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Die Skrupellose - Schweden-Krimi
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Die Skrupellose - Schweden-Krimi
eBook452 Seiten5 Stunden

Die Skrupellose - Schweden-Krimi

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Über dieses E-Book

Spannung pur aus Schweden! Im nördlichen Schweden gründet Janna eine feministische Wohngemeinschaft. Um weibliche Nachkommen zu sichern, beschließt Jannas Freund, ein kleines Mädchen zu entführen. Schnell bereut er seine Tat und will das Mädchen zurückbringen, doch Janna stellt sich ihm in den Weg. Für den Erhalt ihrer Gemeinschaft ist sie bereit, alles zu tun - auch wenn sie dafür töten muss...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum16. März 2020
ISBN9788726445015
Die Skrupellose - Schweden-Krimi

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    Buchvorschau

    Die Skrupellose - Schweden-Krimi - Inger Frimansson

    www.egmont.com

    I

    1. Magda

    Das Mädchen trug ein hellgelbes Kleid, das aus mehreren Lagen dünnen Stoffs genäht war. Seine Haare waren aus dem Gesicht gekämmt und wurden von einem Perlendiadem zusammengehalten, was einigermaßen grotesk aussah, da ein so wertvolles Schmuckstück nicht für ein Kind, sondern für eine erwachsene Frau bestimmt war.

    Das ist von ihm, dachte Magda. Das hat sie von Florian bekommen. Das sähe ihm ähnlich.

    Die Mutter des Mädchens hatte es wie üblich eilig. Als sie Angelicas Tasche an den Haken hängen wollte, stolperte sie und wäre beinahe hingefallen. Das Mädchen hatte die Arme halb erhoben. Seine Mutter gab ihm einen flüchtigen Kuss.

    »Mama muss sich beeilen, Mama muss zur Arbeit, tschüss, Kleines, tschüss.«

    »Wir sehen uns dann heute Nachmittag«, sagte Magda. »Herzlich willkommen zu unserem Fest.«

    Angelicas Mutter nickte, rückte ihre Handtasche zurecht und eilte davon.

    Das Kind stand mit dem Gesicht zur Wand und weinte, aber nicht laut.

    Magda nahm den Kleidersaum zwischen die Finger.

    »Du bist aber schön«, sagte sie.

    Das Mädchen rührte sich nicht.

    »Hast du dich so fein gemacht, weil wir heute ein Fest feiern?«

    Ein Zittern lief durch den Körper des Kindes, dann nickte es langsam.

    »Und dann dieses tolle Diadem«, fuhr Magda fort. »Das hast du bestimmt von deinem Papa bekommen, nicht wahr?«

    Das Mädchen fuhr herum.

    »Papa ist lieb«, sagte es schnell.

    »Ja, klar. Er ist lieb. Jetzt gehen wir hinein und frühstücken.«

    Als sie das Kind an die Hand nahm, spürte sie, wie warm das Mädchen war, richtig heiß. Angelica musste Fieber haben. Das machte ihre Mutter nicht zum ersten Mal. Sie brachte ihre Tochter, winkte und hastete davon, um die U-Bahn nicht zu verpassen. Angelica weinte in der Regel ein bisschen, beruhigte sich jedoch rasch wieder und begann zu spielen. Sie war ein geduldiges Kind. Und es war nicht ungewöhnlich, dass Kinder ein paar Tränen vergossen, wenn ihre Mütter oder Väter sie in den Kindergarten brachten. Im Übrigen war Angelicas Mutter nicht die Einzige, die ihnen ein krankes Kind brachte. Am Vortag war es Axel gewesen. Grüngelber Rotz war ihm aus der Nase gelaufen, und er hatte mit Sicherheit schon die halbe Gruppe angesteckt, bis sie seine Mutter erreichen konnten.

    Carita, die Leiterin des Kindergartens, hatte daraufhin ein ernstes Wort mit ihr geredet.

    »Das ist sowohl dem Personal als auch den anderen Kindern gegenüber unfair. Ganz zu schweigen von den anderen Eltern, die immerhin auch arbeiten gehen müssen.«

    Carita konnte ganz schön bissig werden. Ein richtiger Besen.

    Axels Mutter hatte versucht, sich herauszureden.

    »Das ist kein normaler Schnupfen, er ist nur allergisch, Auf unserer Treppe saß heute Morgen eine Katze, und ehe ich Axel daran hindern konnte, war er auch schon zu ihr gelaufen. Er hat sofort angefangen zu niesen. Und Allergien sind ja wohl nicht ansteckend.«

    Als sie gegangen war, hing in der ganzen Einrichtung eine Parfümwolke. Magda dachte, wenn Axel wirklich Allergiker ist, sind derart starke Gerüche in seiner unmittelbaren Nähe sicher nicht gut. Aber streng genommen ging sie das natürlich nichts an, und deshalb hatte sie auch nichts gesagt.

    Es war sinnlos zu versuchen, Eva, Angelicas Mutter, noch zu erreichen. Sie saß mit Sicherheit schon in der U-Bahn. Außerdem war heute Donnerstag. Freitags hatte Eva immer frei, sodass ihre Tochter ein paar Tage Zeit haben würde, wieder gesund zu werden. Vielleicht war das Fieber ja auch gar nicht so schlimm, vielleicht lag es eher am Wetter. Der Frühling war ungewöhnlich früh und mit fast schon extremer Wärme gekommen. Ein Hochdruckgebiet löste das andere ab, und es spielte keine Rolle, dass die Wetterfrösche im Fernsehen regelmäßig verschüchterte, kleine Tiefdruckgebiete in die Wetterkarten einzeichneten. Die sommerlichen Temperaturen hielten an.

    Es war ein guter Tag für ein Fest. Der Kindergarten Buschwindröschen, an der Grenze zwischen Hässelby strand und Hässelby gård, feierte zwanzigjähriges Bestehen. Bereits im Februar hatte das Personal begonnen, alles zu planen, und unter anderem beschlossen, jede Menge Buschwindröschen zu pflücken und auf dem Hof in große Vasen zu stellen. Doch in dem Punkt hatte man die Rechnung ohne das Wetter gemacht. Obwohl es erst Anfang Mai war, waren die Buschwindröschen längst verblüht. Maiglöckchen hatten ihre grünen Speere in die Höhe gestreckt, und dicker, gelber Löwenzahn bedeckte die Wiese hinter dem Zaun.

    »Ihr werdet zum Wald gehen müssen«, entschied Carita. »An schattigen Stellen gibt es bestimmt noch Buschwindröschen. Wir werden sicher anders schmücken müssen als geplant, aber einen kleinen Strauß brauchen wir trotzdem. Die Blumen haben immerhin symbolischen Wert für uns.«

    Die Kinder waren lebhaft und aufgekratzt. Am Nachmittag würden ihre Eltern kommen, man würde Luftballons aufblasen und es sollte Kuchen und Würstchen geben. Sie hatten Blumen auf weiße Blätter gemalt, die mit Wäscheklammern an einer Schnur entlang der Hauswand aufgehängt werden sollten. Einige Kinder durften dabei helfen. Die anderen gingen mit in den Wald.

    Magda bereitete für Angelica einen Kinderwagen vor. Darin konnte sie sich ausruhen und würde es ruhiger haben als im turbulenten Kindergarten. Die Augen des Mädchens waren glasig. Es lutschte am Daumen und wirkte auf einmal jünger als vier Jahre. Magda kippte die Rückenlehne nach hinten und schob dem Mädchen ein Kissen in den Nacken. Es war etwas windig, aber der Wind war nicht erfrischend, sondern warm.

    Als sie den Wald erreichten, war Angelica schon eingeschlafen. Die Haare hingen ihr in feuchten Locken in die Stirn. Das Diadem war verrutscht und schien zu drücken, weshalb Magda es ihr vorsichtig aus den Haaren zog und unter das Kissen legte. Es war schwer, so als wäre es tatsächlich aus massivem Gold. Sie stellte den Wagen an einer der mächtigen Eichen ab. Das Mädchen konnte ruhig eine Weile schlafen, dann würde es ihm anschließend vielleicht schon besser gehen und es würde das Fest eher durchstehen. Magda blieb in der Nähe des Kinderwagens und ließ die Kinder in der unmittelbaren Umgebung Blumen suchen. Man musste sie im Auge behalten, denn etwas unterhalb war gleich die Straße. Man durfte hier zwar nur dreißig fahren, aber die Schilder brachten nicht viel, die Leute fuhren trotzdem wie die Irren.

    Etwas weiter weg sah sie Kattis, die mit ein paar Kindern tiefer in den Wald hineinging. Kattis war neu. Sie hatte erst vor einer Woche angefangen. Die Kinder schienen sie zu mögen, manche Menschen waren eben wie geschaffen für diesen Job. Magda würde ihn nur für kurze Zeit machen, höchstens noch ein Jahr oder so. Bis ihr klar wurde, was sie auf Dauer beruflich machen wollte.

    Sie drehte sich um und sah, dass der Kinderwagen noch im Schatten stand. Ein Nesselfalter tanzte über dem Gras, stieg auf und sank herab und landete schließlich auf Angelicas Sandale.

    »Kommt her!«, rief Kattis. »Kommt, Kinder! Hier gibt es ganz tolle Blumen!«

    Sie sah die Kinder losrennen, kleine Menschenminiaturen in hellen Baumwollkleidern, kleine Puppen mit einem Eigenleben. Eines Tages würden sie Erwachsene, Bankdirektoren, Bibliothekare, Kosmetikerinnen sein, die mit hängender Zunge ihre Kinder in den Kindergarten brachten. Und sie selbst würde eines Tages wohl auch Mutter werden. Aber das hatte noch Zeit, sie war erst 23. Früher hatte sie davon geträumt, Journalistin zu werden, aber nicht ganz verstanden, dass man sich mächtig ins Zeug legen musste, um einen Studienplatz zu bekommen. Sie hätte einfach mehr lernen und den Lehrern um den Bart gehen müssen, hätte versuchen müssen, bessere Noten zu bekommen. Nein, sie war die Schule jahrelang leid gewesen und hatte gejobbt, statt sich weiterzubilden. Außerdem hatte sie das Geld gebraucht.

    Im Unterholz, zwischen den Wurzeln, konnte man etwas Weißes sehen, ein paar dünne, blasse Buschwindröschenstiele. Sie ließ sich auf die Knie sinken, und der Boden piekste, denn er war mit Tannennadeln und Resten alter Tannenzapfen übersät. Als sie die Blume pflückte, fielen die Blütenblätter ab und lagen wie Schuppen im Gras.

    »Shit«, murmelte sie.

    Sie wollte gerade wieder aufstehen, als sie den Schrei hörte, den schrillen Schrei eines zu Tode erschreckten Kindes. Er kam aus der Gruppe weiter unten. Sie rührte sich nicht und lauschte.

    »Magda«, rief Kattis und ihre Stimme klang angespannt. »Wo bist du? Komm bitte schnell her!«

    Sie sprang auf die Füße und rannte los, die Haare wurden ihr aus der Stirn geweht. Dann war sie bei den anderen, die Kleinen klammerten sich mit feuchten, erdigen Fingern an sie. Auf dem Waldboden lag Jens. Sein Fuß war verdreht, und er schrie so, dass ihm die Luft wegblieb.

    »Was ist los?«, keuchte sie. »Mein Gott, was ist denn passiert?«

    Kattis starrte Magda an.

    »Er sagt, da war eine Schlange«, flüsterte sie.

    Magda ging neben dem brüllenden Kind in die Hocke, zog den Jungen an sich, wiegte ihn. Seine Kopfhaut roch nach Schweiß. Nach süßem, klebrigem Kinderschweiß.

    »Wir wollen mal schauen, Jens, ist ja gut, ist ja gut, beruhige dich, dann gucken wir mal nach.«

    Sie zogen ihm Schuhe und Strümpfe aus. Seine Knöchel waren glatt, es gab keine Wunden oder Abdrücke.

    »Mein Gott, im ersten Moment habe ich gedacht, er hätte sich was gebrochen«, sagte Magda. Ihr T-Shirt war am Rücken ganz feucht. Kattis nickte.

    »Ich auch.«

    »Hast du eine Schlange gesehen, Jens?«, fragte sie dann und hielt den Kopf des Jungen, der sich ein wenig beruhigt hatte und kaum noch schluchzte. »Meinst du wirklich, es war eine Schlange?«

    Magda blickte auf, die Kinder hatten sich um sie versammelt, ihre Gesichter waren ausdruckslos und wachsam. Bis auf das von Johan. Er hielt etwas hinter seinem Rücken versteckt, und sein kleines Gummigesicht war vor unterdrücktem Lachen ganz verzerrt.

    »Johan!«, sagte Magda. »Was hast du da in der Hand?«

    Daraufhin öffnete sich sein Mund zu einem Lachanfall, der den Jungen geradezu wimmern ließ. Er holte den Arm mit einem Ruck nach vorn: Seine Hand umklammerte ein Stück von einem alten Fahrradschlauch, das hin und her pendelte. Der Junge prustete los.

    »Hier ist meine Schlange! Und die kann richtig beißen.«

    Vor Erleichterung fühlte sie sich ganz matt.

    »Also gut. Jetzt müssen wir aber voran machen!« Sie sprach schnell und entschlossen, musste es ihren kleinen Gehirnen eintrichtern: »Wir sind hergekommen, um Blumen für euren Kindergarten zu pflücken, der heute Geburtstag hat. Genau wie ihr manchmal. Und heute Nachmittag feiern wir dann, wenn alle Mamas und Papas kommen.«

    Sie gab ihrer Stimme einen anspornenden Tonfall, und es klappte. Sie kamen wieder in Bewegung, schossen los wie bunte Bälle.

    Unvermittelt dachte sie: Angelica!

    Ja, genau.

    Angelica.

    Sie musste zurückgehen, um den Wagen zu holen, und sie musste sich beeilen. Das Mädchen war vielleicht aufgewacht, hatte Durst und musste etwas trinken, in dem Korb unter dem Wagen war Saft.

    »Ich geh nur schnell Angelica holen«, rief sie Kattis hinterher.

    Der Wagen stand noch genauso da, wie sie ihn verlassen hatte. Jedenfalls kam es ihr so vor. Im Schatten, das Verdeck halb hochgeklappt. Ja. Der Wagen stand noch so da, wie sie ihn zurückgelassen hatte.

    Aber nicht ganz.

    Das Mädchen, das in ihm gelegen hatte, war nicht mehr da.

    Es war verschwunden.

    2. Daniel

    Zur Not konnte man immer noch unter den Brücken schlafen. So lange es Sommer war, würde das hervorragend gehen. Daniel hatte Spuren von Leuten gesehen, die das taten. Aufgeschlagene, etwas zerrissene Zeitungen, ein paar Stofffetzen. Einen Pappkarton, in den man den Kopf stecken konnte, wenn es einem zu hell wurde. Wie das Verdeck eines Kinderwagens. So würde sich die Wohnungsfrage lösen lassen.

    Allerdings natürlich nur, wenn nicht schon alle Plätze besetzt waren. Er hatte keine Lust auf Handgreiflichkeiten. Es gab sicher auch solche und solche Brücken, einige waren bestimmt weniger beliebt als andere. Die Brücke, die nach Solna hinüberführte, war doch zum Beispiel fast schon eine Vorortbrücke. Dort würde man bestimmt kampieren können. Zumindest jetzt, im Sommer.

    Aber was war im Winter?

    Er nahm die Rolltreppe am Fridhemsplan und lief durch die U-Bahn-Station. Er ging mit langen Schritten, so als könnte er jeden Moment gezwungen sein zu laufen. Intensiver Uringeruch schlug ihm entgegen. Es gab Leute, die hier unten übernachteten, das war natürlich auch ein Ausweg. Er wusste, wer sie waren, er erkannte sie. Aber er konnte nicht behaupten, dass er sich nach ihrer Gesellschaft sehnte.

    Ach was. So weit brauchte es ja nicht zu kommen. Vielleicht überlegte Ulrika es sich noch einmal anders und ließ ihn weiter bei sich wohnen. Sie hatte auch früher schon versucht, ihn hinauszuwerfen, ihn dann aber immer wieder bei sich aufgenommen. Sie brauchte ihn. Er würde es ihr zeigen: Du brauchst mich, wir sind füreinander bestimmt.

    Er kam zu einem der großen Mietshäuser in der Industrigatan, in dem er das Treppenhaus und die Aufzüge putzte. Man verdiente nicht viel damit, aber immerhin etwas. Außerdem war es relativ leicht verdientes Geld. Im Sommer war es nicht besonders dreckig, schlimmer war es da schon im Frühling, wenn die Leute Lehm und Hundekot ins Haus trugen.

    Tragen, trug, getragen, dachte er auf Deutsch.

    Er gab den Türcode ein und betrat das Haus. Er nahm die Hintertür. Hier unten lagen der Fahrradkeller, die Waschküche und eine eigene Tür für die Müllabfuhr, damit die Männer nicht um das ganze Haus herumgehen mussten. Jetzt hatten sie schon eine Weile nicht mehr geleert, und der ganze Flur stank nach Ruß und faulen Eiern.

    Er öffnete die Tür zu seiner kleinen Abstellkammer, in der die Putzsachen aufbewahrt wurden. Der Schlüssel hakte ein bisschen, das hatte er schon immer getan. Der Vermieter hatte ihn angewiesen, den Schlüssel nachschleifen zu lassen, aber das gehörte zu den Dingen, aus denen nie etwas wurde. Im Grunde fand er, war es Sache des Vermieters, dafür zu sorgen, dass seine Angestellten ordentliche Schlüssel bekamen. Er als Arbeitnehmer brauchte sich um so etwas doch wohl nicht zu kümmern! Es machte ihn wütend, daran zu denken. Seine Bewegungen wurden ruckhaft. Wasser in den Eimer, ein wenig Schmierseife, ganz gewöhnliche Schmierseife, aber nicht so viel, dass der Boden glatt wurde und irgendeine verdammte alte Schachtel hinflog und sich einen Oberschenkelhalsbruch holte. Aber genug, um die grauen Flecken eingetrockneten Drecks wegzukriegen.

    Er begann mit dem Aufzug, schrubbte erst und wischte anschließend mit dem Aufnehmer nach. Es war immer das Gleiche, irgendwer drückte immer genau in dem Moment den Knopf, sodass er manchmal mehrmals auf und ab fuhr, während er in dem kleinen Aufzug stand und putzte.

    Leute stiegen ein und aus, aber nicht alle grüßten ihn. Anfangs hatte er noch versucht, höflich zu sein, hatte locker Hallo gesagt oder auch guten Tag, wenn die Person schon etwas älter war. Es gab Leute, die einem darauf keine Antwort gaben, und dann versuchte er, es nicht persönlich zu nehmen.

    Andererseits gab es auch einige, die sich gerne unterhielten und einen gar nicht mehr gehen lassen wollten.

    »Kommen Sie doch mit, ich lade Sie zu einer Tasse Kaffee ein«, hatte ihn eine dieser alten Schachteln immer wieder eingeladen. Sie trug meistens eine bekleckerte, karierte Hose und hatte kleine, blutunterlaufene Augen.

    Ein einziges Mal war er mitgegangen. Die Frau wohnte in einer Einzimmerwohnung, die mit verstaubtem Nippes voll gestopft war. Ihre Hände zitterten, als sie Kaffeepulver in den Filter gab. Er hatte wie auf Kohlen gesessen. Der Kaffee war schwach, aber heiß gewesen, und er hatte sich die Zunge verbrannt. Von da an hielt er sie sich vom Leib.

    »Ich habe leider keine Zeit.« Er hatte ihren Vornamen vergessen. S. stand an der Tür. S. Andersson, er wollte nicht daran erinnert werden, sich nicht erinnern. Schabracke Andersson.

    Auf ihrer Etage musste er immer besonders schnell schrubben. Aber er wusste genau, dass sie hinter der Tür war, er spürte ihren Blick durch den Spion. Er war wie ein Laserstrahl, wenn er ihm zu nahe kam, würde er den Alarm auslösen. So ließ er seiner Fantasie freien Lauf, um stärker zu werden. Es galt, weiterzuschrubben, die abgetretene Treppe feucht zu machen, zu wienern und zu wischen, sich aber stets von dem Strahl fern zu halten.

    Du bist kindisch, schoss es ihm manchmal durch den Kopf. Dann wurde er beinahe wütend auf sich selbst.

    Aber es war eben ein Weg, die Arbeit erträglich zu gestalten.

    Eine andere Möglichkeit waren die Namensschilder auf den Türen, zu denen man sich etwas einfallen lassen konnte. Buxterhud zum Beispiel. Wie mochte jemand aussehen, der so hieß? Er hatte noch nie jemanden aus dieser Wohnung kommen sehen, stellte sich aber einen großen und angeberischen Kerl mit breitem Kreuz vor. Wenn er schlampig schrubbte und Buxterhud ihn dabei erwischte, dass er es mal nicht so genau nahm, würden sich die krallenartigen Finger des Mannes in seinen Nacken bohren und er in Buxterhuds kleinen Flur geschleift werden. Manchmal bekam er eine Erektion, wenn er sich vorstellte, was hinter dieser Tür alles geschehen könnte.

    Mittlerweile hatte er sich schon in die vierte Etage heruntergearbeitet. Trotz der Wärme kam er heute schnell voran. Das halbe Haus war fertig, allerdings kam der Flur im Keller noch hinzu. Andererseits war es dort unten dunkel, es gab kein entlarvendes Sonnenlicht. Wenn er diese Etage fertig hatte, würde er frisches Wasser holen müssen. Er drehte sich um und summte, hier ging die Arbeit leicht von der Hand, es stand nicht jede Menge Zeug vor den Türen wie an anderen Stellen im Haus: Kinderwägen, Fahrräder, leere Getränkekästen und Müll. Im Grunde war das verboten. Aber wer war er, so etwas zu beanstanden?

    Die Leute darauf ansprechen? Nein, das war bestimmt falsch. Was hieß wohl beanstanden auf Deutsch?

    Er hatte sich vorgenommen, Deutsch zu lernen. Seit fast einem Jahr paukte er nun, und schuld war sein Buder Jerry. Man könnte auch sagen, es war sein Verdienst. Sie waren im Tre backar ein Bier trinken gewesen, einer Kneipe mit Bücherregalen an den Wänden. Ein Buch war auf ihrem Tisch liegen geblieben, jemand hatte vergessen, es zurückzustellen. Daniel spielte damit und las plötzlich laut vor:

    »Der Tod in Venedig.«

    Der Tod.Aber er hatte das Wort schwedisch ausgesprochen, das O als ein U gelesen.

    So etwas hätte er niemals getan, wenn er nicht getrunken hätte, nicht in Jerrys Gegenwart, denn Jerry war jemand, der immer alles besser wusste. Er hatte Daniel das Buch aus der Hand genommen und mit überdeutlicher Stimme seine Aussprache korrigiert:

    »Der Tood in Venedig. Von Thomas Mann.«

    »Na und?«

    »Das ist Deutsch. Man spricht es mit O. Es bedeutet Tod. Falls du das nicht wusstest.«

    Es war doch klar wie Kloßbrühe, dass er das nicht wusste. Er hatte nie Deutsch gelernt, war ohnehin nicht sonderlich sprachbegabt und generell keine große Leuchte in der Schule gewesen.

    Erst wurde er wütend. Konnten die nicht so schreiben, dass man es als Schwede richtig aussprach? Stattdessen machten sie es einfachen Leuten wie ihm absichtlich schwer. Musterten sie aus, schufen Klassenunterschiede. Aber er konnte auch verdammt stur sein. Als er an jenem Abend nach Hause ging, hatte er seinen Entschluss gefasst.

    In seinem Elternhaus fand er eine deutsche Grammatik, die seine Mutter benutzt hatte, als sie jung war. Sie hatte den Umschlag mit Blumengirlanden verziert, Kurzgefaßte deutsche Grammatik von Hjalmar Hjort und Sven Lide. Er nahm sich unverzüglich die Ausspracheregeln vor und wäre bereits daran fast gescheitert.

    Doch zu der Zeit hatte er Ulrika kennen gelernt.

    Und sie konnte verdammt gut Deutsch.

    Jetzt wischte er vor der letzten Tür in der vierten Etage. J. Bosch stand auf dem Namensschild, vielleicht war der Mieter ja Deutscher, J. Bosch. Sollte er klingeln und fragen? Irgendetwas sagen? Eine der Phrasen vorbringen, die er auswendig gelernt hatte?

    Denen, die tapfer sind, steht die Welt offen.

    Die Tür öffnete sich unvermittelt und eine Frau trat in den Flur hinaus. Sie schaute sich um, zog anschließend die Tür hinter sich sehr nachdrücklich zu und schloss ab. Sie war älter als er, ein paar Jahre vielleicht. Höchstens 35, ein breiter Hintern, um den sich ein eng sitzender Rock spannte, sodass er die Passform ihres Slips sah. Sie hatte blonde Haare, die nachlässig zu einem Knoten hochgesteckt waren. Da war etwas mit ihren Augen, sie starrten ihn an und brannten ihn in die Wand.

    »Hallo«, entfuhr es ihm.

    »Hei. Du bist das also, der hier putzt?«

    Er nickte.

    Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen. Ihre Beine schimmerten irgendwie. Als sie die Tür zum Aufzug öffnete, drehte sie sich noch einmal um und lächelte ihm zu.

    »Wie heißt du?«

    »Daniel.«

    »Keep smiling, Daniel. Keep smiling.«

    Sie ging ihm den ganzen Weg bis nach Vällingby nicht mehr aus dem Sinn. Er saß in der U-Bahn und musste dauernd an sie denken.

    »Keep smiling, Daniel. Keep smiling.«

    Ihre Art, seinen Namen auszusprechen, fast wie Dánniel. Ihre raue, etwas heisere Stimme. Als hätte sie in ihrem Leben viel geschrien.

    Bei Orgasmen?

    Er schloss die Augen und versuchte sich an ihr Aussehen zu erinnern, eine schmale Taille, er würde sie mit den Händen umfassen können, und üppige Hüften, sie hatte einen kurzen Rock getragen, der nur den halben Oberschenkel bedeckte, und ein T-Shirt, ihre Haut war glänzend und braun gewesen.

    Es gibt andere Frauen, dachte er. Zum Teufel, es gibt auch noch andere Frauen als Ulrika. Wenn ich ihr nicht mehr gut genug bin.

    Aber ich könnte sie vielleicht überraschen.

    Mit einer Flasche Wein. Und einem Strauß Rosen. Nein, das geht zu weit, der Wein muss reichen. Im Grunde kann ich mir nicht einmal den leisten.

    3. Magda

    Sie konnte es nicht glauben, es einfach nicht akzeptieren. Sie hob das Kissen hoch, so als hätte Angelica platt wie eine Briefmarke darunter liegen können. Das Kissen fiel ins Gras, und das Diadem holperte davon. Sie hob es wieder auf. Ihre Bewegungen waren schwerfällig und steif. Sie hielt das Diadem in der Hand und hörte, wie sich ihre Lippen mit einem schmatzenden Laut öffneten.

    »Angelica!« Ihre Stimme überschlug sich krächzend, und sie rief erneut, diesmal jedoch lauter, schneller. Ihr Mund war ausgedörrt, sie betrachtete die Saftflasche, griff aber nicht danach.

    Der Saft ist für sie, sie braucht ihn dringender als ich. Wenn sie kommt. Kommt?

    Aber sie hatte doch geschlafen. Sie lag doch im Wagen und schlief.

    »Magda?« Kattis kam den Hügel hinauf. Kattis und die Kinder. Magda zählte sie durch. Nein, keine Angelica.

    »Was ist los, Magda, was ist mit dir?«

    »Angelica. Sie ist nicht hier.«

    »Was heißt, nicht hier?«

    »Du siehst es doch selbst!«

    »Aber sie kann doch nicht einfach verschwunden sein.«

    Die Straße!

    Der Gedanke schnürte ihr den Magen zu. Was, wenn sie herausgeklettert und zur Straße hinuntergelaufen war.

    »Bleibt hier!«, schrie sie und lief los. Auf der Mitte des Hangs rutschte sie aus und fiel aufs Steißbein, was höllisch wehtat. Sie schluchzte kurz, kam wieder auf die Beine und übersprang mit einem Riesensatz den staubigen Straßengraben.

    Die Straße war fast leer. In der Ferne ging eine Frau mit zwei Hunden, einem kleinen und einem großen.

    Magda rannte los. Da vorn war ein Mensch, den sie fragen konnte. Sie lief so schnell, dass ihr Brustkorb schmerzte.

    Als sie näher kam, hielt die Frau die Hunde kürzer an der Leine. Der kleinere war nur ein Welpe.

    »Ich suche ein Mädchen, vier Jahre alt, dunkle Haare und gelbes Kleid. Haben Sie es vielleicht gesehen?«

    Die Frau schüttelte den Kopf.

    »Sind Sie sicher?«

    »Was ist denn los, ist sie etwa verschwunden?«

    »Jaaa«, sagte Magda jammernd.

    »Nein, tut mir Leid, ich habe kein Kind gesehen. Aber ich werde die Augen offen halten, das verspreche ich Ihnen.«

    »Sie hat auch noch Fieber! Sie ist krank!«

    Die Frau warf ihr einen traurigen Blick zu.

    »Ich werde wirklich die Augen offen halten.«

    Sie musste umkehren und zurücklaufen, den ganzen langen Hang hinauf, so schnell sie konnte. Auf der Hügelkuppe warteten Kattis und die anderen Kinder.

    »Nein«, keuchte sie. »Da war sie nicht. Oh Gott, was sollen wir nur tun?«

    »Ich dachte, sie schläft«, sagte Kattis.

    »Das hat sie auch. Sie ist doch krank, sie hat Fieber. So ein Mist! Wenn Eva sie zu Hause behalten hätte, wäre das nie passiert.«

    »Aber sie muss hier doch irgendwo sein. Man verschwindet nicht einfach so. Vielleicht hat sie sich versteckt, um uns einen Streich zu spielen.«

    »Ach was, Angelica doch nicht, so etwas würde sie niemals tun.«

    Magda packte einen Jungen und schüttelte ihn.

    »Habt ihr sie gesehen? Wenn ihr sie gesehen habt, müsst ihr es uns erzählen! Sofort! Auf der Stelle! Sonst bringe ich euch um! Und es gibt kein Fest, das kann ich euch versprechen!«

    Sie wirkten verängstigt, wussten aber offenbar nichts.

    »Wir müssen sie suchen«, schrie sie. »Verteilt euch! Sucht hinter allen Bäumen und Sträuchern, sucht überall!«

    Hinterher fragte sie sich, was am schwersten gewesen war. Hinterher, als sie in ihrer Wohnung saß und einen Tee zu trinken versuchte. War es der Moment gewesen, in dem sie den verlassenen Kinderwagen entdeckt hatte? Ihr Körper hatte mit wachsender Übelkeit reagiert.

    Ich habe sie als Letzte gesehen. Ich war für sie verantwortlich.

    Oder war es noch schlimmer gewesen, als sie erkannten, dass sie das Mädchen nicht finden würden? Sie hatten überall nach Angelica gesucht und die Kinder hatten ihnen geholfen. Sie waren sehr bedrückt gewesen und einige hatten geweint.

    Sie dachte: Das Fest.

    Mitten in dem ganzen Chaos dachte sie an das Fest und daran, dass es nun kein Fest geben würde.

    Die Kinder hatten sich so auf diesen Tag gefreut.

    Oder war es am schlimmsten gewesen, in den Kindergarten zurückzukehren und Carita Auge in Auge gegenüberzustehen?

    »Was zum Teufel sagst du da?«, fragte sie mit ihrem schleppenden, finnischen Akzent.

    Sie hatte es noch einmal wiederholen müssen. Es ist etwas Schreckliches passiert, es geht um Angelica, sie ist verschwunden.

    Vor Scham und Entsetzen war ihr ein Schauer über den Rücken gelaufen.

    Carita hatte ausgesehen, als würde sie ihr am liebsten eine Ohrfeige geben. Sie hatte Kattis angebrüllt: »Steh hier nicht dumm rum, sieh lieber zu, dass die Kinder etwas zu essen bekommen! Die Essenszeit ist längst vorbei, sie müssen ja nicht auch noch verhungern.«

    Anschließend hatte sie die Bürotür so heftig zugeschlagen, dass ein kleines Keramikbild vom Haken fiel und in zwei gleich große Teile zersprang.

    »Du kommst also her und sagst mir allen Ernstes, dass eines unserer Kinder verschwunden ist? Begreifst du eigentlich, was du da sagst? Begreifst du, was das bedeutet? Begreifst du, dass wir, du und ich, für diese Kinder verantwortlich sind?«

    So viel überflüssiges Gerede. Magda hatte an der Wand gelehnt und gedacht, hör auf. Hör auf, du verdammte Hexe, es war nicht meine Schuld und auch nicht die von Kattis. Keiner von uns ist schuld, es hat keinen Sinn, nach Sündenböcken zu suchen.

    Aber Carita hatte nicht aufgehört.

    »Habt ihr auch wirklich überall gesucht?«

    »Ja, natürlich haben wir das.«

    »Wie konntest du den Wagen einfach so stehen lassen? Wie konntest du dich nur so verantwortungslos verhalten?«

    »Aber ich habe dir doch schon gesagt, dass es nur für ein paar Minuten war. Ich dachte, ich hätte sie die ganze Zeit im Blick.«

    Caritas Mund wurde runzlig, verengte sich zu einem kleinen Loch.

    »Dachtest du!«

    »Wenn Jens nicht geschrien hätte, wenn Johan nicht diesen Fahrradschlauch gefunden hätte.«

    »Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär.«

    Caritas Fenster stand einen Spaltbreit offen. Eine Bachstelze trippelte draußen auf den Steinplatten herum und schnappte nach einer Fliege. Magda beobachtete sie, ohne wirklich etwas zu sehen. Sie hatte das Gefühl, ein Band hätte sich um ihren Kopf gespannt, ein Band, das immer fester gezogen, das pochend und rot über ihre Lider gezerrt wurde.

    »Bitte, Carita«, sagte sie mit belegter Stimme, »ruf jetzt bitte die Polizei. Das ist das Einzige, was wir noch tun können.«

    4. Daniel

    Er entschied sich für einen französischen Wein, der fünfzig Kronen kostete und Le Bistro hieß. Er kaufte auch eine Plastiktüte, obwohl das eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Für einen Donnerstagnachmittag waren erstaunlich viele Leute im staatlichen Alkoholgeschäft. Er hatte Wartenummer 152 gezogen, und als er eintrat, wurde gerade Nummer 87 bedient. Folglich würde er eine Zeit lang warten müssen, aber das machte nichts. Er brauchte ohnehin etwas Zeit, um die Kraft zu sammeln, Ulrika gegenüberzutreten.

    In der Ferne hörte man Sirenen, es musste etwas Größeres passiert sein, ein Verkehrsunfall oder ein Brand. Das Geräusch wurde lauter und leiser, wie die Rufe entfernter Vögel.

    Als er von der Bank aufstand, klebte seine Hose an der Unterseite der Oberschenkel. Er dachte, dass er duschen musste, denn sonst würde sie sich über seinen Geruch aufregen.

    Ein Despot war sie.

    Eine Despotin.

    Aber hatte er denn eine Wahl?

    Sie hatten sich vor knapp einem Jahr bei einer Fete kennen gelernt. Sie hatte ihm Leid getan. Ihr Aussehen sprach gegen sie, sie war groß und plump, saß wie ein grober Klotz auf ihrem Stuhl. Als sie aufstand, fiel der Rock wie ein Zelt um sie herum.

    »Wir tanzen!«, entschied sie, und am liebsten hätte er Nein gesagt, aber sie packte ihn am Hosenbund und zog ihn mit sich.

    Sie bewegte sich erstaunlich elegant. Ihre platte breite Hand lag zwischen seinen Schulterblättern, und sie war es, die führte, nicht er. Ihr Atem roch nach Petersilie.

    Ihm war aufgefallen, dass er seine Meinung über Leute oft ändern musste. Ihr Äußeres mochte gegen Ulrika sprechen, aber sie brauchte einem beim besten Willen nicht Leid zu tun.

    »Jetzt trinken wir einen Schluck Wein!«, hatte sie erklärt und ihn zu dem Tisch mit den Flaschen geführt. Sie hielt zwei Gläser hoch und ließ ihn einschenken. Im Ausschnitt sah er ihre Haut, die weiß war und irgendwie mehlig wirkte.

    »Setz dich!« Sie zeigte auf einen Hocker, und er konnte sich noch genau an die Farben erinnern, abblätterndes Blau in verschiedenen Tönen. Die Wohnung schien gerade frisch gestrichen zu werden. Sie kam direkt zur Sache:

    »Bist du allein, Daniel?«

    »Wie meinst du das, allein?«

    »Hast du eine Freundin?«

    »Nicht direkt.«

    »Aber indirekt?«

    »Das auch nicht direkt.«

    Sie lächelte zufrieden. Sie sah süß aus, wenn sie lächelte, ihr Blick wurde unter den kurzen, braunen Wimpern ganz sanft. Sie erzählte ihm, dass sie ihren Freund gerade hinausgeworfen hatte. Er sah vor sich, wie sie ihn an Hemd und Hosenboden packte und über das Balkongeländer hievte, und bekam Lust, ihre Hände zu berühren. Er leerte sein Weinglas und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne.

    »Sollen wir noch einmal tanzen, Ulrika?«

    So würde er sie jetzt gerne sehen: fröhlich, befreit von Strenge und Ernst. Aber so lagen die Dinge heute nicht mehr. Sie war bösartig geworden, meckerte wie

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