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Der Mann mit den 999 Gesichtern: In Gedenken an Michael Rudolf
Der Mann mit den 999 Gesichtern: In Gedenken an Michael Rudolf
Der Mann mit den 999 Gesichtern: In Gedenken an Michael Rudolf
eBook664 Seiten6 Stunden

Der Mann mit den 999 Gesichtern: In Gedenken an Michael Rudolf

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Über dieses E-Book

In Gedenken an Michael Rudolf ehren ihn viele Freunde und Weggefährten in Text und Bild, dazu gibt es zahlreiche Texte aus Rudolfs eigener Feder. Ein notwendigerweise schwerwiegendes Buch, welches alle Facetten dieses wunderbaren Autors aufleuchten lässt. Unter anderem haben neben dem Herausgeber Jürgen Roth daran mitgewirkt: Pia Büttner, Michael Ringel, Gotthard Brandler, Gerhard Henschel, F. W. Bernstein, Jürgen Brömmer, Fanny Müller, Peter Köhler, Dieter Steinmann, Susanne Fischer, Edo Reents, Thomas Gsella, Wiglaf Droste, Marit Hofmann, Dieter Grönling, Frank Schäfer, Thomas Roth, Mark Obert, Jürgen Lentes, Alexander Meier, Bert Sander, Martin Büsser, Thomas Behlert, Christof Meueler, Oliver Maria Schmitt, Rayk Wieland, Michael Tetzlaff, Michael Sailer, Roland Tauber, Ralf Sotscheck, Horst Tomayer, Klaus Leweke, Eugen Egner, Rüdiger Grothues, Kay Sokolowsky, Hans Zippert (in der Reihenfolge ihres "Auftretens").
SpracheDeutsch
HerausgeberOktober Verlag
Erscheinungsdatum12. Nov. 2012
ISBN9783941895935
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    Buchvorschau

    Der Mann mit den 999 Gesichtern - Oktober Verlag

    Rudolf

    MICHL RUDOLF, ALTER SEEBÄR!

    So hatten wir zwar nicht gewettet; aber Du hast es so gewollt: im Greizer Wald, wo Du vor vierzig Jahren zusammen mit Deinen Großeltern sämtliche bekannten Pilz- und Reharten der nordöstlichen Hemisphäre in einem Akt spontaner Willkür komplett um- und neubenannt hast, kurz nach dem Rechten zu sehen und dann die Lebensnot- und -mutreißleine zu ziehen.

    Michl, alter, guter Stiefel: Jetzt trinkst Du uns im Deutschen Brauer-Bund-Himmel die siedend schönen Bierkessel auf eigene Rechnung leer und weg, und bei solch sauberer Feinarbeit wollen wir Dich auch nicht stören, auch wenn wir’s zu gerne täten. Aber, good old Lump, hinauf zu Dir brüllen und jammern dürfen und müssen wir doch: Keep on rockin’ and drinkin’ in a Binding-free world!

    Deine Schwermutmatrosen von stets Deiner

    Titanic

    Titanic 8/2007

    HOLGER SUDAUS LEBENSLAUF

    Michael Rudolf

    1961 Holger Sudau wird am 14. Mai in Marienberg als einziger Sohn der Unterstufenlehrerin Helga Katharina Forkel und des Psychologen Paul Werner Sudau geboren.

    1962 Das hyperaktive Kleinkind demontiert die Steckdosen im Schlafzimmer und macht mehrfach »Bautz« mit dem Stubenwagen.

    1963 Nichts Besonderes.

    1964 Erste und höchstwahrscheinlich auch letzte Forschungsreise nach Liberec.

    1965 Holger fällt vom Kletterpilz des Kindergartens »Anne Frank«.

    1966 Holger wird fünf.

    1967 Einschulung.

    1968 Mehrfacher Klingelrutsch bei Familie Muschko in der Breitscheidstraße. Mehrmonatiger Oelsnitz-Aufenthalt.

    1969 Taschengelderhöhung auf 1 Mark pro Woche.

    1970 Der Neunjährige verlernt heimlich das Klavierspielen.

    1971 Holger stößt sich in Frotschau mit dem Kopf am Ofenverschluß der Jugendherberge.

    1972 Holger kippt in Frotschau kopfüber von der Wippe.

    1973 Holger wird in Frotschau nur knapp von einem Stein am Hinterkopf verfehlt. Forschungsaufenthalt im Pöllwitzer Wald und Pilgerreise zum Fraureuther Flegelaltar.

    1974 Verwandtenbesuch im Dorf Nietzschareuth. Unkomplizierte Mandeloperation.

    1975 Holger verliert in der Talsperre Pöhl seine schöne blaue Taucherbrille und muß ein halbes Jahr für Ersatz sparen.

    1976 Holger trägt vorübergehend Seitenscheitel.

    1977 Mißglückte Studienreise nach Polen.

    1978 Mehrere Entdeckungsreisen an die Ostsee.

    1979 Abitur. Holger lernt Tina Peißnitz, seine spätere Lebensgefährtin, kennen.

    1980 Studium der Kriegskunst.

    1981 Beginn des Studienaufenthaltes in Halle.

    1982 Ende des Studienaufenthaltes in Halle.

    1983 Studienaufenthalt in Reichenbach.

    1984 Rede auf dem Prager Parteitag der Radikalen Mitte.

    1985 Kongreß Konkretes Forschen. Studienaufenthalte in Ungarn und Dippoldiswalde.

    1986 Wochenend-Forschungsferien auf der Burgruine Liebenau.

    1987 Sudaus Fahrrad wird im Wald gestohlen. Erster Westberlin-Aufenthalt.

    1988 Keine Ausstellungen in Berlin, New York und Krumpa-Lützkendorf. Ingenieur. Zweiter Westberlin-Aufenthalt.

    1989 Sudau verfolgt uninteressiert die politischen Wirren und engagiert sich nicht aktiv bei den Demokratiebewegungen.

    1990 Sudau verschwindet plötzlich.

    »Morgenbillich« – Die Wahrheit über Holger Sudau,

    Münster: Oktober Verlag 2003

    1979.

    1982.

    1981.

    MICHA

    Pia Büttner

    Michael. Micha. Die Erinnerungen an ihn blitzen in meinem Gehirn auf wie tausende Irrlichter. Eher verwirrend als erhellend. Es sind schöne Erinnerungen, die meisten sind unklar, hinterlassen aber ein Gefühl der Wärme.

    Am 1. September 1975 habe ich Michael kennengelernt. Es war unser erster Schultag an der Greizer Penne, der EOS »Dr. Theodor Neubauer«. Dort sollten wir die nächsten vier Jahre gemeinsam bis zum Abitur in einer Klasse verbringen. Teilweise kannte man sich untereinander. Doch Michael, der genau einen Tag älter war als ich, kannte ich noch nicht.

    Er war kein Lauter, aber auch keiner, der sich immer unterordnete. Kritik verpackte er schon damals oft in spöttische Bemerkungen oder formulierte er so, daß bei manchem der Groschen erst später fiel. Und ich habe den Verdacht, daß er dabei häufig diebische Freude empfand.

    Ich erinnere mich an eine Episode, die mich damals schon tief beeindruckte. Michael mußte an die Tafel und irgendeinen Sachverhalt darstellen. Worum es ging, weiß ich nicht mehr, aber ich sehe ihn noch dort stehen. Er positionierte sich mitten vor der Tafel, begann mit links zu schreiben, wechselte die Kreide in die rechte Hand und fuhr fort, sein Wissen zu fixieren. Keinen Schritt bewegte er sich nach links oder rechts. Ich dachte: »Einseitig is’ er nicht.«

    Mit einem Grinsen setzte er sich wieder, den Moment der ungeteilten, teils auch bewundernden Aufmerksamkeit genießend.

    Prägend für ihn war aber auch seine Liebe zur Musik. Da galt er als echter Kenner. Und er wußte so vieles über Frank Zappa, Bob Dylan und all die anderen. Folgerichtig wurde er schon zu einem der ersten Klassenabende, die immer mal wieder von uns im Schuljahr gefeiert wurden, zum Musikverantwortlichen ernannt. Wir saßen dann in irgendwelchen Räumen außerhalb der Schule zusammen, redeten, tanzten oder lauschten einfach der Musik. Und hinterher klappte auch der Zusammenhalt in der Schule häufig besser.

    Er war mit vierzehn in vielem ernsthafter als so manche Jungen gleichen Alters, konnte aber genausogut und genauso gern rumblödeln, wenn auch nicht selten auf deutlich höherem Niveau. Irgendwie hatte ich manchmal das Gefühl, daß er uns veralberte und wir es oft genug nicht merkten. Das mag auch mit seiner nicht einfachen Kindheit zu tun gehabt haben. Er lebte bei seinen Großeltern und hatte es wahrlich nicht leicht. Ein behütetes Elternhaus, wie es viele von uns kannten, hat es für ihn nicht gegeben. Schon früh mußte er mit Problemen und emotionalen Verletzungen fertig werden, die er nie nach außen trug. Nur manchmal und meist nach langen Gesprächen klangen diese andeutungsweise an. Doch wenn man nachfragte, wechselte er häufig ganz charmant und grinsend das Thema. Er hat sich, so glaube ich, schon damals eine Fassade zugelegt. Er hat nur wenige wirklich in sein Inneres sehen lassen. Und mit seinen oft spöttischen Bemerkungen hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Er polarisierte mit seinem Wesen.

    Jahre später, wir fuhren zufällig im gleichen Zug von Leipzig nach Reichenbach/Vogtland, es muß während der Buchmessezeit gewesen sein, erzählte er mir von seinen Begegnungen mit Manfred Böhme. Dieser lebte damals eine Zeitlang in Greiz und scharte Intellektuelle und Jugendliche um sich, die er zu philosophischen Diskussionen und Denkweisen, zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen und zu literarischen Betrachtungen anregte. Michael war einer von ihnen und hat viel aus diesen Zusammenkünften im Humboldt-Klub, die hie und da auch den Anschein konspirativer Treffen gehabt haben müssen, verinnerlicht.

    Später erlangte dieser Manfred Böhme, zwischenzeitlich hatte er sich den zweiten Vornamen Ibrahim zugelegt, nationale Bekanntheit, als er 1990 für die SPD als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten der DDR ins Rennen ging, kurz bevor seine Tätigkeit für die Stasi offenbar wurde. Letzteres war für viele ein Schock – daß ausgerechnet derjenige, der zum Denken und Widerspruch animierte, seine »Freunde« schmählich verriet.

    Ich erinnere mich, es war irgendwann nachts, wahrscheinlich nach einem Klassenabend, wir standen an einer Weggabelung und redeten und redeten, stundenlang. Über Gott und die Welt, vielleicht auch über Musik, von der ich herzlich wenig Ahnung hatte, über die Michael aber so wunderbar erzählen konnte. Seine Sicht der Dinge deckte sich häufig mit der meinen, und da, wo mir vieles nicht klar war, brachte er mit einer kleinen Bemerkung manchmal Licht ins Dunkel.

    Später, ich arbeitete inzwischen in der Bibliothek, haben wir uns oft gesehen. Er war ein sehr aktiver Nutzer, wohnte ja auch gleich um die Ecke. Ich weiß noch, daß er historische und regionalkundliche Literatur, aber auch immer wieder Anthologien bevorzugte. Die regionale Geschichte hat er ja dann auch in einigen Publikationen niedergeschrieben, sei es zur Burg Liebau, im Bildband über die Burgen im Vogtland oder im kleinen, 2002 erschienenen Bildband Greiz. Vor allem in letzterem wird trotz allem seine Verbundenheit mit dieser Stadt deutlich.

    Er hatte es nicht immer leicht, und insbesondere ein Artikel, Anfang der Neunziger in der Titanic erschienen, sorgte für einen Aufschrei in der Stadt. Durch die Presse geisterten Artikel, die den »Schmierfink« Rudolf anprangerten, der die Stadt verunglimpfe. Die Titanic hatte bis zu diesem Zeitpunkt kaum jemand in Greiz gekannt, geschweige denn gelesen. Doch wie das häufig so ist, hat sich in Windeseile herumgesprochen, daß da Michael Rudolf einen Artikel veröffentlicht habe, der ja so schlimm und unverschämt sei. An diesem Tag, wir hatten die Zeitschrift in der Bibliothek noch nicht mal, rannten uns die Leute fast die Türen ein. Jeder wollte ihn lesen. Wie es der Zufall so wollte, kam auch Michael just an diesem Tag vorbei und konnte sich seines bekannten Grinsens kaum erwehren. Er hatte, wie in einer satirischen Betrachtung ja normal, das kleinstädtische Leben und die Verschiebung des Wichtigen auf ernährungsrelevante Aktivitäten aufs Korn genommen. Art pour l’art. Art Poulard. Der Umgang mit Satire mußte auch hier erst gelernt werden.

    1992 arbeitete er im Landratsamt in der Unteren Denkmalschutzbehörde. Er erfaßte und beschrieb die Objekte der Kreisdenkmalliste Greiz. Auch hierbei waren seine Kenntnisse der regionalen Geschichte wichtig. Noch heute existieren hier zahllose Akten mit dem Vermerk »Bearbeiter: Rudolf«.

    Die Gründung seines Verlages Weisser Stein, zusammen mit Gerd König, war für ihn ein Traum. Er hatte mir lange vorher schon mal davon erzählt, auch daß er in einem Berliner Verlag ein Praktikum oder Volontariat machen wollte. Das war das, wo er sich und seine Interessen verwirklichen konnte. Das Verlagsprogramm machte es dann auch deutlich. Er legte wichtige regionalgeschichtliche Literatur wie den Reußischen Robinson oder Die Geschichte der Stadt Greiz wieder auf, nahm aber auch kleine Bändchen beispielsweise von Greser & Lenz oder Gerhard Henschel ins Verlagsprogramm, die nicht dem Mainstream entsprachen und auch nicht vordergründig dem Kommerz geschuldet waren. Auch Ausstellungskataloge des Greizer Satiricums gehörten dazu – Drei Jahrhunderte Satire aus dem Sommerpalais Greiz und der Katalog zur 1. Triennale »Karikatur, Cartoon & Komische Zeichenkunst«.

    Im Satiricum, also im Greizer Sommerpalais, war Micha auch immer ein gerngesehener Gast, wenn er auch nicht bei jeder Vernissage oder Veranstaltung dabei war. Bei F. W. Bernstein, Sebastian Krüger oder Rudi Hurzlmeier war er auf jeden Fall da. Immer wieder unterhielten wir uns dabei auch über seine Bücher, die – wie das Bierlexikon – so manchen Rechtsstreit heraufbeschworen oder – wie Die Thüringer pauschal – wieder die Kritiker auf den Plan riefen.

    Während der Vernissage von Rudi Hurzlmeier im Sommer 2005 hat er mir zum erstenmal von seinen Depressionen und seiner Krankschreibung wegen des Burnout-Syndroms erzählt. Es war eigentlich das erstemal, daß er schnell und offen über seine Probleme gesprochen hat. Und es hat mich tief erschreckt. Ich hatte ihn stets als stark und sicher empfunden, wenngleich ich immer wußte, daß er sich nach außen anders gibt. Nicht mehr schreiben zu können und seinen eigenen Ansprüchen nicht zu genügen, das war für ihn unglaublich schlimm. Ich hätte ihm so gern geholfen.

    Und so war ich richtig froh, als wir uns im Oktober 2006, es war nach der Ausstellungseröffnung »Von Kindern und anderen Riesen« von Manfred Bofinger, noch abends beim Griechen in der Altstadtgalerie trafen. Ina und Eva waren auch dabei, Fritz Weigle war da, Luise, die Tochter von Manfred Bofinger, und Gabriele Bofinger und einige Mitarbeiter des Satiricums. Michael wirkte so fröhlich, er warf sich mit Eva die Gesprächsbälle zu, daß es eine wahre Freude war zuzuhören. Wenn er sich mit ihr über die Simpsons, die für beide zum täglichen Ritual zählten, unterhielt oder über Walter Moers oder überhaupt. Auch von seiner kleinen Brauerei im Keller seines Hauses erzählte er mit leuchtenden Augen. Das war nicht gespielt, soweit kannte ich ihn dann doch. An diesem Abend ging es ihm gut, und ich wollte so gern glauben, daß dies ein dauerhafter Zustand sei.

    Klassenabend, 1976.

    Erweiterte Oberschule (EOS) »Dr. Theodor Neubauer«, 1977.

    Klassentreffen, 1979.

    EOS »Dr. Theodor Neubauer«, 1979.

    Greiz, Lessingschule, bis 1990 Polytechnische Oberschule (POS).

    Gymnasium Greiz, vormals EOS.

    Haus der Großeltern, Rudolf-Breitscheid-Straße 15, Greiz.

    ZWEI FINGER FÜR EIN HALLELUJA

    Michael Ringel

    Die zweite Beerdigung des Jahres war sogar noch komischer als die erste im März. Irgendwann während des Leichenschmauses war das Niveau da, wo es hingehörte: unterirdisch. Die Hinterbliebenen erzählten sich Kinderwitze aus der Wortspielhölle. Mein Favorit: Findet ein Junge im Zug einen Hut. Im Inneren des Hutes ist ein Name eingestickt: Reinsch. Geht der Junge mit dem Hut durch den Zug und fragt: »Irgend jemand, der hier Reinsch heißt?«

    Gibt es im journalistischen Gewerbe eigentlich die Sparte des Beerdigungskritikers? Ich melde mich freiwillig, und da der Tod in letzter Zeit immer näher kommt, bringe ich inzwischen einige Erfahrung mit. Innerlich gewöhne ich mich schon an die Berufsbe-zeichnung und sehe auch die entsprechende Zeile auf meiner Visitenkarte vor mir: »Beisetzungskritiker«. Das klingt doch nach etwas! Auch wenn es ein noch viel zu unterbewerteter Berufszweig ist. Etwa so unterschätzt wie der des Bestatters. Warum kennt man nur so wenige Bestattungsunternehmer? Wahrscheinlich gibt es in diesem Metier höchst luzide Persönlichkeiten. Wie zum Beispiel jene Bestattungsfachkraft, der ich vor der Friedhofskapelle am vergangenen Freitag die Hand gab.

    Kurz darauf saß ich in der Kapelle und fixierte das mittlere der drei bunten Kirchenfenster. Reflexartig war ich in das alte Konfirmandensyndrom verfallen: Sitzt du in einer Kirche, dann suche dir einen markanten Punkt, fixiere ihn unentwegt und lasse deine Gedanken schweifen, bis dir etwas Komisches in den Kopf kommt. Dann denke an nichts anderes mehr. Das hilft, wenn es auf der Kanzel zu pathetisch wird oder der Schmerz dich überwältigt oder dich die Wut überkommt wegen der Abwesenden, die zu feige waren, zu erscheinen, um dem ehemals eng Befreundeten die letzte Ehre zu erweisen. Unehrenhafte Leute sind das, die Angst haben, auf Trauernde zu treffen, mit denen sie verfeindet sind. Als ob das im Angesicht des Todes zählen würde.

    An genau dem Punkt war das Beiseitedenken sehr nützlich, ausnahmsweise aber berechnete ich einmal nicht die Entfernung zwischen mir und dem Kirchenfenster und wie lange ein Stein bräuchte, um im Fensterkreuz einzuschlagen. Meine Gedanken umkreisten vielmehr den Bestatter, genauer: seine Hand, die ich eben noch gedrückt hatte. An der Rechten, wie ich gleich bemerkte, fehlten ihm der Ring- und der Mittelfinger. War ihm ein Sargdeckel draufgefallen? Oder war er beim Zersägen abgerutscht? Oder wollte er absichtlich ein Teufelshorn haben? Oder hatte er eines Tages, verzweifelt über sein ewiges Ringen mit dem Tod, dem Sensenmann den Stinkefinger gezeigt, der ihm zur Strafe gleich zwei Finger absäbelte? Und bestellt er heute in seiner Stammkneipe zu fortgeschrittener Stunde auch schon mal fünf Bier für die Männer vom Sägewerk und hält dann dem Wirt drei Finger hin? Haben Bestatter überhaupt Humor?

    Eine letzte Frage: Hat man keinen Respekt vor den Toten, wenn man bei einer Trauerfeier Komisches denkt? Im Gegenteil! Sonst hätte der Tod ja gewonnen. Humor ist das einzige Mittel, den Tod zu besiegen. Man sollte mal mit einem Bestatter ein Bier trinken gehen. Vielleicht kennt er noch eine andere Methode.

    taz, 17. August 2007

    EIN STÄDTEBAULICHES DESASTER FÜR GREIZ

    Michael Rudolf

    Greiz. Wenn erst einmal in einer thüringischen Kleinstadt mit reichlich 30000 Einwohnern der marktwirtschaftliche Groschen gefallen ist, dann gibt es kein Halten mehr. Was derzeit heiße Köpfe bei engagierten Bürgern erzeugt, ist eine geplante fünfspurige Entlastungsbrücke über die Weiße Elster, um die Greizer Innenstadt vom Verkehr der Bundesstraßen 92 und 94 freizuhalten. Die Blechlawine beschert der Stadt nicht erst seit 1990 morgens von sieben bis elf und nachmittags von 14 bis 18 Uhr den Kollaps mit mehr stop als go. Die ungünstige Tallage fördert zudem eine nicht nur den Einwohnern hart zusetzende Dunstglocke.

    Das Ganze ist eigentlich hausgemacht, denn die neuen Westautos wollen ausgefahren sein, der öffentliche Nahverkehr erscheint unattraktiv. Daß freilich der Individualverkehr in der Stadt problematisch ist, war bereits zu SED-Zeiten bekannt, Projekte für eine Art Entlastungshochstraße geisterten durch die Bauämter, aber eben nur dort. Mit der Wende und den seit jüngst zur Verfügung stehenden Mitteln aus Bonn wurden vergilbte Pläne wieder ausgerollt.

    Angesichts der Bestrebungen in den alten Bundesländern, die Straßen »zurückzubauen«, nehmen sich die Aktivitäten in Greiz eher grotesk aus. Der aus dem Westen importierte Bürgermeister Leonhardt (CDU) drückt bei den Stadtverordneten kräftig auf die Tube, man solle schnell entscheiden, da die Mittel nicht unbegrenzt lang bereitstünden. Da ganz im Sinne von Bundesverkehrsminister Krause alles so schnell wie möglich gehen soll, blieb die generell in solchen Fällen übliche Ausschreibung eines Architektenwettbewerbs unberücksichtigt. Einer öffentlichen und ausführlichen Diskussion zu diesem Thema wurde schlicht das Wort abgeschnitten. Die Modelle und Baupläne wurden zwar in der Stadtinformation ausgestellt, doch sind diese nach Meinung des Greizer Architekten Matthias Hamann falsch in Perspektive und Dimensionierung und vermitteln dem Betrachter eher ein abgemildertes Bild vom eigentlichen Ausmaß des drohenden städtebaulichen Desasters.

    Sturheit der regierenden CDU wird offenbar: Einwände von SPD und Bürgerbewegungen wurden in alter Manier abgeschmettert. Wenn Einwände, dann von Fachleuten, heißt es. Die selbsternannten Spezialisten der Stadtverwaltung sehen jedenfalls keine Veranlassung, auf die ökologischen wie denkmalpflegerischen Bedenken einzugehen, und bezeichnen die Kritik als überzogen und nicht gerechtfertigt.

    Das Projekt ist so ausgelegt, daß eine vierspurige Betonbrückenkonstruktion über die Weiße Elster in zwei Ausfallstraßen münden soll, in Richtung Plauen und in Richtung Gera. Hierbei ist eine konkrete Trassenführung für die Straße nach Plauen noch gar nicht festgelegt, jedoch kommt ein vierspuriger Ausbau aufgrund der Gelände- und Bebauungsvoraussetzungen nur schwerlich in Frage. Gleiches trifft für die Straße nach Gera zu, für deren Ausbau bis zur Ortslage Gommla würde nicht nur der komplette Grünzug der Straße, sondern auch eine Grünanlage sowie das ehemalige Hauptquartier des NKWD in Greiz, welches von den einst Verfolgten als Mahn- und Gedenkstätte vorgesehen war, plattgemacht. Für die Anbindung der Straße nach Plauen an die Brücke ist noch eine Linksabbiegerspur vorgesehen, so daß sich mit dem obendrein geplanten, aber völlig unnötigen betonierten Mittelstreifen eine Gesamtbreite von zirka 27 Metern ergibt – breiter als der Greizer Marktplatz.

    Viele besorgte Bürger sind der Auffassung, daß ein solcher Brückenkoloß, der im gesamten Stadtbild keine Entsprechung hat, den sensiblen Bereich der Südfront der charakteristischen Silhouette von Unterem Schloß, Stadtkirche und Gymnasium zerstören würde und eine nicht wieder gutzumachende Entstellung dieses städtebaulichen Ensembles darstelle.

    Mit Sicherheit erscheint der großzügige Ausbau fraglich, da, wie erwähnt, die angemessene Dimensionierung der Zubringer nahezu unmöglich ist. Hinzu kommt, daß die Mitarbeiter des Stadtbauamtes selbst einräumen, daß es sich in erster Linie wirklich nicht um Durchgangsverkehr handelt. An dieser Stelle muß doch die Frage erlaubt sein danach, ob es nicht auch eine zweispurige Brücke tun würde.

    Der Bürger bringt Argumente à la: »Pkws und Lkws beleben deutsche Straßen« und hat »ehrlich gesagt ganz andere Sorgen«. Gewiß, mit neun Prozent Arbeitslosenrate ist der Landkreis Greiz Spitze auf dem Gebiet des ehemaligen Bezirkes Gera. Das betuliche Treiben der Stadtoberen mutet so an, als wolle man partout ein Symbol dafür schaffen, daß in der Region doch etwas passiert. Außer gutem Zuspruch und ABM ist den Beschäftigten der bankrotten Textilindustrie nichts beschert worden, Einkaufsstraßen verwaisen angesichts ungeklärter Eigentumsverhältnisse an den Gebäuden mehr, als daß sie sich beleben.

    Der zuständige Rechtsträger für den Straßenbau, das BDS Thüringen mit Sitz in Gera, hat jedenfalls den Darmstädter Architekten Jux mit der Projektierung der Brücke beauftragt, nachdem die Stadtverordnetenversammlung am 14. Mai den Antrag des Bürgermeisters abgesegnet hatte. Baubeginn soll Oktober 1991 sein, die Fertigstellung in voraussichtlich zwei Jahren. Und in fünf Jahren, inzwischen klüger geworden, bräuchte man das gleiche Finanzvolumen, um den angerichteten Schaden zu beheben.

    taz Ost, 9. Juli 1991

    Greizer Park, März 2008.

    IN GEDANKEN AN MICHAEL RUDOLF – REMINISZENZEN AUS GREIZ

    Gotthard Brandler

    Als die Nachricht von Michaels spurlosem Verschwinden durch die Presse ging und schließlich Gewißheit über seinen selbstgewählten Abschied aus dem Leben bestand, waren die letzten Wochen meiner Tätigkeit im Museum Sommerpalais Greiz angebrochen, und viele zu regelnde Angelegenheiten hatten mich gefangengenommen. Lange Zeit wollte ich auch nicht an sein tragisches Ende glauben. Erst später, zur Ruhe gekommen, ist mir die volle Tragweite des Schicksals von Michael bewußt geworden.

    Wie hatten wir uns kennengelernt? Zeitpunkt und Anlaß kann ich nicht mehr nennen. Im Oktober 1990 war ich nach Greiz gekommen, und in der kleinen Stadt mußte man auch irgendwann mit Michael zusammentreffen, war und bleibt er doch hierorts eine Ausnahmeerscheinung. Er begegnete mir damals als ein agiler, geistig aufgeschlossener und kluger junger Mann von dreißig Jahren, ehrlich im Charakter und in seinem äußeren Wesen eher zurückhaltend, aber streitbar in der ständigen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Vorgefundene Engstirnigkeit und Kompromißlertum waren nicht seine Sache, sondern boten ihm vielfach Anlaß zu deftigen Pamphleten, die mit den damals oft genug an Schilda und Krähwinkel gemahnenden Gepflogenheiten hart ins Gericht gingen. Das Wort vom »Nestbeschmutzer« war dann in der öffentlichen Meinung schnell bei der Hand. So war es auch nach seinem im Satiremagazin Titanic abgedruckten Bericht »Aus den Kolonien«, wobei es besonders um Greiz und die Greizer ging. Auch konnte man sich nur wundern, daß die eifrigen Leser des früheren Bezirksorgans Volkswacht auf recht seltsame Weise nun anscheinend zu ebenso eifrigen Titanic-Lesern geworden waren. Die Empörung schlug höchste Wellen, wobei sich die allgemeine Entrüstung sogar zu der ernsthaft vorgetragenen Aufforderung steigerte, seine Publikationen sofort aus den Buchhandlungen zu entfernen. Michael mußte zu dieser Zeit in Greiz geradezu Spießruten laufen.

    Als ich die Greizer Bücher- und Kupferstichsammlung mit ihrer Karikaturenabteilung Satiricum übernahm, war hier gerade die VI. und letzte Karikaturenbiennale der DDR zu Ende gegangen, um anschließend in mehreren, nunmehr altbundesdeutschen Städten gezeigt zu werden. Noch zu Zeiten des realen Sozialismus langfristig geplant und schon recht aufmüpfig in den Karikaturen, wurde diese Schau durch die sich überstürzenden politischen Veränderungen kalt getroffen und bedurfte nun auf Reisen einer ständigen Aktualisierung. Gerade in Sachen der Karikatur doch ein einmaliges und denkwürdiges Ereignis! Und nicht wenige der Karikaturisten hieben nun um so kräftiger auf das ein, dem sie noch unlängst ein Gran Komik abzugewinnen versuchten.

    Im Greizer Heimatboten erschien damals ein gehöriger Verriß dieser Ausstellung, und ich kann mich noch an die Formulierung »verschnarchte DDR-Karikatur« erinnern. Dies war wohl meine erste Bekanntschaft, zumindest auf dem Papier, mit dem jungen Greizer Autor namens Michael Rudolf.

    Unsere sich über die Jahre entwickelnde Freundschaft hatte nichts Kumpelhaftes an sich, und wir saßen auch nicht ständig zusammen. Aber man begegnete sich öfters aus verschiedenen Anlässen, und jeder war mit der Arbeit und mit den Problemen des anderen vertraut. Engere Beziehungen ergaben sich dann insbesondere auf beruflicher Ebene, seien es Fragen zur Regionalgeschichte, zur Karikatur und Satire oder auch nur zur Bildbeschaffung – Fragen, die mit der Arbeit seines, in Partnerschaft mit Gerd Elmar König so hoffnungsvoll begonnenen kleinen Verlages Weisser Stein in Zusammenhang standen. Und unsere gemeinsame Liebe zum gutgemachten Buch ließ bald eine geistig-praktische Verwandtschaft entstehen.

    Angefangen hatte Michael in seinem Verlag mit Veröffentlichungen zur Regionalgeschichte, die Ausdruck seiner vielfältigen historischen Interessen und Kenntnisse waren. Voran ging 1991 sein eigenes Buch über Burgen, Schlösser und Herrensitze im Vogtland, penibel recherchiert und bis heute ein unübertroffenes Glanzstück unter dem verbreiteten Wust der Heimat- und Tourismusliteratur. Dazu gesellte sich die verdienstvolle Neuveröffentlichung eines wissenschaftlichen Standardwerks zur Geschichte der Stadt Greiz von Alfred Thoss aus dem Jahr 1933.

    Dann erschienen kontinuierlich die schlichten, aber schön aufgemachten und fein gedruckten Ta-schenbücher. Historische Interessen standen auch hier mit dem Büchlein Schloß Liebau und seine Besitzer am Anfang. Dabei handelt es sich um ein im Kreis Plauen gelegenes und heute nur noch als romantische Ruine vorhandenes Schloß. Akribisch und mit rühmlichem Fleiß hatte Michael in Archiven und Kirchenbüchern die wechselhafte Geschichte dieser Anlage und ihrer Besitzer zutage gebracht.

    Auch diese Veröffentlichung war Ausdruck seiner schon in Kindheitstagen angelegten und tief verwurzelten heimatlichen Verbundenheit. Stets als passionierter Wanderer und Radfahrer unterwegs, war er mit den historischen Zeugnissen, den Wegen, Bergen und Wäldern seiner Region aufs engste vertraut. Ja, Michael hätte das Zeug und den Fleiß dazu gehabt, so etwas wie die »Wanderungen durch das Vogtland«, gewissermaßen einen »modernen Fontane« für seine Heimat zu schreiben. Erholung und seelischen Ausgleich fand Michael immer wieder auf seinen Fahrradtouren und Wanderungen in den nahegelegenen Wäldern. Und auf eine früher einmal an ihn gestellte Frage, wie er denn mit der provinziellen Enge des Städtchens zurechtkäme, antwortete er, daß man sich um den Ort und seine Bewohner nicht zu kümmern brauche, solange man die Möglichkeit habe, in die Natur zu entfliehen.

    »Greizer Heimatbote« 10/1990.

    Zeichnung: F. W. Bernstein.

    Unter den folgenden Taschenbüchern befand sich auch eine echte, regionale Trouvaille: Der Reußische Robinson, 1781 in Greiz gedruckt. Neben wenigen anderen Werken ragt dieses Buch aus der im 18. Jahrhundert entstandenen Flut der »Robinsonaden«, angeregt durch Defoes Robinson Crusoe, hervor. Zumal es sich hier um die Schilderung tatsächlicher Erlebnisse des Autors Johann Christian Schmidt handelt.

    Eine wahre Odyssee führte den aus Gera gebürtigen Verfasser nach 1700 im Nordischen Krieg zwischen Rußland und Schweden bis nach Sibirien, wo er zehn Jahre verbringt und an der ersten Sibirienexpedition des deutschen Forschers Messerschmidt teilnimmt. 1722 in die Heimat zurückgekehrt, tritt er in die Dienste des Grafen Heinrich VI. am reußischen Musenhof zu Köstritz und bringt dort seine Erlebnisse zu Papier. In der Neuausgabe des Verlages Weisser Stein werden Schmidts Sittenschilderungen von zeitgenössischen Radierungen des französischen Künstlers Le Prince zum russischen Volksleben begleitet, deren Originalvorlagen sich in den Sammlungen des Sommerpalais befinden.

    In einem weiteren regionalen Zusammenhang ist hier auch auf den einst im thüringischen Sondershausen beheimateten Dichter Johann Karl Wezel zu verweisen, einen Satiriker von hohen Graden, von dem zwei 1777/1778 veröffentlichte Erzählungen in der Taschenbuchreihe erschienen. Wezel muß so recht nach Michaels Geschmack gewesen sein und erhält auch in dem später bei Fischer verlegten Taschenbuch Die Thüringer pauschal seinen verdienten Platz als »illusionsloser Optimist, mitunter boshafter Feuerkopf, für die damaligen Verhältnisse ein Starsatiriker«.

    Auf Wezel hatte schon Arno Schmidt frühzeitig und eindringlich hingewiesen. Für ihn zählte Wezels Roman Belphegor neben Swifts Gulliver und Voltaires Candide zu den drei Büchern »des ehrwürdigsten Gott-, Welt- und Menschenhasses«. Und als Schmidt-Verehrer wußte Michael darüber auch schon in tiefster DDR-Vergangenheit Bescheid. Dies war auch später keinesfalls selbstverständlich. Denn als ich einmal davon sprach, im Sommerpalais eine Ausstellung zu Arno Schmidt zu veranstalten, fragte mich eine in höherer Institution tätige und promovierte Literaturwissenschaftlerin: »Wer ist Arno Schmidt?« Ja, es gab schon einige Defizite, denen man zu Leibe rücken konnte. Achtunggebietend war für mich auch die Mitteilung meines Freundes Dieter Steinmann aus Pirmasens, daß er Michael schon kurz nach der Wende kennengelernt hatte, und zwar in Schmidts Bargfelder Domizil.

    Natürlich wäre weiterhin über Michaels umfangreiches Buchprogramm mit namhaften Autoren, Illustratoren und Zeichnern auf dem Gebiet der Satire zu berichten. Gerade Zeichner wie F. W. Bernstein, Eugen Egner, Achim Greser & Heribert Lenz, Kriki, Nel, Yvonne Kuschel oder Nerling sollten ja bald auch für die Greizer Karikaturensammlung Satiricum von großem Interesse werden.

    Dankbar bin ich Michael, daß er von Anfang an tatkräftig mit dabei war, dem Satiricum neue Wege zu ebnen und vielfältige Kontakte herzustellen. So auch im Spätherbst 1992 auf einer Tagung im Sommerpalais mit Karikaturisten, Ausstellungsmachern und Galeristen aus der gesamten Bundesrepublik. Bei dieser »Ideenkonferenz« ging es darum, die Möglichkeiten zu erörtern, unter den gewandelten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen in Greiz wieder zentrale Karikaturenausstellungen zu veranstalten.

    Von den Teilnehmern wurde damals empfohlen, die Arbeit auf dem Gebiet der Karikatur neu aufzunehmen und für 1994 eine erste gesamtdeutsche Karikaturen-Triennale zu planen. Zuvor sollte jedoch erst einmal die Greizer Karikaturensammlung mit ihren historischen Schätzen möglichst bundesweit bekanntgemacht werden. Dieser Empfehlung folgend, wurde eine Ausstellung erarbeitet, die in zahlreichen Orten der alten Bundesländer gezeigt werden konnte. In enger Kooperation mit dem Verlag Weisser Stein erschien dann im Juni 1994 der repräsentative Ausstellungskatalog Drei Jahrhunderte Satire aus dem Sommerpalais Greiz.

    Ende August 1994 konnte schließlich die erste Triennale Greiz eröffnet werden, die einen aktuellen Überblick über die Tendenzen und Entwicklungen auf dem Gebiet von Karikatur, Cartoon und Komischer Zeichenkunst vermittelte. Der großformatige und anspruchsvoll angelegte Ausstellungskatalog mit eigens angefertigten Einbandzeichnungen von F. W. Bernstein und einem Frontispiz von Eugen Egner erschien wiederum, von Michael engagiert betreut, im Verlag Weisser Stein.

    Wie schon beim Katalog Drei Jahrhunderte Satire lagen die mustergültige Gestaltung und die Typographie in den bewährten Händen von Friedrich Forssman. Diese Publikation sollte der bisher schönste Triennale-Katalog bleiben. In den späteren Jahren war eine solche Zusammenarbeit aus vielerlei Gründen nicht mehr möglich. Insbesondere hatten Verlag und Museum sich mit einem stetig enger gesetzten finanziellen Rahmen auseinanderzusetzen.

    Zeichnung: Steffen Haas/Gunter Hansen.

    In der Folgezeit wurden unsere Begegnungen sporadischer, und Michael widmete sich zurückgezogen fast ganz seiner eigenen umfangreichen und anspruchsvollen Publikationstätigkeit. Dabei wußte ich aber von seiner zunehmenden psychischen Belastung, die ihn schließlich auch von Ausstellungseröffnungen fernhielt. Zuletzt trafen wir uns anläßlich der Gedenkausstellung für Manfred Bofinger am 14. Oktober 2006. Nach der Vernissage gab es abends noch ein geselliges Beisammensein, und Michael war später dazugekommen. Er wirkte gelöst und entspannt und sprach angeregt davon, nun im Keller seines Hauses mit dem Brauen eines eigenen Bieres zu beginnen. Der damals gewonnene Eindruck sollte sich jedoch als trügerisch erweisen. –

    Und doch glaubt man zuweilen, daß dies gar nicht wirklich und Michael noch da ist. Vor dem geistigen Auge sieht man ihn immer noch in der Ferne auf seinem Fahrrad ums Häusereck biegen, stets in Eile und auf dem Kopfsteinpflaster kräftig in die Pedale tretend.

    Zeichnung: Volker Kriegel.

    AUS DEN KOLONIEN (3) – LEBENSLAUF EINES UREINWOHNERS

    Michael Rudolf

    Am Anfang steht die Niederkunft meiner Mutter. Da diese von dem krankhaften Wahn besessen ist, Lehrerin werden zu müssen (so was nimmt man schließlich nicht ernst), geht das Erziehungsrecht an den Vater. Der leitet selbiges an seine Eltern weiter, da ein Psychologiestudium in Aussicht ist.

    Ich bin viel im Wald. Keine Kinderkrankheiten, dafür 5 x Loch im Kopf und 1 x Krätze über den ganzen Leib. Ich spiele mit Kindern, die Dialekt sprechen.

    Aufzucht in streng katholischem Haushalt. Großvater hätte wohl die Zeit gelesen, in Ermangelung dieser eben nur Hans Küng und Fouqué. Großmutter mit Offiziersmentalität, laut, viele Schläge (vor allem ins Gesicht), aber in der Caritas engagiert wie nur was. Ich räche mich bisweilen, indem ich mir vom Munde abgesparte Hostien versteigere oder mich an Meßwein (Insel Samos) berausche.

    Schule: marginale Rolle bei meiner Identitätsfindung. Suche zunächst Verbündete. Till Gutmann teilt meine politischen Auffassungen, die sehr stark in Richtung Anarchosyndikalismus tendieren. Nur noch wenige Theophanien. Der Rest der Schülerschaft neidet uns unseren Geist aufgrund früh keimender Dumpfheit. Die angezettelten Kolloquien mit dem Lehrkörper (zu unserem Weltbild) verlaufen unbefriedigend. 2 x Suizid angedroht (mit rostigem Messer). Zwischendurch im Alter von 6–7 Intermezzo bei o. g. Mutter. Das wirft mich in meiner politischen Arbeit enorm zurück. Ergebnis: erneutes Bettnässen, Weinkrämpfe, Phobie gegen Bergarbeiterstädte und deren Bevölkerung.

    Es folgen gewalttätige Spiele auf dem Hainberg (Bandenterritorium, dessen Gebiet ständiger Neuverteilung unterliegt). Dazu Schlachten ohne letalen Ausgang. Ich lasse mir jetzt die Haare über die Ohren wachsen, da ich berühmt werden möchte, also das Abitur machen. Grausiges Gymnasium mit größtenteils noch grausigeren Lehrern. Trage dort meine berüchtigte breitmaschige rehbraune Cordhose (bis knapp unter die Knie), ohne Erfolg. Lerne das Bier kennen. Schließe Freundschaft mit Bernd Dittrich, da ich erkenne, daß auch er berühmt werden wird. Mein zu Zwecken der Indianerimitation getragenes fettiges Langhaar reizt Lehrkörper wie Schülerschaft zu unreinen Äußerungen und sogar Drohungen. Eine Schuppenflechte kuriere ich durch triefende Schwefelsalbe. Unsere Combo (voc, git, git, dr) darf nur zweimal proben.

    Esse Würste und trinke viel Bier, bin daher kerngesund. Meine Termine mit dem Meinungsforschungsinstitut MfS enden unbefriedigend, schicke sie also fort. Auch die Flucht nach Polen zur Schwarzen Madonna in Czenstochau endet kurz nach dem Durchschwimmen der Neiße. 2 Tage Haft. Und: Beziehungen zu Polen gestört.

    Ich gründe mit Gleichgesinnten die Partei der Radikalen Mitte (1977). Bei der Parteiarbeit lerne ich die Frau kennen. Wir leben im Konkubinat.

    Dann kommt der Wehrdienst. Wenig schön und noch weniger lehrreich (Sprengstoffausbildung ungenügend). Hauptmann Schoknecht spricht: »Nehmen Sie das Handgranatenwurfkörper in der Hand, was Sie Wurfhand sind!« Meine weiteren Korrespondenzen mit den degenerierten Beutelschneidern, die sich als Offiziere ausgeben, enden zumeist in kleinen Zimmerchen, die ich allein bewohnen darf und deren Gitter das Eindringen von Fremden verhindern sollen, da sie meine Meditationen stören könnten. Nur Thomas Müller verhilft mir zu angemessener Geltung im Anwesen.

    Ich beschließe, Jurist zu werden. Zu diesem Zweck Studium in Halle. Die Professoren stört, daß ich alles schon weiß. An den Unterseiten der Bänke befinden sich Minirasenmäher in hoher Zahl mit ohrenbetäubendem Lärm, der mich am Schlaf hindert. Die etwas zu hagere Ines Leuchte (verh. Gräbner) sagt mir ständig falsch vor. Ich boykottiere daraufhin den Studienbetrieb endgültig nach dem zweiten Semester. Die Öffentlichkeit ist darüber noch nicht zu einer einheitlichen Meinung gekommen. Manche meinten, die Straßenbahnen jagten mir Angst ein, und andere machten die Mißgunst der Dozenten gegen mein bahnbrechendes Gedankengebäude (enthalten in meiner ersten und letzten Jahresarbeit im Fach Philosophie) für den Entschluß verantwortlich.

    Ich beschließe, Brauereidirektor zu werden. In der Firma probieren wir an einem Faßabfüllautomaten das Abtrennen von Gliedmaßen. Bei mir klappt es (Fingerkuppe rechter Ringfinger). Ich entdecke ein Hinweisschild: Amerika 3 km. Das stellt sich aber als Irrtum heraus. Nicht der einzige in meinem Leben.

    Meine Mitgliedschaft in der Partei der Radikalen Mitte ruht. Unsere Wohnung hat jetzt einen Fußboden, an den wir uns schnell gewöhnen. (Es geht also auch mit.) Nebenbei entwerfe ich flammende Reden politischen Inhalts. Thomas M. inzwischen verstorben, Bernd D. berühmt und beim Fernsehen, Till G. irgendwo in der Weltgeschichte. Gebe Politik als Quelle von Ruhm und Reichtum wieder auf. Derweil revoltieren die hiesigen Eingeborenen.

    Die Bierfabrik läßt mich nur unter dem Versprechen ziehen, daß ich auch allein reich und berühmt werde. Also gut. Mache wieder neue Bekanntschaften, darunter der Weltgeist, das kollektive Unbewußte und das Maggi-Kochstudio. Dirk Jurkschat wird mir durch sein profundes Verständnis jedweder Untergrundtätigkeit lieb. Daneben erfinde ich die Burgruine Liebau, um über sie ein Buch schreiben zu können (Auflage 1000 Expl.).

    Ich beschließe, wieder Hosen zu tragen. Auf einer erholsamen Wanderung durch die Niederungen des Elbsandsteingebirges verschalle ich.

    Schade eigentlich.

    Titanic 1/1992

    AUS DEN KOLONIEN (4) – GREIZ

    Michael Rudolf

    Während andere Städte im Beitrittsgebiet mit wirklich zeitgemäßen Skandalen Aufsehen erregen, haben wir heute ein Beispiel ausgewählt, das mehr ob seiner ungeheuren Harmlosigkeit so kreuzgefährlich ist. Greiz liegt im Vogtland, einem intellektuell völlig

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