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Autismus: Der nicht gelungene Umgang mit Verschiedenheit
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eBook235 Seiten2 Stunden

Autismus: Der nicht gelungene Umgang mit Verschiedenheit

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Über dieses E-Book

Über dieses Buch:
Die Autismusforschung gehört zu jenen Bereichen der Sonderpädagogik, die gegenwärtig besonders gravierenden Veränderungsprozessen unterworfen sind, die wiederum weitreichende Konsequenzen für sonderpädagogisches Denken und Handeln haben (können).
Ausgelöst haben diese Veränderungen insbesondere von Autismus betroffene Menschen, die in vielschichtiger Weise ihr Selbsterleben und Prozesse nicht gelingender Verständigung beschreiben. Scheinbar gesicherte Annahmen von Experten stellen sich vor diesem Hintergrund oftmals als Fehlinterpretationen heraus.
Zentrales Anliegen dieses Buches ist es, dysfunktionale Muster in Kommunikation und Beziehungsgestaltung, die sich aus einer Betrachtungsweise ergeben, die die Störung in der Person verortet und sich an Beeinträchtigungen und Abweichungen orientiert, transparent zu machen. Gleichzeitig sucht es für einen verstehenden Zugang zu sensibilisieren, der die Erfahrungen der Betroffenen zum Ausgangspunkt einer dialogisch angelegten Begegnung und eines neuen Verständnisses macht, das die Wertschätzung von Differenz beinhaltet und Betroffene als kompetente Partner anerkennt.
„Der 'nicht gelungene Umgang mit Verschiedenheit' könnte dann umformuliert werden in eine Sichtweise, die 'Andersartigkeit als Ressource' begreift oder als Möglichkeit des Voneinander-Iernen-Könnens", so Winfried Palmowski in seinem Vorwort.

Über die Autorin:
Ina Slotta ist Sonderschullehrerin an einer Förderschule in Thüringen. Sie absolvierte eine Ausbildung in systemisch-konstruktivistischer Gesprächsmoderation und arbeitet in der Beratergruppe MoMo (Moderationsmodell), die in Thüringen ein flächendeckendes Angebot in Beratung, Reflexion und externer Gesprächsmoderation für im Sonderschulbereich Tätige unterbreitet.
Sie ist Gründungsmitglied der „Deutschen Gesellschaft für systemische Pädagogik".
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum26. Juni 2020
ISBN9783945668610
Autismus: Der nicht gelungene Umgang mit Verschiedenheit

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    Buchvorschau

    Autismus - Ina Slotta

    Anmerkungen

    Vorwort zum Buch

    Seit der Beschreibung autistischen Verhaltens durch Asperger und durch Kanner ist diesem ungewöhnlich und als extrem erlebten Verhaltensmuster dieser Behinderung / dieser Krankheit (in Relation zur als verhältnismäßig klein angenommenen Zielgruppe) unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. In autistischen Verhaltensweisen kumulierte wahrscheinlich sowohl die Faszination, wie das Nicht-Verstehen-Können und die unmittelbar zu erlebende Hilflosigkeit gegenüber bizarren oder stereotypen Verhaltensweisen, die funktionale Kommunikation begrenzten oder gar als unmöglich erscheinen ließen. Dabei wurden Menschen mit autistischen Verhaltensweisen – wie behinderte Menschen allgemein – jahrzehntelang als defizitäre Wesen wahrgenommen, und die Sonderpädagogik sah und sieht es konsequenterweise als ihre Aufgabe an, sie mit speziellen, auf ihre Einschränkung bezogenen pädagogischen und therapeutischen Hilfen und Verfahren gezielt zu fördern, oft genug verbunden mit einer weitgehenden Ignoranz der vorhandenen eigenen Ressourcen ihrer „Kunden".

    Dabei wissen wir heute, dass sehr vieles, was sich in älteren Lehrbüchern über das Syndrom Autismus nachlesen lässt, kaum länger so gesehen werden kann. Vor allem das als Regelfall angesehene Zusammentreffen von Autismus und Geistiger Behinderung kann nicht länger aufrechterhalten bleiben. Der Irrtum, dem die Experten gefolgt waren, bestand meines Erachtens darin, dass sie – weil ihnen andere Möglichkeiten nicht zu Verfügung standen – von dem beobachtbaren, nach außen hin gezeigten Verhalten zurückschlossen auf die intrapsychischen Vorgänge. Mechanistisch gesprochen wurde aus dem In-Put und dem sich daraus ergebenden Out-Put die sich ergebende Konsequenz gezogen, dass innerhalb der „Black Box nicht viel passiert sein konnte, getreu dem Motto: „Wo nichts herauskommt, kann auch nicht viel drin sein! Entsprechend der medizinischen Sichtweise wurden und werden Menschen mit Behinderungen so zu Dauerpatienten, oder – psychologischer formuliert – die Erwartungshaltungen und Bewertungsmuster, denen sie sich ausgesetzt sehen, verhindern in dem Maße, in dem sie sich am Defizit ausrichten, Normalisierung und ein positives Selbstwertgefühl.

    Wie häufig, haben auch in diesem Falle die Betroffenen selbst die entscheidenden Anstöße für weitreichende Entwicklungen gegeben, indem sie in differenzierter Form Selbstaussagen formulieren und sich als Experten ihrer selbst zu Worte melden. Heute wissen wir, dank der inzwischen umfangreichen vorliegenden Äußerungen von Menschen mit autistischen Verhaltensweisen zum Thema, dass vieles nicht so ist oder so wahrgenommen wird, wie bisher behauptet oder angenommen. Beispielsweise verfügen viele autistische Menschen über ein äußerst farbiges, reichhaltiges und/oder intellektuelles Innenleben (wie etwa die zahlreichen Beispiele im vorliegenden Band belegen), so dass sie möglicherweise gar nicht in dem Ausmaß der Kommunikation mit der Außenwelt bedürfen, wie dies bei uns der Fall ist. Zumindest liegen die sich ergebenden Schwierigkeiten weniger in einer Nicht-Erfassung und Nicht-Verarbeitung der Welt, sondern in den begrenzten Möglichkeiten, dies in funktionaler und gelingender Kommunikation auch mitzuteilen. So gesehen kann das zurückgezogene Verhalten vieler autistischer Menschen nicht nur als Ausgangspunkt nicht gelingender Kommunikation angesehen werden, sondern in zumindest gleichem Maße auch als Reaktion auf genau diese Erfahrung des Nicht-Gelingens. Dies erscheint mir das zentrale Thema dieses Buches. Es geht also weniger um den Versuch einer Beschreibung der Innenwelt von als autistisch beschriebenen Menschen – den „Autismus von Innen", wie Jasmine Lee O’Neill (2001) es genannt hat, sondern stärker um zwischenmenschliche, kommunikative oder situationsabhängige Aspekte, wie das gegenseitige Erleben von Hilflosigkeit, des Nicht-Verstehens oder Nicht-Verstehen-Könnens, aber auch der vielen kleinen Schritte des Gelingens. Dieser Prozess des beständigen Versuchens, den anderen zu verstehen, das Sinnhafte oder Sinnvolle in seinem Handeln zu erkennen, scheint mir, wie kaum ein anderes Beispiel angewiesen zu sein auf die im Vorwort zu dieser Buchreihe hingewiesene Argumentation gegen die Erfahrung.

    Dabei erscheint mir die gegenwärtige Autismusforschung nicht nur in einer sensiblen Phase zu sein, sondern möglicherweise auch richtungsweisend für eine zukünftige Sonderpädagogik überhaupt: Sie ist – mehr als bisher bei einem anderen Thema – angewiesen auf die Mitarbeit von Betroffenen. Die Entwicklung hilfreicher Sichtweisen, Erklärungen und Handlungsmöglichkeiten wird zunehmend dialogisch erfolgen bzw. erfolgen müssen. Damit könnte dieser Bereich eine Vorreiterfunktion bekommen für die Konkretisierung der Idee, von Behinderungen Betroffene zukünftig stärker Akteuren und zu Mitwirkenden in der Erforschung ihrer speziellen Wirklichkeiten zu machen und ihr Expertentum für sich selbst endlich zu nutzen. Der „nicht gelungene Umgang mit Verschiedenheit könnte dann umformuliert werden in eine Sichtweise, die „Andersartigkeit als Ressource begreift oder als Möglichkeit des „Voneinander-Lernen-Könnens".

    Prof. Dr. Winfried Palmowski

    1.      Einleitung

    „...ich bin eine Kultur, die einen Ort sucht, an dem sie sich ereignen kann" (Donna Williams)

    „Auf viele Weisen bin ich schrecklich schlecht ausgestattet, um in dieser Welt zu überleben. Ich bin wie ein außerirdisches Wesen, das ohne einen Reiseführer, an dem ich mich orientieren kann, gestrandet ist"

    (Jim Sinclair)

    Vier Jahre lang – von 1994 bis 1998 – begleitete ich einen autistischen Jungen als Klassenlehrerin durch seine Schulzeit.

    Martin¹ stellte mich vor ungewöhnliche Herausforderungen und so war diese Zeit gekennzeichnet vom Ringen darum, das Phänomen Autismus im Allgemeinen und Martins Andersartigkeit im Besonderen zu verstehen, von untauglichen Versuchen, Ursachen der Beeinträchtigungen zu ergründen und vielfältigen Überlegungen zu nützlichen pädagogischen Handlungsmöglichkeiten, von Bemühungen, Brücken zu Martin zu schlagen und ihm Hilfen zu geben, sich selbst und andere besser zu verstehen und seine Sprache zu nutzen, um verstanden zu werden.       

    Ich erlebte Martin als empfindsamen, feinfühligen, freundlichen Jungen, im Allgemeinen erschien er mir fröhlich und vergnügt – in seiner geschlossenen, kleinen Welt schien er sich meist wohl zu fühlen und glücklich zu sein. Martin hatte das Glück, eine Klasse zu besuchen, die ein hohes Maß an Toleranz aufbrachte und ihm nicht die Anerkennung versagte. Von seinen Mitschülern und Mitschülerinnen wurde er vor allem wegen seines sanften Wesens geschätzt, sie respektierten seine Eigenarten und suchten Kontakt zu ihm. Sie akzeptierten ihn mit seinen Besonderheiten als Besonderes. Seine Fremdartigkeit war ein wichtiges Element in der Gemeinschaft.

    Seine Sanftmut, seine Unfähigkeit sich zu verstellen, seine bizarren, oftmals unverständlichen Verhaltensweisen weckten bei seinen Mitschülern nicht nur Interesse oder lösten Mitempfinden aus, sondern wirkten zeitweise geradezu besänftigend auf aggressive Klassen-kameraden, ja sie brachten oftmals sogar deren positive Kräfte zum Vorschein, gemeinsame Freude über Martins Fortschritte kam später hinzu. Seine Andersartigkeit zwang uns zu Eindeutigkeit und Echtheit.

    Im Laufe der Zeit signalisierte Martin immer deutlicher den Wunsch nach sozialen Interaktionen und Kontakten, ließ sich auf Angebote seiner Mitschüler ein und erwiderte diese.

    Die Arbeit mit ihm war ein behutsamer Annäherungsprozess, in dem sich viele Schwierigkeiten – nicht alle – nahezu von allein lösten. Es war eine intensive, befriedigende Arbeit, aber auch eine Zeit der Unsicherheiten, Selbstzweifel, der Ratlosigkeit und unzähliger Fragen. Nachdem Martin die Schule verließ, blieben für mich viele Fragen offen. Diese Fragen haben mich seither begleitet und zum Thema dieses Buches geführt.

    Was Autismus ist lässt, sich angesichts der vielfältigen, differenzierten Erscheinungsformen heute kaum schlüssig beantworten.      

    Personenbezogene Erklärungsmodelle, die die Ursache für Autismus im Inneren des Betroffenen ansiedeln und lineare Verknüpfungen herstellen – seien es Modelle aus der kognitiven Psychologie oder der Psychoanalyse – liefern nur unbefriedigende Antworten zur Erklärung des Phänomens.

    Ausgehend von einem systemisch-konstruktivistischen Grund-verständnis, dass das beobachtbare Verhalten in den Rahmen sozialer Interaktionen stellt und der Grundannahme folgt, dass wir unsere Wirklichkeiten selbst konstruieren und es keine vom Beobachter unabhängige Realität gibt, möchte ich zunächst die Nützlichkeit medizinisch-psychiatrischen Denkens in der Autismusforschung hinterfragen und mögliche andere Sichtweisen diskutieren (vgl. Kapitel 2).

    Dabei liegt die Brauchbarkeit systemisch-konstruktivistischer Erkenntnistheorie in Bezug auf die Thematik insbesondere in der Tatsache begründet, dass der Konstruktivismus die irreduzible Vielfalt von Wirklichkeit nicht ausblendet und die Komplexität eines Systems und dessen vielfältige Vernetztheit mit der Umwelt berücksichtigt. Systemisch-konstruktivistische Grundannahmen verlagern die Störung nicht in die Person, sondern betrachten sie im Zusammenspiel mit kontextuellen Bedingungen und den Spielregeln, die sich in einem Problemsystem etablieren.

    Dabei geht die systemisch-konstruktivistische Perspektive von der Annahme aus, dass aktuell gezeigte Verhaltensweisen für die Betroffenen einen Sinn haben. Sie verfällt dabei nicht einem verkürzenden Reduktionismus und einem Menschenbild, das auf Trivialisierungen hinausläuft, sondern betrachtet Menschen als nicht-triviale Maschinen, die mit Hilfe statischer Modelle und allgemeiner linearer Gesetzmäßigkeiten nicht zu erfassen und zu beschreiben sind. Gleichzeitig mehrere Sichtweisen nebeneinander zulassend, veranlasst die systemisch-konstruktivistische Perspektive zugleich, sich in die Position des Gegenübers hinein zu versetzen, den Bezugsrahmen zu verlassen und in kooperativer, respektvoller Weise nach einer Vergrößerung der Zahl der Handlungsmöglichkeiten zu suchen.       

    Im Bewusstsein dessen, dass alle Aussagen von Beobachtern gemacht werden und nur vorläufig sein können, geht es in der konstruktivistischen Erkenntnistheorie nicht um Wahrheit, sondern allenfalls um Nützlichkeit.

    Akzeptiert man die grundlegenden Setzungen des Konstruktivismus, so erlangt die Kategorie „Selbstorganisation" einen zentralen Stellenwert für die Erklärung, wie sich menschliches Leben hervorbringt. Veränderung eines Individuums wird im Rahmen der Selbstorganisationstheorien als offenes, dynamisches, nicht vorhersagbares Geschehen betrachtet. Es organisiert sich entsprechend der inneren Struktur eines Systems und wird – in struktureller Kopplung mit den Umweltbedingungen – von ihm selbst hervorgebracht. Der Frage, welche Modelle zur Erklärung von Selbstorganisationsprozessen einen brauchbaren theoretischen Rahmen bieten, gehe ich in einem weiteren Abschnitt nach (vgl. Kapitel 3).

    Die Annahme, dass die Primärsymptomatik autistischen Geschehens aus Besonderheiten der hirnpsychologischen Verarbeitungen von Umweltreizen resultiert, war für mich Anlass danach zu fragen, was wir unter Wahrnehmung verstehen, von welchen Faktoren Wahrgenommenes abhängig ist und kritisch zu prüfen, ob die These, dass Autismus eine Störung der Wahrnehmung bzw. Wahrnehmungsverarbeitung zu Grunde liegt, für unsere Überlegungen nützlich sein kann. Dabei wird deutlich, dass Wahrnehmung nicht nur ein hochkomplexer individueller Prozess der neuronalen Verarbeitung ist, sondern ein Akt der Bedeutungsstiftung, der durch Erfahrungen und Emotionen strukturiert und koordiniert wird. Wahrnehmung ist insofern immer mehrdeutig und subjektiver Natur. Sie bildet keine ontische Realität ab, sondern konstruiert auf Grund innerer Variablen ein subjektives Modell von der Wirklichkeit. Diese Sicht hat weitreichende Konsequenzen für die Bewertung von Erfahrungen, die Menschen mit veränderten Wahrnehmungsmustern machen (vgl. Kapitel 4).      

    Die selbstorganisierte Ausdifferenzierung eines Systems, seine Fähigkeit sich selbst zu erneuern und in qualitativen Sprüngen zu neuen Ordnungen überzugehen, vollzieht sich immer in Ko-Evolution. Interaktionen, Kommunikation und dialogische Begegnung erhalten in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung. Dass es sich bei Autismus nicht nur um eine bio-psychologische Grundproblematik handelt, sondern um Schwierigkeiten im kommunikativen Austausch und sozialen Abstimmungen, um verfehlte soziale Gegenseitigkeit in komplexen Rückkopplungsprozessen, soll in einem weiteren Abschnitt dieser Arbeit dargelegt werden, der dem dialogischen Geschehen und dem Verstehen autistischen Verhaltens Raum gibt (vgl. Kapitel 5).

    In Bezug auf so genannte Autisten müssen wir feststellen, dass wir nur sehr eingeschränkt um die Wirklichkeiten, in denen sie leben, wissen. Sich in ihre Welt einzufühlen, stellt uns teilweise vor unüberwindliche Schwierigkeiten und lässt uns insbesondere im Umgang mit Menschen mit massiven Kommunikationserschwernissen schnell an die Grenze des Verstehens gelangen. Unsere eigenen Irritationen und Verunsicherungen, unsere Schwierigkeiten, alternativ zu kommunizieren, aber auch unsere pathologisierenden Bewertungs- und Deutungsmuster, mit denen wir uneinfühlbare, absurde, unverständliche Verhaltensweisen unterlegen, führen offenbar dazu, dass der Kontakt zu autistischen Mitmenschen verloren geht und Verständigungsressourcen ungenutzt brachliegen.

    Wie stark Autisten auf wechselseitigen dialogischen Austausch angewiesen sind und wie schwierig sich Verstehensprozesse gestalten, wird insbesondere deutlich, wenn Betroffene wie Dietmar Zöller, Katja Rohde und Gunilla Gerland aus der Innenperspektive heraus ihr Erleben schildern (vgl. Kapitel 6).

    Ohne orientierende Interaktionen aus dem sozialen Bereich, ohne Akzeptanz und Verständigung sind sie existenziell bedroht. Die Kraft, die viele von ihnen aufbringen, um mit eigenen Mitteln Anschluss an unser Reich der Sprache zu gewinnen, um ihren Ausschluss und die Isolation zu überwinden, nötigt uns nicht nur Respekt ab, sondern verpflichtet zugleich, miteinander nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Von unseren möglichen Erklärungsversuchen hängt nicht nur die Art und Weise ab, wie ein Verhalten bewertet wird, sondern auch, welchen Mitteln und Wegen wir bei der Lösung von Schwierigkeiten Priorität einräumen. Wie müssen Austauschprozesse angelegt sein, damit sie geeignet sind, Strukturveränderungen auszulösen und den Betroffenen eine neue Lebensperspektive aufzuzeigen, ist eine Frage, die mich abschließend beschäftigt hat (vgl. Kapitel 7).

    Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Terminus Autismus als stigmatisierender Begriff verstanden werden muss, insofern er das Beeinträchtigende, den Mangel, die Unfähigkeit betont. Deshalb ist es auch ein Anliegen dieser Arbeit, für das Besondere, Originelle, die Stärken so genannter Autisten zu sensibilisieren und darauf aufmerksam zu machen, dass pathologisch verstandene Muster Ausdruck einer ganz spezifischen Kompetenz sein können. Im Umgang mit ihnen können wir, wenn wir vorbehaltlos ihre Angebote annehmen, erkennen: „In Wirklichkeit liegt hinter ihren so genannten leeren Augen eine ganze Welt verborgen" (O’Neill, 2001, S. 17).

    2.       Autismus

    2.1      Annäherungen: Was ist Autismus?

    Fragen wir jemanden, was er sich unter Autismus vorstellt, so erfahren wir in der Regel etwas über die gängigen Klischees: bizarre Reaktionen, zwanghafte Rituale, gestörter Blickkontakt, absurde Stereotypien, eigentümliche Verhaltensweisen.

    Wer aber Menschen, die wir als autistisch beschreiben, begegnet, wird schnell feststellen, dass es nicht den Autisten gibt und dass sich diese Menschen nicht nur in ihren Fähigkeiten, Ausdrucksformen, Kompetenzen, Bedürfnissen und Neigungen erheblich unterscheiden, sondern auch hinsichtlich der Ausprägungen von Verhaltensweisen, die wir als autistische Symptome kennzeichnen.

    Beispiel 1: So erleben die Eltern des kleinen Raun Kaufmann ihren Sohn in seinen ersten Lebensjahren:

    „Seine kleinen Hände halten vorsichtig den Teller: Mit den Augen misst er das glatte Rund und seine Lippen kräuseln sich vor Vergnügen. Er bereitet seinen Auftritt vor – dies ist allein sein Augenblick, wie der letzte es war und jeder Augenblick davor. Er taucht in die Einsamkeit weg, die seine Welt geworden ist. Langsam, mit der Hand eines Meisters, platziert er den Teller mit dem Rand auf dem Boden, nimmt eine bequeme Haltung ein, balanciert aus und setzt ihn mit einem fachmännischen Dreh des Handgelenks in Bewegung. Der Teller beginnt mit großer Perfektion zu kreiseln. Er dreht sich um sich selbst, wie wenn er von einer genau berechnenden Maschinerie in Bewegung gesetzt worden wäre. ... Während der Teller sich schnell vorwärts bewegte, während er hypnotisch auf deinem Rand kreiselte, beugte sich der

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