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Original Mind - Anfängergeist und Bildung: Was wir aus der Entwicklung des kindlichen Gehirns lernen können
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Original Mind - Anfängergeist und Bildung: Was wir aus der Entwicklung des kindlichen Gehirns lernen können
eBook359 Seiten4 Stunden

Original Mind - Anfängergeist und Bildung: Was wir aus der Entwicklung des kindlichen Gehirns lernen können

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Über dieses E-Book

Wie verändert sich unser Bewusstsein von unserer Geburt bis zu unserem Erwachsenenalter? Wie unterscheidet sich die Wahrnehmung der Naturvölker von der des modernen gebildeten Menschen? Die Neurowissenschaftlerin und Sonderpädagogin Dee Joy Coulter zeigt anhand faszinierender wissenschaftlicher Erkenntnisse, welch enorme Schätze der individuelle und kollektive "Anfängergeist" birgt. Sie führt ihre Leser unterhaltsam und leicht verständlich zu einer neuen Sicht auf die Entwicklung des menschlichen Geistes und fächert gleichzeitig eine Fülle von Anregungen für die pädagogische Begleitung von Kindern und für die Erweiterung des Lern- und Wahrnehmungsvermögens von Erwachsenen auf.
SpracheDeutsch
HerausgeberKoha Verlag
Erscheinungsdatum1. Okt. 2014
ISBN9783867287401
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    Buchvorschau

    Original Mind - Anfängergeist und Bildung - Dee Joy Coulter

    1. ZURÜCK ZUM ANFÄNGERGEIST

    Ist euer Geist leer, so ist er für alles bereit,

    ist für alles offen.

    Der Anfängergeist hat viele Möglichkeiten,

    der des Experten nur wenige.

    Shunryu Suzuki

    Zen-Geist, Anfänger-Geist

    Unser Weg beginnt mit einer großen Herausforderung. Wir müssen alles, was wir wissen, beiseite stellen, um die Welt so unbefangen wie ein Neugeborenes zu erfahren. Wir neigen dazu zu sehen, was wir zu sehen erwarten. Wir machen eine Art Bestandsaufnahme, indem wir die Elemente in unserer Umgebung erkennen und im Stillen benennen. Unser Geist liebt Ordnung, und dieses Benennen schenkt uns eine gewisse Geborgenheit. Besonders kreative Denker sind jedoch fähig, auch das zu sehen, was sie nicht benennen können, mit einem frischen Blick, der auch Verwirrendes wahrnimmt und die Verblüffung genießt, die daraus entsteht. Diese Ungewissheit ist ein idealer Nährboden für neue Ideen. Solche Menschen haben den unbefangenen Blick eines Neugeborenen wieder gefunden.

    Wir können das auch lernen. Genauer gesagt ist es ein Prozess des Verlernens, bei dem wir müssen zunächst das Benennen der Dinge weglassen, um sie ohne das innere Geplapper wahrzunehmen. Dann gilt es, auch die Assoziationen abzulegen, die von der Wahrnehmung ausgelöst werden, um den reinen Sinneseindruck zurückzugewinnen, der allem Wissen vorausgeht.

    Diese reinen Sinneseindrücke können sich nur in Augenblicken zeigen, in denen wir der Welt ganz frisch und neu begegnen.

    Wir beginnen dieses Kapitel mit einer Begegnung mit einem praktizierenden Mönch. Dann werden wir schauen, was wir von Säuglingen und von ehemals Blinden lernen können, die nach einer Operation zum ersten Mal sehen. Wir werden das Kapitel mit Ideen, Geschichten und Übungen beschließen, die Ihnen helfen, selbst auf diese unglaublich wertvolle Weise frisch und neu die Welt zu sehen.

    ZHANGI ZHINGI

    1993 lehrte ich bereits seit zehn Jahren an der Naropa Universität in Boulder, Colorado. Diese buddhistisch inspirierte Universität wurde von Chögyam Trungpa Rinpoche gegründet, einem tibetischen Mönch, der eine Hauptrolle dabei spielte, den Buddhismus in den Westen zu bringen. Es begann sich ein Interesse für die Zusammenhänge zwischen buddhistischem Gedankengut und neurologischen Erkenntnissen zu entwickeln. Die in diesem Jahr zum sechsten Mal stattfindenden Mind and Life-Dialoge zwischen Wissenschaftlern, Mönchen und seiner Heiligkeit des Dalai Lama hatten einen jungen tibetischen Mönch für einen kurzen Besuch nach Boulder geführt. Er wollte etwas über den menschlichen Geist wissen, und da ich zu dieser Zeit den besten neurologischen Hintergrund hatte, wurde ich zu einem Gespräch mit ihm gebeten.

    Nach einer kurzen Begrüßung durch seinen Übersetzer wurde ich aufgefordert, mich neben ihn zu setzen, damit er mir seine Frage stellen konnte. Er sprach auf Tibetisch, wandte den Kopf ab und schaute dabei quer durch den leeren Raum auf ein imaginäres Objekt. »Ich schaue.« Er hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Ich sehe eine Blume. Erstes Mal. Was passiert?« Ich begann zu erklären, wie die Information von den Augen zum visuellen Cortex übertragen wird, doch als der Übersetzer meine Worte weitergab, wurde schnell deutlich, dass es ihm in seiner Frage nicht darum ging.

    Der Mönch unterbrach ihn, schüttelte den Kopf und versuchte es aufs Neue. »Ich schaue.« Pause. »Ich sehe eine Blume. Erstes Mal.« Er bewegte den Kopf wie zuvor, doch dieses Mal fuhr er fort, indem er den Kopf nochmal in derselben Weise bewegte und wiederholte: »Ich schaue« Pause. »Ich sehe eine Blume. Erstes Mal. Was passiert?« Ich war verblüfft! (Ich werde noch auf die verschiedenen Dinge eingehen, die mir in diesem Augenblick klar wurden, aber ich will zunächst die Geschichte fertig erzählen.)

    Er erklärte mir, dass, wenn er auf eine Blume schaut, sie zuerst nicht sieht, und sie erst dann Form annimmt. Er schien sich dessen bewusst zu sein, dass sein Geist aus den Lichtwellen, die von der Blume ausgehen, ein Signal bildet. In der Wissenschaft nennen wir das feature binding. (= Die Integration von Einzelmerkmalen eines wahrgenommenen Objekts zu einer kohärenten Gestalt.) Jeder von uns tut es, aber es passiert so schnell, dass uns in der Regel dieser Prozess überhaupt nicht bewusst ist. Ich dachte, er würde vielleicht wissen wollen, wie dieser Strukturierungsprozess erfolgt, also erklärte ich, wie das Gehirn diese Signale aus der allgemeinen neurologischen Reizflut herausfiltert. Die Zellen plappern sozusagen ständig vor sich hin, doch wenn sich eine Gruppe von ihnen in Reaktion auf einen bestimmten Reiz zusammenschließt, entsteht ein Signal, welches diesen »Hintergrundlärm« übertönt. Dieses Signal besteht aus kohärenten Informationen, es bildet ein bestimmtes Wellenmuster, welches sich von dem Geplapper abhebt. Dieses neurologische »Geplapper« bildet eine Art chaotischen Hintergrund, vor dem selbst das zarteste kohärente Signal deutlich herausragt.

    Diese Erklärung gefiel ihm offensichtlich. Er schaute mich aufmerksam an, während der Übersetzer ihm meine Worte vermittelte. Doch bei dem Wort chaotisch blieb der Übersetzer stecken. Es schien kein tibetisches Wort dafür zu geben. Dem Mönch war klar, dass dieses Wort von zentraler Bedeutung war. Nach einer Weile sagte er erfreut: »Ah, Zhangi Zhingi, Zhangi Zhingi.«

    »Ja«, antwortete ich, in dem festen Glauben, dass Worte mit so vielen Z bestimmt irgendwie das Chaos beschreiben. Damit war das Interview zu Ende. Man dankte mir und verabschiedete mich.

    Vier Jahre später saß ich bei einem Retreat der Naropa Fakultät neben Sarah Harding, einer hervorragenden Gelehrten und Kennerin der tibetischen Sprache, und erzählte ihr diese Geschichte. »Was bedeutet ›Zhangi, Zhingi‹?«, fragte ich sie.

    »Es bedeutet ›verfilztes Haar‹«, erklärte sie.

    Was für ein passendes Bild für Chaos! Und was für eine wunderbare Frage, die er gestellt hatte! An ihr wird deutlich, wie sehr sich sein durch jahrelange Meditation geschulter Geist von den Begrenzungen des westlichen Denkens unterscheidet, die ihm merkwürdig erschienen sein müssen. Der westlich konditionierte Geist lässt gewöhnlich nicht zu, dass sich Bilder auflösen. Er arbeitet hart daran, sich ein verständliches Weltbild aufzubauen, und hängt an dem Wissen und der Fachkenntnis, die er sich erworben hat. So werden die Bilder festgeschrieben, und eine Blume wird beim zweiten Blick automatisch als dieselbe Blume eingeordnet.

    Diese Geschichte wirft zwei wichtige Fragen auf. Wenn der Mönch zuerst keine Blume sieht, was sieht er dann, bevor das Bild der Blume auftaucht? Und zum Zweiten: Wie kann er das Bild der Blume auslöschen, um die Blume beim zweiten Mal wieder »zum ersten Mal« zu sehen? Merken Sie sich diese zwei Fragen bitte, während Sie weiterlesen. Sie gehören zu dem Muster, welches ich erkannte, als ich die Frage des Mönches verstanden hatte.

    Diese Geschichte beschreibt eine relative hohe geistige Kompetenz. Doch Sie können ganz einfach anfangen, diese Perspektive einzuüben. Unterbrechen Sie ein bis zwei Mal am Tag ihre gewohnten Aktivitäten und verändern Sie Ihren Fokus. Probieren Sie, einen Moment lang einfach das Licht, die Farben und die Bewegungen um sich herum wahrzunehmen, bevor die Stimme in Ihrem Kopf anfängt, das Gesehene zu benennen. Vielleicht denken Sie jetzt, Sie müssten dafür einen Spaziergang in der Natur machen, doch es geht genauso gut im Supermarkt, im Büro oder in Ihrer Wohnung. Diese isolierten Sinneseindrücke bieten sich überall an! Die folgenden Abschnitte werden Ihnen helfen, diese Fähigkeit zurückzugewinnen.

    SEHEN WIE EIN SÄUGLING

    Betrachte Dinge, wie es ein Säugling tut, ohne Vorwissen … lass diese Sicht in dich einsinken

    und erfahre sie ganz und gar,

    ohne zu verstehen.

    Murshid Fazal Inayat-Khan

    bedeutender Sufi-Lehrer, ehemaliger Leiter der internationalen Sufi-Bewegung

    Säuglinge sehen die Dinge nicht, wie wir sie kennen, sondern die Bewegungsspuren, die sie hinterlassen. Vor allem biologische Bewegungsspuren sind faszinierend für sie. Woher wir das wissen? Ein paar clevere Forscher haben folgendes geniale Experiment durchgeführt: Sie haben eine Person ganz in Schwarz gekleidet, ihr auch Gesicht und Hände geschwärzt und an den wichtigsten Gelenken – Ellenbogen, Handgelenke, Schultern, Hüften und so weiter – kleine LED-Leuchten befestigt. Dann haben sie gefilmt, wie sich diese Person vor einem schwarzen Hintergrund durch einen abgedunkelten Raum bewegt. Den Film, auf dem nur die Bewegungsspuren der Gelenke zu sehen waren, führten sie Säuglingen vor. Die Babys liebten es offenbar, diesen Film zu sehen, denn sie schauten lange Zeit unverwandt hin. Dann veränderten die Forscher den Film ein wenig, indem sie die Bewegungsspur eines Ellenbogenlichts so veränderten, dass sie unzusammenhängend vor- und zurücksprang. Die Babys waren von diesem Anblick offenkundig verstört und wandten schnell den Blick ab. Der veränderte Film brach mit dem natürlichen Fluss menschlicher Bewegungsspuren. Die Säuglinge konnten das offenbar wahrnehmen, obwohl auf den Bildern kein Mensch zu sehen war. Aus dem Hinschauen oder Abwenden des Blicks ziehen die Forscher Rückschlüsse darüber, was Säuglingen angenehm oder unangenehm ist.

    Auch die Reaktion eines Säuglings auf Schönheit hat vielleicht nicht mit dem zu tun, was wir auf einem Bild wahrnehmen. Forscher baten eine Gruppe von College-Studenten, aus je einhundert Fotos von Studentinnen und Studenten jeweils die zehn attraktivsten und die zehn unattraktivsten herauszusuchen. Dann zeigten sie diese Bilder nacheinander einer großen Anzahl von sechs Wochen alten Babys. Bei jenen, die von den Studenten als attraktiv eingestuft worden waren, schauten die Babys lange hin, und bei den unattraktiven wandten sie den Blick ab oder zeigten Anzeichen von Unbehagen. Porträtmaler sagen, der Unterschied zwischen einem als schön und einem als hässlich empfundenen Gesicht sei vor allem eine Frage der Proportionen. Wenn ein Aspekt nur ein wenig verändert wird, kann ein Gesicht plötzlich seine Schönheit verlieren, als ob es eine mathematische Formel oder eine Schablone für »schöne Gesichter« gäbe. Was sahen diese Kinder also? Babys lernen rasch, das Gesicht ihrer Mutter zu erkennen, doch sie brauchen Monate, um andere Gesichter so weit zu fokussieren, dass sie sie erkennen können. Die Kinder in dieser Studie waren dafür noch zu jung, sie haben also keine Gesichter in unserem Sinne gesehen. Ihre Reaktion scheint vielmehr von der Harmonie oder Disharmonie der Proportionen abzuhängen.

    Mit unserem bewussten Verstand können wir diese Bewegungsspuren nur noch schwer wahrnehmen. Woran das liegt? Als kleine Kinder waren wir von den Bewegungsspuren um uns herum fasziniert und verbrachten unsere gesamte wache Zeit damit, verschiedenen Kombinationen von Sinneswahrnehmungen nachzuspüren. Allmählich lernten wir, die Dinge hinter diesen Bewegungsspuren zu erkennen. Wir lernten, wie sie klingen, wie sie sich anfühlen, wie sie aussehen, vielleicht auch wie sie schmecken und riechen. Unser Gehirn hat ein neuronales Programm entwickelt, um Bewegungsspuren und Wellen in Dinge zu übersetzen. Wenn wir im Alter von etwa sechs Jahren in die Schule kommen, übersetzt das Gehirn diese Wellen bereits so schnell in Dinge, dass wir diese Vorstufe nicht mehr bemerken. Das stellt uns vor ein Rätsel. Wie können wir wissen, was unsere Augen sehen würden, wenn unser Gehirn kein derartiges Übersetzungsprogramm entwickelt hätte?

    Vielleicht können uns die Erfahrungen jener besonderen Menschen weiterhelfen, die erst als Jugendliche oder Erwachsene sehen lernten. Viele von ihnen haben davon berichtet, was ihre Augen wahrnahmen, als sie zum ersten Mal etwas sahen und versuchten, der Welt einen visuellen Sinn abzugewinnen. Sie beschreiben eine faszinierende Erfahrung.

    Wenn ihnen der Verband abgenommen wurde, sahen sie zunächst kein Gesicht, das sie begrüßte. Wenn sie in Richtung der vertrauten Stimme schauten, zeigte sich etwas Verschwommenes. Wochenlang fesselte sie vor allem der Farbeindruck, denn darauf waren sie durch Berührung und Hören nicht vorbereitet. Manchmal waren sie von der Flut der visuellen Stimulation, dieser verwirrenden Mischung aus Licht, Farbe und Bewegung, schier überwältigt. Es ist offenbar ziemlich schwierig, das Ertastete in Sichtbares zu übersetzen. Das Erspüren der Form eines Elefantes ist offenbar keine ausreichende Vorbereitung auf den Anblick einer ganzen Elefantenstatue. Ihr Verstand hatte sich daran gewöhnt, die Dinge in zeitlich versetzten Teilabschnitten zu erfassen. Das Sehen ermöglichte es ihnen, alle Teile gleichzeitig räumlich wahrzunehmen. Doch wenn sie mühsam gelernt hatten, den Elefanten allein durch das Sehen zu erkennen und sich die Statue dann aus einem anderen Blickwinkel zeigte, war es wieder ein völlig neuer, unbekannter Eindruck. Ihr Gehirn hatten noch kein visuelles Programm entwickelt, die Drehung von Dingen spontan nachzuvollziehen.

    Auch konnten sie räumliche Tiefe nur wahrnehmen, wenn sich etwas bewegte. Bis dahin hatten sie Entfernungen immer an der Größe eines Objektes gemessen. Treppenstufen erschienen ihnen zunächst als flache Oberfläche mit Streifen. Eine Person beschrieb, wie sie sich mit Hilfe innerlich gezogener Linien und Pfade zwischen den Zimmern und den wichtigsten Möbelstücken durch ihre Wohnung bewegte. Wenn sie diese Pfade verließ, verlor sie leicht die Orientierung. Die visuelle Welt dieser Menschen war zunächst völlig von Farben, Licht und Bewegungen dominiert. Nur mit viel Übung lernten sie, diese Eindrücke zu verbinden und somit Dinge zu erkennen. Die Übungen in diesen ersten zwei Kapiteln können Ihnen helfen, wieder auf diese ursprüngliche Weise Wellen und Bewegungen wahrzunehmen. Die erste Übung ist, aufmerksam sehr kleine Kinder zu beobachten. Bemerken Sie, wie oft sie sich mehr für Licht, Geräusche, Bewegungen und Luftzüge interessieren als für die Dinge um sich herum.

    Solche Übungen sind in diesem ganzen Buch verteilt. Manche sind am Ende eines Abschnitts deutlich gekennzeichnet, andere sind im Text eingestreut. Bestimmte Kapitel, wie zum Beispiel das sechste, sind vollgepackt mit solchen Anregungen.

    LERNEN, SICH ANZUGLEICHEN

    Ein Kind ging hin, Tag um Tag,

    und wurde zu dem ersten Ding, was es erblickte.

    Und dieses Ding wurde Teil von ihm,

    für jenen Tag oder einen Teil des Tages.

    Oder für viele Jahre oder über ganze Zyklen von Jahren hinweg.

    Walt Whitman

    Leaves of Grass

    Wenn Sie üben, die Welt mit frischem, unverstelltem Blick zu betrachten, bemerken Sie vielleicht, wie Sie mit dem Geschauten manchmal eins werden. Das ist herrlich! Wir bezeichnen es hier in unserem Zusammenhang als Matching ( = angleichen, zueinander passen, passend machen, übereinstimmen, zusammen führen). Wenn wir im weiteren Verlauf zu den Spiegelneuronen kommen, werden wir dieses Thema noch vertiefen.

    Diese Fähigkeit zum Matching ist uns angeboren. In den ersten Lebensjahren gebrauchen wir sie intensiv, doch im Laufe der Zeit entwickeln wir andere kognitive Fähigkeiten und verlernen es ein Stück weit wieder. Manches davon bleibt uns jedoch erhalten. Wenn wir bei Sportereignissen oder Tanzaufführungen zuschauen, vollziehen wir die Sprünge, Drehungen, Würfe und Läufe innerlich nach. Manchmal spüren wir richtiggehend die Anstrengung dieser inneren körperlichen Angleichung. Die daraus erfolgende Befriedigung trägt dazu bei, uns zur nächsten Veranstaltung zu locken. Auch auf der emotionalen Ebene findet Matching statt. Wenn wir jemandem in seinem Leiden beistehen oder mit Freunden etwas feiern, können sich unsere Gefühle weitgehend denen der anderen anpassen. Dann können wir wirklich sagen: Ich fühle Schmerz beziehungsweise Freude mit dir.

    Mit etwas Übung und Geschick können wir uns sogar dem Geist eines anderen anpassen. Ironischerweise ist selbst das nicht mit Hilfe des Intellekts möglich, sondern läuft ähnlich wie bei Gefühlen und Bewegungen über ein inneres Körperempfinden. Der Intellekt kann analysieren, kategorisieren und geistige Schwächen ausmachen, doch um wirklich in den Geist eines anderen Menschen einzutauchen, brauchen wir diese Fähigkeit der inneren Anpassung. Vielleicht helfen Ihnen die folgenden Geschichten von der Anwendung solcher Matching-Prozesse, ein klareres Bild davon zu gewinnen, damit Sie anfangen können, es für sich selbst zu entwickeln.

    Das Konzept als solches ist nicht neu. Im Buddhismus wird es oft sich selbst mit anderen austauschen genannt. Der Heiler und mystische Philosoph Paracelsus schrieb bereits vor fünfhundert Jahren darüber:

    Verstehen entsteht nicht durch den Verstand, sondern durch mitfühlendes Hineinversetzen. In unserer Suche nach Weisheit ist es unsere Pflicht, die Dinge ihrem eigenen Wesen gemäß zu erkennen und nicht nach ihren Erscheinungen.

    Um etwas oder jemanden wirklich zu verstehen, meint Paracelsus, müssen wir uns so tief mit dem Menschen oder dem Objekt verbinden, dass sich uns sein wahres Wesen offenbart. In der östlichen Tradition wird in diesem Zusammenhang eher von »Meistern« und »Lehrlingen« als von »Lehrern« und »Schülern« gesprochen. Der Lehrling empfängt Übertragungen statt Lektionen. Um sie zu empfangen, muss er sich auf die Wellenlänge seines Lehrers einstimmen. Jane Faigao, eine großartige Tai Chi-Lehrerin an der Naropa-Universität, pflegte ihren mit den Bewegungen ringenden Schülern zu sagen: »Klaut sie euch einfach von meinem Körper«. Die Essenz des Tai Chi lässt sich nicht einfach durch das Nachahmen äußerer Bewegungen erfassen.

    Ich habe einmal eine fast olympiareife junge Dressurreiterin interviewt, die ein hervorragendes Beispiel für diese einfühlsame Einstimmung war. Sie liebte die Dressurfiguren so sehr, dass sie sie in ihre Studienhefte kritzelte, von ihnen träumte, sie innerlich vorwärts und rückwärts durchlief und sie in Zeitlupe und natürlich zu Pferde übte. Sie begab sich sogar auf alle Viere und lief die Figuren ab, um herauszufinden, wie sich das Pferd dabei fühlen mochte.

    Es gibt noch immer ein paar Berufe, in denen die Kunst des Matching eine große Rolle spielt. Als ich einmal einen ausgezeichneten Gärtner fragte, wie er die Pflanzenarrangements in seinen Landschaftsgärten entwickele, gestand er, die Zwiebeln oder Pflanzen so lange in der Hand zu halten, bis er spüren konnte, wo sie gepflanzt werden wollten.

    Im Sport kann die Fähigkeit, sich einem Gegner anzugleichen, zu höheren Leistungen anspornen. In seinem Buch Zen und die Kultur Japans zitiert D. T. Suzuki einen japanischen Schwertkämpfer mit folgenden Worten:

    Wenn die Identität erlangt wird, sehe ich als Schwertkämpfer mir gegenüber keinen Gegner, der mich angreifen und schlagen will. Ich scheine mich selbst in meinen Gegner zu verwandeln und jede seiner Bewegungen und jeder seiner Gedanken fühlen sich wie meine eigenen an, und ich weiß intuitiv … wann und wie ich ihn schlagen kann.

    Diese Idee, sich in eine Person oder ein Objekt hineinzuversetzen, mag merkwürdig und nur begrenzt nützlich erscheinen, doch ihr Wert wird immer mehr erkannt. Beispielsweise hat es sich für die Forschung führender Wissenschaftler als eine höchst nützliche Sache erwiesen.

    Der Nobelpreisträger Joshua Lederberg, dessen Entdeckungen entscheidend zur Genetik der Mikroorganismen beigetragen haben, beschrieb seinen Ansatz so:

    Man muss sich in eine biologische Situation hineinversetzen können. Ich musste mir beispielsweise buchstäblich vorstellen können Wie wäre es, wenn ich eines der chemischen Bestandteile eines Bakterienchromosoms wäre?

    Die populärwissenschaftlich als springende Gene bezeichnete Entdeckung der genetischen Transposition in Mais durch die Nobelpreisträgerin Barbara McClintock revolutionierte das gesamte Feld der Molekularbiologie. Sie hat ihre Herangehensweise ganz ähnlich erklärt:

    Ich habe festgestellt, je mehr ich mit ihnen [den Chromosomen] arbeitete, desto mehr verschob sich der Maßstab, und als ich mich richtig auf sie einließ, war ich nicht mehr draußen, ich war drinnen. Ich war Teil des Systems. … Ich konnte sogar die Innenteile der Chromosomen sehen. … Zu meiner eigenen Überraschung fühlte es sich so an, als ob ich da mitten drin wäre, mitten unter meinen Freunden. … Wenn man sich diese Dinger so anschaut, werden sie Teil von einem. Und man vergisst sich selbst. Das Wichtigste ist, sich selbst zu vergessen.

    Vielleicht verspüren Sie keinen Bedarf für derart verfeinerte Angleichungsfähigkeiten, doch möchte ich Sie ermutigen, es mit einfachen Elementen Ihres Alltags zu üben. Lassen Sie sich auf die Natur, geliebte Dinge oder geschätzte Qualitäten Ihrer Mitmenschen mit ganzer Aufmerksamkeit ein. Genießen Sie sie, und sei es nur für einen Augenblick, das wird Ihre Angleichungsfähigkeiten wachsen lassen.

    Vor allem die Fähigkeit, sich in dieser Weise auf den Geist von anderen einzustimmen, ist äußerst wertvoll. Wenn Sie in den folgenden Geschichten von geistigen Fähigkeiten lesen, die Sie auch gerne hätten, scheuen Sie sich bitte nicht, Jane Faigaos Rat zu folgen und sie zu »klauen«. Probieren Sie es. Mit etwas Übung kann sich Ihre natürliche Brillanz dadurch enorm erweitern!

    ANSICHTBAR UND UNSICHTBAR

    Meine ersten Lehren über die »unsichtbare Welt der Kinder« empfing ich von meinem Sohn. Scottie war vier, als ich ihn mit dem Gärtnern bekannt machen wollte. Leider war ich eine ziemlich unbegabte Gärtnerin. Ich begann, über Findhorn nachzusinnen, jenes unglaublich erfolgreiche Gartenprojekt in Schottland, bei dem die Gärtner mit den Elementarwesen und den Pflanzengeistern zusammenarbeiten. Ich sehnte mich danach, auch solche Hilfe zu haben. Als Scottie und ich eines Tages im Garten den Boden bearbeiteten, fragte ich ihn daher, ob er irgendwelche Wesen sehen würde. »Nööh«, antwortete er, offenbar unsicher, was er von solch einer Frage halten sollte.

    Aus reiner Verzweiflung blieb ich dran. »Siehst du nicht vielleicht irgendwelche Gestalten oder Tierchen oder so etwas?«

    »Oh ja, ich sehe viele davon!« rief er voll Begeisterung darüber, mich endlich verstanden zu haben.

    »Siehst du sie jetzt?«

    »Ja klar«, sagte er und schaute sich leicht blinzelnd im Garten um. Er erzählte mir, ein paar würden auf dem Dach herumturnen, andere kauerten bei den Baumwurzeln dort unten, und wieder andere würden um die Blumen schweben. Ich gab zu, sie nicht richtig sehen zu können, und er schaute mich mit einem Blick an, als wundere er sich, wie ich so beschränkt sein könne. Danach versuchte er tagelang, sie mir zu zeigen. Sein Bestreben gipfelte schließlich darin, dass er mir eines Tages von der großen Fichte in unserem Vorgarten aus aufgeregt zurief: »Komm mal schnell her, Mami, ich habe endlich einen gefunden, den du ganz bestimmt sehen kannst!«

    Ich schaute unter die schweren Zweige, ich blinzelte, stellte meinen Blick unscharf und versuchte alles, was mir einfiel, bis ich schließlich zugeben musste, dass ich da einfach nichts sehen konnte.

    Scottie richtete sich auf, seufzte und erklärte: »So ist es dann wohl. Erwachsene sehen ansichtbare Dinge, und Kinder sehen ansichtbare und unsichtbare Dinge« (im Original: outvisible and invisible things.)

    Wenn wir darauf achten, sind die Hinweise auf solche kindlichen Fähigkeiten überall zu finden. Wir neigen dazu, die Wahrnehmungen der Kinder nur ernst zu nehmen, wenn sie sich auf äußerlich sichtbare Dinge beziehen. Kürzlich hörte ich im Supermarkt, wie ein etwa fünf Jahre altes Kind zu seiner Mutter sagte: »Der Mann ist nicht nett!« Die Mutter bedeutete dem Kind, still zu sein, zog es beiseite und fragte, warum es das gesagt habe. »Ich mag die Bilder nicht, die ich in mir sehe, die dieser Mann in sich hat!« Ich frage mich, wie viele Kinder jeden Tag solche Bilder sehen.

    Als ich an der Sonderschule unterrichtete, lag mein Klassenzimmer genau gegenüber dem Lehrerzimmer. Als ich eines Tages meine Türe öffnete, kam dort gerade eine neue Lehrerin heraus, die zuvor Nonne gewesen war. Sie trug die Hände vor sich gefaltet und bog scharf nach links ab, um zu ihrem Klassenzimmer zu gehen. Während ich zusah, wie sie um die nächste Ecke verschwand, meinte eine acht Jahre alte Schülerin neben mir, die nichts von dem Hintergrund dieser Frau wusste: »Warum will sie nicht heiraten?«

    Bei der folgenden Geschichte können Sie mit mir Detektiv spielen. Eines Tages saß ich in einer Sonderschulklasse in der Lesestunde. Zu der Klasse gehörte ein sehr autistischer, acht Jahre alter Junge, der ein paar rudimentäre Sprachkenntnisse hatte, aber die meiste Zeit in seiner eigenen kleinen Welt verbrachte. An jenem Morgen schien er ziemlich unruhig zu sein. Zuerst ging er zu dem Aquarium, bewegte es ein paar Mal hin und her und betrachtete es dann mit offensichtlichem Vergnügen. Er wollte es gerade wiederholen, als die Lehrerin ihn bat, dort wegzugehen. Daraufhin lief er zu der glänzenden Metalltüre des Materialschranks und begann, sie heftig hin- und herzuschwingen. Dann wurde er gebeten, sich mit auf den Boden zu setzen, wo die Klasse über Kalender sprach. Hinter ihm stopfte ein Kind einen Therapieball passgenau in eine Spielzeugtonne. Der Junge regte sich furchtbar auf und beruhigte sich erst wieder, als der Ball aus der Tonne entfernt wurde. Daraufhin saß er ein paar Minuten lang still, doch sobald zur Pause geläutet wurde, lief er zu einem Platz direkt neben der Heizung.

    Erkennen Sie das unsichtbare Muster? Wenn Sie von den Dingen absehen und mehr die Wellen betrachten, die sie erzeugen, merken Sie vielleicht, wie fokussiert der Junge eigentlich war. Bei dem Aquarium ging es ihm nicht um die Fische, sondern um die Wellenbewegungen auf dem Wasser, die er erzeugt hatte. Auch die Metalltüre vibrierte durch die heftige Bewegung und erzeugte Wind und Lichteffekte. Der Ball? Er setzte die Tonne unter Druck. Der Junge hörte wahrscheinlich den zischenden Luftzug, als der Ball in die Tonne gepresst wurde, und verspürte den Drang, die Tonne zu »befreien«. In der Pause genoss er dann die Wärmewellen, die von dem Heizkörper aufstiegen.

    Die Welt ist voll von solchen Schwellen-Phänomenen – Ereignissen, die gleichermaßen unsichtbar und ansichtbar sind. Versuchen Sie, Gelegenheiten zu finden, wo Sie sich mit kleinen Kindern darüber austauschen können. Ein Regenbogen zum Beispiel mag wie ein wirkliches Ding erscheinen, doch tatsächlich besteht er nur aus prismatisch angeordneten Lichtwellen. Bäche und Wasserfälle sind sichtbar gewordene Fließwellen. Ein Echo ist nichts als eine Klangwelle, die unsere Stimme zurückspiegelt. Die meisten Kinder unter sechs Jahren leben in einer Welt der direkten Sinneserfahrung. Sie können sich ganz auf die jeweilige Erfahrung einlassen, ohne das ständige mentale Geplapper des erwachsenen Verstands. Sie empfinden diese Wellen und Bewegungspfade als natürliche Aspekte der sie umgebenden Bilder und Sinneseindrücke. Um diese Fähigkeiten vollständig zu entwickeln, bedürfen sie jedoch unserer Unterstützung, indem wir ihre Sinneseindrücke ihrer Umwelt würdigen und aufhören, immer den Reiseführer zu spielen, der weiß, was richtig und wichtig ist. Die große Biologin Rachel Carson riet in diesem Zusammenhang:

    Um sich seine angeborene Fähigkeit des Staunens zu

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