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Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder
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Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder
eBook403 Seiten5 Stunden

Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder

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Über dieses E-Book

Es ist Liebe auf den ersten Blick, als Julia Meinert auf dem alten Bauernhof nahe Dülmen eintrifft.
Fasziniert von der Geschichte des alten Guts in Limbergen stöbert Julia immer tiefer in der düsteren Vergangenheit. Seit dem 18. Jahrhundert häufen sich hier mysteriöse Todesfälle.
Bei ihren Nachforschungen stößt Julia auf eine uralte Legende: 1690 soll ein todbringendes Wesen ein Kind nach dem anderen zu sich geholt haben. Gibt es etwa einen Zusammenhang zwischen den tragischen Ereignissen und der Sage?
Als sich im Leben der Meinerts plötzlich ungewöhnliche Vorfälle häufen, scheinen die Grenzen zwischen Legende und Realität zu verblassen …


Legende wird zu Bedrohung; Aberglaube wird zu Angst.
Ein fesselnder Thriller, der den Leser mit der Mystik historischer Sagen rund um das Münsterland in seinen Bann zieht.
SpracheDeutsch
Herausgeberacabus Verlag
Erscheinungsdatum1. Juli 2015
ISBN9783862823512
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    Buchvorschau

    Herbstlilie. Limbergens vergessene Kinder - Danise Juno

    1

    Limbergen, 2010

    Der Hof war das Schönste, das ich je gesehen hatte, abgesehen natürlich von meinem Mann und meinen beiden Kindern. Sagen wir, er war einfach der schönste Bauernhof aller Zeiten.

    Wochenlang suchten wir nun schon nach einem Haus im Münsterland. Frank hatte keine Mühen gescheut und mich von einer Besichtigung zur nächsten geschleppt, aber es war nie das Richtige dabei. Doppelhaushälften gab es hier fast im Überfluss. Ich hatte nichts gegen die typischen Klinkerfassaden, aber sie waren mir zu neu und unpersönlich. Ich suchte nach Flair, einem Juwel, das man noch schleifen konnte.

    Während wir durch die Räume des Wohntrakts geführt wurden, brach ich in wahre Begeisterungsstürme aus. Das schien den Makler zu amüsieren, denn er beobachtete mich bei jeder neuen Entdeckung und grinste fast schon unverschämt.

    Auch Frank konnte mich nicht auf den Boden der Tatsachen zurückbringen, als er mir verschiedene marode Stellen des Gebäudes zeigte. Ich hatte kein Auge für die teilweise gerissenen Türen, für die verrosteten Wasserleitungen und die hoffnungslos veraltete Nachtspeicherheizung.

    Mein Blick wurde von dem uralten, ausladenden Kamin in der Eingangshalle gefesselt. An dessen Rückwand hing eine rußgeschwärzte Eisenplatte mit einem kaum erkennbaren Motiv und man konnte ihn in geduckter Haltung sogar betreten.

    „Du weißt aber schon, dass der keinen besonders hohen Brennwert hat? Die warme Luft zieht geradewegs nach oben raus", versuchte Frank zu mir durchzudringen.

    „Aber sieht er nicht toll aus?", jubelte ich.

    „Ja, sicher", brummte er und schüttelte den Kopf.

    Ich glaubte, ein „typisch Frau" gehört zu haben, beschloss aber, diese Bemerkung geflissentlich zu ignorieren.

    Die überdimensionale Esse in der Wohnküche war für mich Romantik pur. Frank sagte nur, dass sie zu viel Platz wegnehmen würde, aber mir war das gleich.

    Ich liebte das Knarren der Holzdielen unter meinen Füßen vom ersten Augenblick an, auch wenn das laut Frank bedeutete, dass es keine Bodenplatte gab, die die Feuchtigkeit daran hätte hindern können, die Wände hoch zu ziehen.

    Dieser alte Bauernhof war in meinen Augen perfekt. Hier würden Leon und Kathi aufwachsen und echte Landkinder werden, mit allem was dazu gehörte. Verdreckte Klamotten, mit Tieren spielen und Spaß haben.

    Ich glaube, Frank ergab sich einfach in sein Schicksal, denn es dauerte nicht lange und auch er musste lächeln. Kopfschüttelnd sagte er: „Da zeige ich dir die tollsten Häuser, modern und lichtdurchflutet; du findest den einzigen zum Verkauf stehenden Kotten der gesamten Gegend und bist hin und weg. Er schnaubte. „Du bist verrückt, weißt du das?

    Ich lachte und knuffte ihn spielerisch in die Seite. „Schau doch her. Ist das nicht wundervoll?" Ich ging drei Stufen hinauf auf ein kleines Podest, dann folgten weitere drei, die zu einem oberhalb der Küche gelegenen Zimmer führten. Ich wies auf eine Holztür mit Porzellangriff. Der Lichtausschnitt war von Sprossen unterteilt, in jedem Abschnitt eine unebene, trübe Glasscheibe mit Gravuren. Es fehlte zwar ein Glas und ein anderes war gesprungen, aber dennoch war das Motiv noch deutlich zu erkennen. Es war ein feines Ornament, das Weizenähren andeutete und in seiner Gesamtheit einen Kranz aus Feldfrüchten darstellte.

    „Das ist eine Upkammer, meldete sich der Makler zu Wort, der uns gefolgt war. „Die sind typisch für die alten Höfe in dieser Region.

    Frank drückte die Tür nach innen auf und sie schrappte unbarmherzig über die Holzdielen. Dann wies er auf die notdürftig reparierte Zarge. „Noch eine Baustelle", bemerkte er trocken und verdrehte die Augen. Sein verhaltenes Lachen klang wie das Schnaufen einer Lokomotive.

    Ich kicherte. „Klar, aber sie ist wundervoll. Irgendjemand hat sie vor langer Zeit in Auftrag gegeben, vielleicht sogar selbst mit viel Liebe gebaut und seine Frau hat dann bestimmt genauso staunend davor gestanden wie ich. Ich schlang einen Arm um seine Hüfte, sah zu ihm auf und hauchte: „Ich liebe diesen Hof schon jetzt, genau so wie er ist. Was glaubst du, wie der erst aussieht, wenn wir mit ihm fertig sind. Es wäre doch nicht das erste Mal, dass wir ein Haus sanieren und ich finde er ist es wert gerettet zu werden. Meinst du nicht?

    Er schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. „Herr, bewahre mich vor dieser Frau. Du würdest doch jede abbruchreife Hütte vor dem endgültigen Verfall retten, wenn du könntest."

    Ich biss auf meiner Unterlippe herum und musste ihm insgeheim Recht geben. Mich interessierte von jeher alles was alt war. Ich liebte es mir vorzustellen, wie sich Generationen von Menschen an diesen Dingen erfreut hatten und welche Erlebnisse sie damit verbanden. Auch wenn sie längst nicht mehr lebten, hatte ich immer das Gefühl, als würden sie einen Teil von sich zurücklassen. Davon abgesehen, war dieser Hof etwas ganz Besonderes.

    Meine Vorliebe schien auch der Makler bemerkt zu haben, denn er fragte mich unvermittelt: „Sie mögen alte Dinge?"

    „Oh ja, sehr." Ich nickte eifrig.

    Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte für einen Sekundenbruchteil über seine Lippen. Dann sagte er: „Wenn das so ist, hat dieser Hof nur auf sie gewartet. Soweit ich weiß, ist er einer der Ältesten in dieser Gegend, wenn nicht sogar der Älteste."

    „Aber sie wollen mir jetzt nicht durch die Hintertür erzählen, dass er unter Denkmalschutz steht?", fragte Frank misstrauisch.

    Der Makler schüttelte den Kopf. „Nein. Dazu soll es hier schon zu viele Umbauten gegeben haben. Die Originalpläne sind auch nicht mehr vorhanden. Mit einem Zwinkern wandte er sich wieder an mich. „Aber es gibt einige Sagen in der Gegend und manche meinen, sie hätten mit diesem Hof zu tun.

    „Wow, hast du das gehört?"

    „Nett", sagte Frank nur.

    Ich lachte. „Ach komm schon. Ich finde das einfach spannend. Der Hof ist klasse. Genau so was habe ich gesucht." Entschlossen packte ich Frank am Jackenärmel, zog ihn hinter mir her die Stufen hinunter, durch Küche und Kamindiele hinaus ins Freie.

    Wir gingen durch den weitläufigen Vorgarten, an einem uralten Backsteinbrunnen vorbei und standen schließlich auf dem schmalen Wirtschaftsweg, der über die ganze Längsseite am Hof vorbei führte. Ich wies mit einer großzügigen Armbewegung über die Szenerie, als wäre ich eine Bühnenartistin, die kurz davor war sich zu verbeugen.

    Frank ließ seinen Blick über das Gebäude gleiten und ich hoffte inständig, dass er dasselbe sah wie ich.

    Vor uns lag der Wohntrakt in voller Länge, gespickt mit einer Reihe Fenster, die von grünen Blendläden flankiert waren. Die Haustür stammte schon aus den achtziger Jahren, aber es war sicherlich kein Problem eine Haustür aufzutreiben, die mehr Charme ausstrahlte. Der Schweinestall stand rechtwinklig zum Wohntrakt, uns zugewandt, so dass eine L-Form entstand. Auch in ihm befanden sich einige Fenster und in einigem Abstand eine altersschwache, grün gestrichene Pforte, die in das Holzlager führte. Der ganze Bau bestand aus echten Backsteinen. Zur Linken des Wohntraktes stand eine mächtige Eiche, die ihre schweren Äste über das Dach streckte, als wolle sie den Hof beschützen. Die hoch am Himmel stehende Sonne schickte ihre Strahlen durch das dichte Herbstlaub herab, so dass es aussah, als hätte ein Künstler die ganze Szene in Gold- und Rottöne getaucht.

    „Da fehlen ein paar Dachziegel", sagte Frank trocken.

    Diesmal war es an mir, die Augen zu verdrehen und er lachte. Abwehrend hob er die Hände, als wollte er sich ergeben und sagte: „Ich weiß, was du meinst. Man kann tatsächlich was draus machen. Allerdings wird das auch nicht billig."

    Ich seufzte. Das war ein Argument, dem ich nicht viel entgegenzusetzen hatte. Es gab nur eine Möglichkeit. „Meinst du, wir können ihn vielleicht nach und nach herrichten?"

    Er hob eine Braue und sah mich fragend an.

    „Na, ich meine, wenn wir zuerst einziehen und dann einen Raum nach dem anderen renovieren. So könnten wir doch die Kosten ein wenig aufteilen."

    „Das würde schon gehen, aber …"

    Es folgte eine Litanei von langweiligen Details über Arbeiten, die sofort anstanden, aber ich hörte schon gar nicht mehr hin. Es war genau so, wie wenn er beim Autokauf über Extras, PS und Zylinder sprach, von denen ich keine Ahnung hatte. Mich interessierte nur ein klares ja oder nein, der Rest war für mich belangloses Beiwerk, das er genauso gut der maroden Mauer hätte erzählen können.

    Ich hing meinen ganz eigenen Gedanken nach und betrachtete die Fensterreihe. Ich sah die vagen Umrisse des Maklers, der an einem der Fenster in der Diele stand. Mir wurde unangenehm bewusst, dass ich ihn anstarrte und Frank rückte in meine Aufmerksamkeit zurück, als er schloss: „… meinetwegen können wir ja mal um den Preis verhandeln, wenn der Hof dir so gut gefällt."

    Im selben Moment quietschte die kleine Pforte in den Angeln und schwang auf. Ich wandte den Kopf und der Makler trat heraus. Irritiert sah ich zurück zum Fenster. Der Umriss war verschwunden.

    Ich musste Frank völlig entgeistert angesehen haben, denn er legte den Kopf schief und sagte: „Erde an Julia – bist du noch da? Das war mein Ernst."

    Erst da begriff ich, dass er bereit war, meinen Traum wahr werden zu lassen. „Wirklich?"

    Er lachte. „Ja, sonst hätte ich es nicht gesagt. Aber das wird ein schönes Stück Arbeit. Das ist dir klar?"

    Ich jauchzte vor Freude und fiel ihm um den Hals. „Das macht gar nichts. Das wird absolut klasse, rief ich begeistert aus. Dann wandte ich mich dem Makler zu und sagte: „Sie hatten es aber eilig. Haben sie einen Geheimgang benutzt, dass sie so schnell hier sein konnten?

    Er sah mich an, als wüsste er nicht was ich meinte, dann grinste er und sagte nur: „Es ist mein Job zu wissen, wann es an der Zeit ist, beim Kunden zu sein."

    2

    Es dauerte zwei quälende Monate bis wir endlich in unseren Hof einziehen konnten. Zwischenzeitlich lenkte sich meine grüne Ente fast selbstständig in die Bauernschaft, voll gepackt mit beiden Kindern auf der Rückbank. Und das nur, damit ich einen sehnsuchtsvollen Blick auf unseren Hof werfen konnte. Voller Enthusiasmus schwärmte ich Leon und Kathi vor, wie toll es dort werden würde.

    „Das ist unser Bauernhof. Ist der nicht klasse? Bald werden wir da einziehen."

    „Wann denn, Mama?, fragte Leon und Kathi brabbelte: „Eizih, eizih.

    Meist zuckte ich dann nur mit den Schultern und sagte bedauernd: „Bald, mein Schatz, bald", weil ich es schlichtweg noch nicht wusste. Der Notar ließ sich Zeit und ich erinnerte mich dunkel an noch durchzuführende Sanierungsarbeiten, die Frank erwähnt hatte.

    Doch auch diese Zeit ging vorbei und es kam der Tag, an dem wir mit Sack und Pack, den Kindern, Hund und Kater im Schlepptau, unser neues Domizil eroberten.

    Es regnete in Strömen, doch die geräumige Tenne verschluckte den gesamten LKW und wir konnten die Möbel trockenen Fußes durch die Küche in den Wohntrakt schleppen. Gottlob hatten wir genügend Hilfe, sodass wir am Abend dankbar auf unsere frisch aufgebauten Betten sinken konnten.

    Die nächsten Tage verbrachten wir damit uns einzurichten. Es gab ein paar Möbelstücke bei denen wir noch nicht schlüssig waren, ob wir sie behalten sollten und ich schlug vor, sie vorerst in der Upkammer unterzubringen.

    Frank schnappte sich ein Nachtschränkchen, lief die Stufen hinauf und öffnete die immer noch schleifende Tür. Er blieb wie angewurzelt stehen.

    „Was ist los?"

    Er drehte sich zu mir um und fragte: „Warst du eigentlich seit der Besichtigung noch mal hier drin?"

    „Nein, wieso?"

    Er schnaubte. „Weil uns der Ex-Eigentümer noch mehr Arbeit dagelassen hat", stellte er fest und wirkte sauer. Dann trat er einen Schritt zur Seite, damit auch ich hinein spähen konnte.

    Nur mühsam konnte ich ein Jauchzen unterdrücken und Frank sah mich warnend an. „Das kommt alles auf den Sperrmüll, ist das klar?"

    Ich musste nicht in einen Spiegel sehen, um zu wissen, dass meine Augen vor Begeisterung leuchteten. Die komplette Kammer war vollgestopft mit alten Möbeln und Gerümpel. Es war wie Weihnachten.

    „Nein", mahnte er noch einmal deutlich.

    Ich konnte mir das Grinsen nicht mehr verkneifen. „Sicher, Schatz – alles auf den Sperrmüll. Klar."

    Verzweifelt schlug er sich die Hand vor die Augen und brummte wehleidig.

    „Was habt ihr?", rief Leon aus der Küche und sprang zu uns die Treppe herauf.

    „Nichts Schlimmes, sagte ich. „Wir haben nur ein paar alte Möbel entdeckt.

    „Cool", sagte er und drängte sich an uns vorbei.

    Frank schnappte ihn am Kragen und zog ihn zurück. „Das ist überhaupt nicht cool und du musst da jetzt nicht drin rumklettern. Er sah mich an und verzog die Mundwinkel. „Das Meiste kommt auf den Sperrmüll, wenn deine Mutter fertig sortiert hat.

    „Danke, flötete ich und an Leon gewandt fragte ich: „Was macht Kathi?

    „Die spielt in meinem Zimmer", antwortete er prompt.

    „Kümmerst du dich noch ein bisschen um sie?"

    Leon murrte verhalten.

    „Das wäre wirklich lieb von dir", verlieh ich meiner Bitte Nachdruck.

    Er zog eine Schnute. „Aber ich wollte doch fragen, ob ich Nintendo spielen darf", jammerte er.

    „Kannst du ja, sagte Frank beschwichtigend. „Setz dich doch zu ihr auf den Boden, dann ist sie schon zufrieden.

    „Na gut", sagte er schließlich und verschwand in die Küche, indem er die letzten drei Stufen auf einmal hinunter sprang.

    Frank stellte das Nachtschränkchen ab und ließ mich mit dem Trödel allein.

    „Aber bitte, sagte er über die Schulter „Nur was unbedingt sein muss, ok?

    Damit war ich mehr als einverstanden. Voller Vorfreude ließ ich meinen Blick über den kaum zwei Meter hohen Raum schweifen, der bis zur Decke gefüllt war. Es hatte den Anschein, als habe jede Person, die einst hier gelebt hatte irgendwelche Dinge in dieser Kammer eingelagert, als wäre ein Berg an Möbeln und Gerümpel über die Jahre hinweg stetig bis zur Tür gewachsen.

    Ich beschäftigte mich zuerst mit einem antiken Küchenschrank. Die Schubladen waren vollgestopft mit alten Zeitungen aus dem Jahr 2001. Der letzte Bewohner des Bauernhofes war wohl zu faul gewesen, sie zu entsorgen. Der Schrank selbst war ein schönes Stück Handwerkskunst. Er war aus Apfelholz gefertigt und die wenigen Schnitzereien sahen nett aus. Die Butzenscheiben der oberen Vitrinentüren waren zwar schon teilweise gesprungen und eine fehlte ganz, aber es würde nur wenig Mühe kosten, ihn herzurichten. Er war eindeutig rettungswürdig.

    Ich nahm mir Franks Mahnung zu Herzen und sortierte ein paar klapprige Holzstühle aus, die nur noch mit gutem Willen zusammengehalten wurden. Danach widmete ich mich einigen Kisten mit gesprungenem Porzellan, einem fleckigen Sessel aus den siebziger Jahren und diversen anderen Stücken, die selbst ich nicht mehr retten wollte. Mein Blick fiel auf einen ebenholzfarbenen Stuhl. Die vorderen Beine endeten in einer Schnitzerei, die Löwenpfoten nachempfunden war. Die Armstützen mündeten in einer Art Schnecke und die geschwungene Lehne rundete den edlen Eindruck ab. Das Polster war arg zerschlissen und verlangte nach einer Überarbeitung, aber dies war ein Möbel nach meinem Geschmack. Ich hoffte noch mehr solcher Stühle zu finden und tatsächlich standen unweit vom ersten entfernt noch weitere drei. In Gedanken platzierte ich sie bereits in der Kamindiele. Es fehlte nur noch ein Tisch, den ich zu meinem Bedauern nirgendwo entdecken konnte, aber ich tröstete mich damit, dass ich mit der Kammer noch lange nicht durch war.

    Stetig arbeitete ich mich voran, bis ich hinter einem Sack mit verschimmelten Federbetten eine gigantische Holztruhe mit gewölbtem Deckel und Eisenbeschlägen fand. Sie reichte mir bis zur Hüfte und wenn Leon wollte, würde er mit ausgestreckten Beinen darin liegen können. Ich fuhr mit der flachen Hand über das Holz und prompt haftete eine dicke, graue Staubschicht an meinen Fingern. Ganz undamenhaft wischte ich sie an meiner Jeans ab und versuchte den schweren Deckel anzuheben, doch er rührte sich keinen Millimeter. Entweder war er für mich zu schwer oder die Truhe war abgeschlossen.

    „Frank! Schau mal, was ich gefunden habe!"

    „Lass mich raten, rief er aus der Küche. „Möbel?, witzelte er und bahnte sich einen Weg zu mir.

    „Wow, das ist wirklich ein schönes Stück."

    „Finde ich auch, aber sie geht nicht auf."

    „Lass mal sehen. Auch er scheiterte, ging in die Hocke und musterte das schmiedeeiserne Schloss. „Soll ich sie aufbrechen?

    Entsetzt schüttelte ich den Kopf. „Bloß nicht."

    „Dann wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben, als einen Spezialisten zu holen. Wir können sie in die Halle stellen, wenn der Boden fertig ist. Da sieht sie bestimmt ganz gut aus. Er rümpfte die Nase. „Aber erst musst du sie mal abwischen. Die Truhe müffelt.

    Ich schnalzte mit der Zunge. „Klar mach ich sie sauber. Wofür hältst du mich?"

    Er sah auf meine Jeans und seine Mundwinkel zuckten amüsiert.

    Abwehrend hob ich die Hände. „Sag nichts. Ich arbeite."

    „Schon klar, nur warum hast du dazu immer deine neuesten Klamotten an?"

    Seufzend gestand ich, dass ich vergessen hatte mich umzuziehen. „Aber jetzt ist es eh zu spät. Ich bin schon dreckig."

    Er richtete sich auf und feixte. „Was du nicht sagst. Dann sah er sich in der Kammer um. „Da hast du noch einiges zu tun. Brauchst du mich noch?

    „Nein, schon gut. Ich mache gleich Schluss. Sollen wir zusammen etwas Schönes kochen?"

    Frank nickte und verließ mich mit den Worten: „Ich sehe nach, was der Kühlschrank hergibt. Viel kann es nicht sein, aber ich finde schon was."

    Ich räumte noch ein wenig auf, stapelte Sperrmüllkandidaten nach vorne und stellte andere Dinge, inklusive unserer Nachtschränkchen, nach hinten, aber kaum eine halbe Stunde später folgte ich ihm. Es war spät geworden und nachdem wir gemeinsam gegessen hatten, brachte ich die Kinder ins Bett, während Frank den Hund ausführte.

    Die Arbeit forderte ihren Tribut und die Müdigkeit trieb auch uns bald in die Kissen.

    Ich schlief unruhig. Der Wind heulte um den Hof und rüttelte an den Fensterläden. Im Babyfon rauschte es und als Kathi anfing zu wimmern war ich wach. Leise schlüpfte ich in meine Hausschuhe und angelte nach meiner Strickjacke. Während ich das Schlafzimmer verließ, zog ich sie über die Schultern.

    Das alte Gemäuer ächzte wie ein großes Tier. Überall knackte es im Gebälk und der Dielenboden knarrte unter meinen Füßen. Draußen schlug etwas rhythmisch gegen die Mauer und ich vermutete, dass sich die Pforte aus ihrem Schloss gelöst hatte.

    Ich wanderte durch die Kamindiele, an deren Ende Kathis Zimmer angrenzte. Der Vollmond schien durch die zahlreichen Fenster herein und fast hätte man glauben können, es sei helllichter Tag.

    Unter all die Geräusche mischte sich etwas Unbekanntes. Sicher war mir der Hof noch nicht so vertraut, doch dieses Geräusch bescherte mir augenblicklich eine Gänsehaut. Es war eine Art ruckartiges Schleifen, so als würde jemand etwas Schweres hinter sich herziehen.

    Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich lauschte an Kathis Zimmertür, doch darin regte sich nichts. Ich durchquerte die Halle, schlich auf leisen Sohlen in die Küche und spitzte die Ohren.

    Der Kühlschrank brummte leise, darüber tickte die Uhr, sonst hörte ich nichts. Hatte ich es mir im Halbschlaf eingebildet? Träumte ich womöglich noch?

    Ich öffnete den Kühlschrank, nahm eine Tüte Milch heraus und drehte den Verschluss auf. Ich wollte sie gerade auf die Ablage stellen, als ich wieder dieses Wimmern hörte. Es schwoll an zu einem lauten Weinen, als ob ein Baby schreien würde.

    Plötzlich zerschellte ein Blumentopf auf dem Küchenboden. Ich stieß einen erschreckten Schrei aus und ließ die Milch fallen. Ihr Inhalt ergoss sich auf die Fliesen. Ich wollte fluchtartig die Küche verlassen, als ein Schatten vom Sims sprang und wie ein geölter Blitz in die Halle raste.

    Ich legte meine Hand aufs Dekolletee und schloss für einen Augenblick die Augen, um mich zu sammeln. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich fuhr herum.

    „Julia? Was machst du? Ist alles in Ordnung?" Frank stand neben mir. Er sah besorgt aus.

    Ich atmete tief ein, bevor ich antwortete. „Ich dachte Kathi wäre wach und dann war da ein Geräusch", stammelte ich.

    „Was für ein Geräusch?", hakte er nach.

    „Ich weiß nicht."

    „Und warum hast du geschrien? Ist wirklich alles ok mit dir?"

    Mein Blick fiel auf den zerschellten Blumentopf, der vom Mondlicht angestrahlt wurde, als habe man einen Spot auf ihn gerichtet. „Ja, sagte ich und verzog den Mund zu einem Lächeln, obwohl mir nicht danach war. Zu stark waren die Eindrücke der letzten Minuten gewesen. „Vertigo hat mich erschreckt. Er hat bestimmt einen Artgenossen angekeift. Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als er den Topf runtergeschmissen hat. So schnell wie er aus der Küche geschossen ist, ging es ihm wahrscheinlich ähnlich.

    Frank sah mich forschend an.

    „Schon gut, ich bin ok."

    Er rieb mir liebevoll den Arm. „Na komm, trink einen Schluck und dann gehen wir wieder schlafen." Er hob die halbvolle Tüte Milch auf, schenkte mir ein Glas ein und gab es mir. Während ich trank, holte er einen Lappen aus dem Spülbecken, wischte die Milchlache auf und legte ihn unausgewaschen ins Becken. Normalerweise ärgerte mich so etwas immer, weil der Lappen am nächsten Tag stinken würde, doch ich war zu aufgewühlt, als dass es mich kümmerte. Ich trank mit einem letzten Schluck das Glas leer und stellte es einfach daneben.

    Er reichte mir die Hand und wir gingen zurück ins Schlafzimmer. Ich sehnte mich nach unserem warmen Bett mit ihm an meiner Seite. Als ich mich zugedeckt hatte, schloss ich meine Augen und lauschte in die Dunkelheit hinein. Das schleifende Geräusch kam nicht wieder, dennoch brauchte ich lange, bis ich an Frank gekuschelt endlich zurück in den Schlaf fand.

    3

    Vor uns lag eine Zeit, in der die Arbeiten an unserem Hof nur noch langsam voranschreiten würden. Der Urlaub neigte sich dem Ende. Leon musste wieder zur Schule und auch Frank wurde in der Firma schon schmerzlich vermisst. Kathi war noch zu klein für den Kindergarten und daher erwarteten sie keine lästigen Pflichten.

    Nichtsdestotrotz begingen wir unser vorerst letztes freies Wochenende mit Müßiggang. Wir schliefen aus, frühstückten ausgiebig und da das Wetter es zuließ, unternahmen wir ausgedehnte Spaziergänge durch die weiten Felder. Die Kinder entdeckten immer wieder neues Getier, spielten im Herbstlaub und Boomer sprang aufgeregt kläffend um sie herum.

    Ich hörte keine merkwürdigen Geräusche mehr und Frank hatte mich inzwischen davon überzeugt, dass es sich wahrscheinlich um einen Siebenschläfer gehandelt haben musste. Er richtete sich womöglich sein Winterquartier auf unserem Dachboden über der Küche ein.

    Ich war nahe dran nach diesem Viech zu suchen, gab es aber auf, als ich feststellte, dass man nur über eine wackelige Leiter im Holzschuppen auf den Dachboden hinaufklettern konnte. Der bloße Gedanke an eine solche Kraxelei jagte mir schon einen Schauer über den Rücken. Also ließ ich es bleiben.

    Am Abend des letzten freien Tages brachten wir die völlig verausgabten Kinder ins Bett und machten es uns vor dem Kamin gemütlich. Das Feuer prasselte leise vor sich hin und manchmal knackte einer der Scheite. Wohlige Wärme breitete sich im näheren Umkreis aus. Frank holte sich ein Buch, um zu lesen. Ich legte mir meine Wolldecke über die Knie und klappte den Laptop auf.

    „Hast du gesehen wie schön sauber die Kaminplatte ist?", fragte ich, als er sich auf den Sessel zu meiner Rechten fallen lies.

    „Ja, habe ich. Sieht gut aus. Womit hast du den Ruß denn weg bekommen?"

    „Mit scharfem Scheuermittel und einer Zahnbürste."

    „Hoffentlich nicht mit meiner", sagte er und grinste.

    „Deine Zähne sehen auch gut aus …" Um meine Mundwinkel zuckte es amüsiert.

    Er stutzte, dann lachte er.

    „Quatsch, natürlich mit einer alten, sagte ich immer noch lächelnd. „Ich war überrascht von dem schönen Motiv. Da hat sich jemand viel Mühe gegeben. Es stehen auch zwei Namen drauf und eine Jahreszahl.

    „Habe ich gesehen. Meinst du das waren die Leute, die den Hof gebaut haben?"

    „Laut dem Makler soll der Hof noch viel älter sein. Das passt nicht zur Jahreszahl. Angeblich soll er schon im dreißigjährigen Krieg existiert haben. Natürlich nicht in der Form wie heute. Fest steht nur, dass diese Menschen hier gelebt haben. Ich wollte jetzt ins Internet, um nach ihnen zu suchen. Vielleicht finde ich noch mehr über sie heraus."

    „Viel Erfolg", sagte er zweifelnd und schlug sein Buch auf.

    Ich runzelte die Stirn. „Das geht, sagte ich entrüstet. „Die Mormonen haben eine unglaubliche Datenbank online. Da findet man Abschriften von Millionen Kirchenbüchern.

    „Na dann mach mal."

    Er nahm mich nicht ernst und das war etwas, das ich leiden konnte, wie kalte Füße im Bett. Leicht verärgert öffnete ich die Datenbank und schickte meine Suchanfrage ab.

    Es war ein Leichtes, herauszufinden, zu welchem Kirchspiel die Bauernschaft Limbergen gehörte. Auch dass es verschiedene Schreibweisen des Landstrichs gab. In manchen Verzeichnissen hieß er Lymbergen in den älteren Linthberghe.

    Die zugehörigen Kirchenbücher standen fein säuberlich aufgelistet untereinander, aber leider ließ die Datenbank eine direkte Suche in den einzelnen Büchern nicht zu.

    Der Ergeiz packte mich. Ich surfte in weiteren Datenbanken um die passenden Batchnummern zu finden und musste mich dann entscheiden, welches Kirchenbuch am ehesten in Frage kam. Heirats-, Tauf- oder Sterberegister.

    Mir kam eine Heirat am wahrscheinlichsten vor. Der Hof sollte ja angeblich älter sein und da zwei Namen auf der Tafel standen, konnte das für die Gründung eines gemeinsamen Hausstandes stehen.

    Ich rief das Heiratsregister der Jahre 1718-1751 auf und tippte den Namen des Mannes in die Suchmaske ein. Unter Lüttke-Herzog fand die Datenbank keinen Eintrag.

    „Mist", sagte ich laut und Frank sah auf.

    „Klappt es nicht?"

    „Doch", brummte ich und dachte darüber nach, was ich sonst versuchen könnte. Den Triumph gönnte ich ihm nicht.

    Ich schloss die Augen und versuchte, mich in die Lage des Pfarrers zu versetzen.

    Der Pfarrer traut das Paar und fragt: „Wie heißt du mein Sohn?"

    „Lüttke-Herzog", antwortet der Mann.

    Der Geistliche setzt zum Schreiben an, zögert einen Augenblick und kritzelt dann in einer Mischung aus altdeutsch und Latein …

    Ich lächelte. Das war die Lösung. Es gab gleich zwei mögliche Ursachen, warum ich den Namen nicht finden konnte. Was, wenn der Pfarrer nicht wusste, wie man den Namen schrieb? Würde er, der gelehrte Mann, im Jahre 1734 den Bauern fragen, ob er es wusste?

    Ich gab mir selbst die Antwort. Natürlich nicht. Der Pfarrer schrieb den Namen willkürlich und veramtlichte ihn damit.

    Obendrein verwendete er in dieser Zeit eine Mischung aus altdeutsch und Pseudolatein. Latein so weit er es konnte und an der Stelle, an der ihn seine Bildung verließ oder es keinen lateinischen Begriff gab, setzte er ein -us hinten an. Ein anderer zog sich aus der Affäre, indem er unleserlich schrieb. Wie viele Menschen waren denn damals in der Lage zu prüfen, ob sein Latein auch korrekt war. Und selbst wenn es jemanden gegeben hätte, wer wagte das schon?

    Die zweite Ursache folgte auf dem Fuße. Die Mormonen schrieben die Kirchenbücher ab und übernahmen die Fehler des Pfarrers, oder konnten die Schrift nicht entziffern und waren gezwungen zu raten.

    Es brauchte noch eine ganze Weile, bis ich mich durch verschiedene Schreibvarianten gekämpft hatte. Doch dann fand ich den Eintrag, den ich erhofft hatte.

    „Ich habe sie gefunden", flötete ich.

    „Echt?" Frank klang erstaunt, was ich mit einer gewissen Genugtuung registrierte.

    „Hier steht, dass sie am 29. April 1733 geheiratet haben."

    „1733? Steht auf der Platte nicht 34?

    „Schon, aber das kann trotzdem passen. Sie haben definitiv 1733 geheiratet. Ich denke sie sind entweder erst ein Jahr später hier eingezogen oder die Platte wurde erst 34 fertig. Ich tippe auf Ersteres."

    „Kannst du das auch rausfinden?"

    „Erst nicht glauben, dass ich überhaupt was finde und jetzt soll ich schon Wunder vollbringen. Solche Informationen findet man nur durch wahnsinnig viel Glück, wenn überhaupt."

    „Ich hab ja nur gefragt, sagte er grinsend. „Ich hätte nicht gedacht, dass du bei deinen Mormonen überhaupt was findest.

    Ich verdrehte die Augen. „Das sind nicht meine Mormonen, ich bin evangelisch, falls du es vergessen hast. Sie führen die Datenbank aus Glaubensgründen und sind so freundlich, sie allen Menschen kostenlos zur Verfügung zu stellen."

    „Nette Menschen, diese Mormonen."

    Ich lachte. „Ja, das sind sie."

    Ich war inzwischen zu

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