek, Majestät. Ich war dort bis vor kurzem Stallmeister unter ...«

    »Unter der Familie Fingrabor, ja, ich bin mit der Linie der ehemaligen Mächtigen vertraut. Und? Was willst du nun hier?«

    Der Mann in der zerrissenen Kleidung sah Melacho fragend an. »Majestät? Ich habe doch gerade vorgetragen, was sich ereignet hat?«

    Nun war es am König, verdutzt dreinzublicken. Sein Ärger über den Thron hatte dazu geführt, dass er den Vortrag des Boten offenbar verpasst hatte. Er vernahm das Tuscheln der Senatoren zu seiner Linken. Melacho musste den Vorfall herunterspielen, um sein Gesicht zu wahren. Der Herrscher der bekannten Welt spielte mit seinen dunklen Locken, zwirbelte eine besonders dicke Strähne um seinen Finger.

    »Dann befiehlt dir dein König eben, es noch einmal zu wiederholen!«

    Sein Ton war laut und durchdringend, sodass die leisen Gespräche der Politiker verstummten. Der Bote nahm sofort Haltung an.

    »Es trug sich während eines Ausritts zu. Ich sollte die Familie und ihr Gefolge begleiten, um mich während des Rastens den Tieren zu widmen. Selbst der alte Wyndos begleitete uns, was seltsam war, denn ich hatte ihn davor schon lange Zeit nicht mehr außerhalb der Burgmauern gesehen.«

    Der König hob die Hand, um für einen Moment nachdenken zu können. Wyndos Fingrabor war in einem Alter mit seinem Großvater, dem verstorbenen König Keran I.. Wyndos war einer der wenigen Ältesten der alten Herrscherfamilien, der seinen Zweitnamen nicht abgelegt hatte. Eigentlich war es nur dem Königshaus, sowie dem Geschlecht der Rogodans, erlaubt, den Namen ihres Familiengründers zu tragen. Doch die ehemals Mächtigen des Landes taten sich nach wie vor schwer damit, all den Zugeständnissen nachzukommen, die ihre Vorfahren gegeben hatten. Damals, als Hattovan sie besiegt hatte.

    Melacho senkte den Arm. »Fahre fort.«

    »Natürlich, Eure Hoheit«, sagte der Mann und nickte untertänig. »Unser Weg führte uns östlich zu einem Landsitz. Es war weit und breit das einzige Anwesen. Das Haus befindet sich auf einer Anhöhe, sodass die Bewohner jeden Winkel einsehen können. Mehrere der Begleiter und ich sollten davor warten, deshalb weiß ich nicht, wer der Gastgeber der Familie war, oder was dort genau beredet wurde.«

    »Weshalb bist du dann hier, wenn du mir keine Neuigkeiten bringen kannst?«, wollte Melacho erzürnt von dem Boten wissen. Er hasste es, wenn jemand seine Zeit verschwendete. Doch dieses Mal zuckte der Bote nicht zusammen,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1