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Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit
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eBook584 Seiten27 Stunden

Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit

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Über dieses E-Book

Baumans Buch ist ein überzeugendes Plädoyer für eine tolerante Ambivalenz und damit ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Diskussion um Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus.

Der Anspruch der Moderne, den Menschen Klarheit, Transparenz und Ordnung zu bringen – eine durchschaubare Welt zu schaffen –, war von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil mit ihm die grundsätzliche Ambivalenz der Welt und die Zufälligkeit unserer Existenz, unserer Gesellschaft und Kultur geleugnet wurde.

Erst die Postmoderne verabschiedete sich von diesem Versprechen. War der Schlachtruf der Moderne "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", so war "Freiheit, Verschiedenheit, Toleranz" die Waffenstillstandsformel der Postmoderne. Und wenn Toleranz in Solidarität umgewandelt wird, kann aus dem Waffenstillstand sogar Frieden werden.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Sept. 2016
ISBN9783868549010
Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit

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    Buchvorschau

    Moderne und Ambivalenz - Zygmunt Bauman

    14.

    Der Skandal der Ambivalenz

    Die Katastrophengefahr des Baconschen

    Ideals der Herrschaft über die Natur

    durch die wissenschaftliche Technik

    entsteht nicht so sehr aus den Mängeln

    als vielmehr aus der Größe seines

    Erfolgs.

    Hans Jonas

    Im Laufe meines Studiums der vorliegenden Interpretationen des Holocaust (wie auch anderer Fälle modernen Genozids)¹ mußte ich zu meiner Überraschung feststellen, daß die theoretischen Konsequenzen, die aus einer sorgfältigen Untersuchung des Falles folgen würden, offensichtlich selten bis zu Ende verfolgt und fast nie ohne Widerstand akzeptiert werden: Zu drastisch und zu weitreichend scheint die Revision, die sie dem Selbstbewußtsein unserer Zivilisation abverlangen.

    Der Widerstand, die Lehre zu akzeptieren, die die Episode des Holocaust enthält, zeigt sich vor allem in den vielfältigen Versuchen, den Holocaust als eine einmalige historische Episode zu exotisieren oder zu marginalisieren. Der verbreitetste dieser Versuche ist die Interpretation des Holocaust als einer spezifisch jüdischen Angelegenheit: als Höhepunkt der langen Geschichte der Judaeophobie, die weit in die Antike zurückreicht, und bestenfalls als Resultat ihrer modernen Form, des Antisemitismus in seiner rassistischen Variante. Diese Interpretation übersieht eine wesentliche Diskontinuität zwischen selbst den heftigsten Ausbrüchen der prämodernen Judaeophobie und der sorgfältig geplanten und durchgeführten Operation, die Holocaust genannt wird; sie geht auch über die Tatsache hinweg, daß – wie Hannah Arendt schon vor langer Zeit nachgewiesen hat – (wenn überhaupt etwas) nur die Auswahl der Opfer, nicht die Natur des Verbrechens aus der Geschichte des Antisemitismus abgeleitet werden kann; ja, sie verkürzt die wesentlichen Streitfragen der Natur des Verbrechens auf die Frage der einzigartigen Eigenschaften der Juden oder der Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden.

    »Exotisierung« wird aber auch durch die Anwendung einer anderen Strategie erreicht: durch den Versuch, den Holocaust als eine spezifisch deutsche Angelegenheit zu interpretieren (bestenfalls auch noch als eine Angelegenheit einiger anderer, noch fernerer und bizarrerer Nationen, deren verborgene, gleichwohl angeborene mörderische Neigung durch die deutsche Herrschaft ausgelöst und gelockert worden sei). Man hört von dem unvollendeten Geschäft der Zivilisation, von dem gescheiterten Liberalisierungsprozeß, von einer besonders morbiden Abart einer nationalen Philosophie, die den Geist der Bürger vergiftet habe, von den frustrierenden Wechselfällen der jüngeren Geschichte, selbst von der eigenartigen Perfidie und Schläue eines Haufens von Verschwörern; aber kaum jemals etwas von dem, worüber die Herausgeber der Times, des Figaro und anderer höchst angesehener Organe der aufgeklärten Meinung ins Schwärmen gerieten, wenn sie sehnsüchtig das Deutschland der dreißiger Jahre als Vorbild eines zivilisierten Staates beschrieben, als ein Muster an Prosperität, an sozialem Frieden, an gehorsamen und kooperativen Gewerkschaften, an Recht und Ordnung. Ja, wegen seiner schnell sinkenden Kriminalitätsrate, der beinahe totalen Unterbindung der Gewalt auf den Straßen (einmal abgesehen von den kurzen Exzessen während der Flitterwochen der Nazis und natürlich der Kristallnacht), des industriellen Friedens, der Sicherheit und Sorglosigkeit des täglichen Lebens sogar als ein Vorbild für die kränkelnden europäischen Demokratien.

    Die im wesentlichen dabei verfolgte Strategie, die gleichzeitig das Verbrechen zu einer Randerscheinung macht und die Moderne entlastet, ist die Interpretation des Holocaust als einer singulären Eruption vormoderner (barbarischer, irrationaler) Kräfte, die durch die (angeblich schwache oder fehlgeschlagene) deutsche Modernisierung bislang nur unzureichend gebändigt oder wirkungslos unterdrückt worden seien. Es war zu erwarten, daß diese Strategie die Lieblingsform der Selbstverteidigung der Moderne ist: Schließlich bestätigt und bestärkt sie indirekt den ätiologischen Mythos von der modernen Zivilisation als Triumph der Vernunft über die Leidenschaften und die sich daraus ergebenden Folgen: den Glauben, daß dieser Triumph einen unzweideutig progressiven Schritt in der historischen Entwicklung der öffentlichen Moralität bezeichnet habe. Diese Strategie läßt sich noch dazu leicht verfolgen. Sie paßt zu der festen Gewohnheit (die von der modernen wissenschaftlichen Kultur kräftig unterstützt wird, aber vor allem in der andauernden militärischen, ökonomischen und politischen Herrschaft des modernen Teils des Erdballs über den Rest verwurzelt ist), automatisch alle alternativen Lebensformen und insbesondere jede Kritik an den modernen Werten als Ausfluß prämoderner, irrationaler, barbarischer Positionen zu definieren, die es nicht wert seien, ernsthaft erwogen zu werden: als ein Beispiel ebender Klasse von Phänomenen, die die moderne Zivilisation unterdrücken und ausmerzen wollte. Wie es Ernest Gellner vor zwanzig Jahren in gewohnter Kürze und Direktheit ausdrückte: »Wenn eine Lehre der Überzeugung entgegensteht, die wissenschaftlich-industriellen Gesellschaften seien den anderen überlegen, dann ist sie in der Tat erledigt.«²

    Der Traum der gesetzgebenden Vernunft

    Während der ganzen Epoche der Moderne harmonierte die gesetzgebende Vernunft der Philosophen wunderbar mit den nur allzu materialistischen Praktiken der Staaten. Der moderne Staat entstand als eine missionierende, bekehrende, Kreuzzüge führende Macht, die entschlossen war, die beherrschten Bevölkerungen einer gründlichen Kontrolle zu unterwerfen, um sie in eine ordentliche Gesellschaft zu transformieren, die den Vorschriften der Vernunft entsprach. Die rational geplante Gesellschaft war die erklärte causa finalis des modernen Staates. Der moderne Staat war ein Gartenbau betreibender Staat. Seine Haltung war die Haltung eines Gärtners. Er entzog dem gegenwärtigen (wilden, unkultivierten) Zustand der Bevölkerung die Legitimation und zerstörte die vorhandenen Reproduktions- und Gleichgewichtsmechanismen. An ihre Stelle setzte er planmäßig konstruierte Mechanismen, die dazu dienen sollten, die Veränderung in Richtung des rationalen Entwurfs zu lenken. Der Entwurf, angeblich von der höchsten und unbezweifelbaren Autorität der Vernunft diktiert, stellte die Kriterien bereit, um die bestehende Realität zu bewerten. Diese Kriterien unterteilten die Bevölkerung in nützliche Pflanzen, die sorgsam zu kräftigen und fortzupflanzen waren, und Unkraut – das entfernt oder samt Wurzeln herausgerissen werden mußte. Die Bedürfnisse der nützlichen Pflanzen (wie sie von dem Entwurf des Gärtners vorgesehen waren) wurden befriedigt, während den Bedürfnissen derer, die zu Unkraut erklärt worden waren, die Grundlage entzogen wurde. Beide Kategorien wurden zu Objekten des Handelns erklärt und beiden die Rechte sich selbst bestimmender Handelnder verweigert.

    Der Philosoph, insistierte Kant in der Kritik der reinen Vernunft³, »ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft« (B 867). Die Aufgabe der Vernunft, als deren oberster Sprecher der Philosoph handelt, ist es, »einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlosen Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne« (A XI). Die Idee der »Gesetzgebung« des Philosophen wird »allenthalben in jeder Menschenvernunft angetroffen«, und »die Philosophie ist die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)« (B 867).

    Philosophie kann nur eine gesetzgebende Macht sein; es ist die Aufgabe guter Philosophie, der richtigen Metaphysik, den Menschen zu dienen, die fordern, »daß ein Erkenntnis, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen […] solle« (B 859). »Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen.« (B 860) Die Art des Wissens, das tatsächlich den gemeinen Verstand überschreiten könnte, der aus bloßen Meinungen und Glauben besteht (Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten; Glaube ist die unzuverlässigste Art von Urteil, ein Fürwahrhalten, das »für objektiv unzureichend gehalten« wird und nur subjektiv zureichend ist [B 850]), könnte und sollte »euch nur von den Philosophen entdeckt werden« (B 859). In der Erfüllung dieser Aufgabe wäre Metaphysik die »Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft« (B 878); sie wird jene Vernunft aus dem rohen und unordentlichen Zustand, in dem sie natürlicherweise gegeben ist, auf die Höhe des ordentlichen Systems erheben. Die Metaphysik wird zu Hilfe gerufen, um die harmonische Vollendung des Denkens zu kultivieren. Daß die Metaphysik,

    »als bloße Spekulation, mehr dazu dient, Irrtümer abzuhalten als Erkenntnis zu erweitern, tut ihrem Wert keinen Abbruch, sondern gibt ihr vielmehr Würde und Ansehen durch das Zensoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinsamen Wesens sichert, und dessen mutige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von dem Hauptzwecke, der allgemeinen Gluckseligkeit, zu entfernen« (B 879).

    Sein Urteil über Fragen des menschlichen Glücks abzugeben, ist die Prärogative des Philosophen und seine Pflicht. Hier wiederholt Kant lediglich die jahrhundertealte Tradition der Weisen, die zumindest bei Platon ihren Ursprung hat. Im 7. Buch von Platons Politeia⁴ gibt Sokrates Glaukon den Rat, sobald er einmal das Reich der »wahren Philosophie« besucht habe und auf diese Weise »zum wirklichen Sein« emporgestiegen sei (indem er seine Seele von einem Tag, der wie die Nacht ist, zu einem wahren Tag umgewendet habe), müsse er zu denen zurückkehren, die ihm bei seinem Aufstieg nicht gefolgt seien. (Die Weisen, die aus ihrer Flucht in die Welt ewiger Wahrheiten niemals zurückkehren, tun ebenso unrecht wie die gewöhnlichen Männer und Frauen, die diese Reise niemals angetreten haben; zusätzlich sind sie des Verbrechens schuldig, eine Gelegenheit versäumt und eine Pflicht nicht erfüllt zu haben.) Dann wird er »tausendmal besser sehen als die, die dort leben« – und dieser Vorteil wird ihm das Recht und die Verpflichtung auferlegen, sein Urteil zu fällen und Gehorsam gegenüber der Wahrheit zu erzwingen. Man muß die Pflicht des Philosophen verkünden – »sich um die andern zu kümmern und sie zu betreuen«.

    »Unsere Aufgabe als Gründer ist es nun, die besten Naturanlagen zu zwingen, sich jener Wissenschaft zu widmen, die wir vorher als die höchste bezeichnet haben: das Gute zu erschauen und jenen Aufstieg zu gehen: wenn sie dann dort oben hinreichend gelebt haben, dann dürfen wir ihnen nicht erlauben, was man ihnen heute erlaubt.« (519c)

    »Es ist glaublicher«, daß die Wahrheit »von Wenigen gefunden werden konnte als von vielen« – erklärte Descartes⁵ in der dritten Regel der Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Die Wahrheit zu wissen, sie mit einer Gewißheit zu wissen, die den Neigungen der vulgären Erfahrung Widerstand leisten und gegenüber den Versuchungen durch enge und parteiische Interessen immun bleiben kann, ist genau die Eigenschaft, die die wenigen von den vielen trennt – und sie über die Masse erhebt. Die Gesetze der Vernunft zu geben und durchzusetzen ist die Bürde jener wenigen, der »Wahrheitswisser«, der Philosophen. Sie sind berufen, die Aufgabe zu erfüllen, ohne welche das Glück der vielen niemals erreicht werden wird. Diese Aufgabe würde manchmal einen gütigen und wohlwollenden Lehrer erfordern; zu einer anderen Zeit die sichere Hand eines strengen und unnachgiebigen Wächters. Zu welchen Handlungen der Philosoph auch immer gezwungen sein mag, ein Element wird – muß – konstant bleiben: die unangefochtene Prärogative des Philosophen, zwischen wahr und unwahr, gut und böse, richtig und falsch zu entscheiden; und auf diese Weise sein Recht, Urteile zu fällen, und seine Autorität, dem Urteil Gehorsam zu verschaffen. Kant hatte wenig Zweifel hinsichtlich der Natur dieser Aufgabe; um sie deutlich zu machen, entnahm er seine Metaphern häufig dem Vokabular der Macht. Metaphysik war die »Königin«, deren »Herrschaft« unter »der Verwaltung« der Dogmatiker despotisch, aber immer noch unverzichtbar war, um »die Nomaden« in Schach zu halten, »die beständigen Anbau des Bodens verabscheuten« und daher »von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung« zertrennten (A VIII). Der spezifische Dienst, den die Metaphysik leisten soll, ist die Kritik der Vernunft:

    »Diesem Dienste der Kritik den positiven Nutzen abzusprechen, wäre eben so viel, als sagen, daß Polizei keinen positiven Nutzen schaffe, weil ihr Hauptgeschäft doch nur ist, der Gewalttätigkeit, welche Bürger von Bürgern zu besorgen haben, einen Riegel vorzuschieben, damit ein jeder seine Angelegenheit ruhig und sicher treiben könne.« (B XXV)

    Man könnte versucht sein, diese oder ähnliche Bilder, die der Rhetorik der Macht entstammen, als üblichen Bestandteil aller Protreptik herunterzuspielen – die gewöhnlich lobenden Präambeln vor philosophischen Abhandlungen, die dazu dienen sollen, die voraussichtlichen Leser, besonders die mächtigen und begüterten unter ihnen, für das Thema einzunehmen. Trotzdem richtete sich die Fürsprache für die gesetzgebende Vernunft an eine spezielle Art von Leser, und folglich war die Sprache, in der die Bitte um Aufmerksamkeit und Gunst abgefaßt war, eine, die einem solchen Leser vertraut war und mit seinen Interessen übereinstimmte. Dieser Leser war zuerst und vor allem die jeweilige Regierung, der Despot, an den man sich mit einem Aufklärungs-Angebot wandte – mit einem Mittel, genau die Sache, die er betreiben wollte, effektiver zu tun. Wie die weltlichen Herrscher stählte sich die kritische Philosophie für die Aufgabe, »die Wurzeln abzuschneiden«. Die Feinde, die zu durchbohren und zu überwältigen eine solche Philosophie besonders geeignet war, waren die dogmatischen Schulen des Materialismus, Fatalismus, Atheismus, des Freidenkertums, des Fanatismus und des Aberglaubens, »die allgemein schädlich werden können« (B XXXIV). Es mußte also gezeigt werden, daß diese Gegner gleichermaßen weltliche wie intellektuelle Ordnungen bedrohen; daß ihre Vernichtung in demselben Maße in Übereinstimmung mit den Interessen der bestehenden Mächte wie mit denen der kritischen Philosophie steht; und daß sich daher die Aufgabe des königlichen Gesetzgebers mit dem Ziel der gesetzgebenden Vernunft überschneidet.

    »Wenn Regierungen sich ja mit Angelegenheiten der Gelehrten zu befassen gut finden, so würde es ihrer weisen Fürsorge für Wissenschaften sowohl als Menschen weit gemäßer sein, die Freiheit einer solchen Kritik zu begünstigen, wodurch die Vernunftbearbeitungen allein auf einen festen Fuß gebracht werden können, als den lächerlichen Despotismus der Schulen zu unterstützen, welche über öffentliche Gefahr ein lautes Geschrei erheben, wenn man ihre Spinneweben zerreißt, von denen doch das Publikum niemals Notiz genommen hat, und deren Verlust es also auch nie fühlen kann.« (B XXXV)

    Hinter Kants Metaphernwahl steckt aber mehr als die Erwägung der Zweckdienlichkeit bei der Bewerbung um die königliche Gunst. Es bestand eine echte Affinität zwischen dem Gesetzgebungsehrgeiz der kritischen Philosophie und dem Planungsehrgeiz des entstehenden modernen Staates; ebenso wie es eine echte Symmetrie zwischen dem Geflecht des traditionellen Provinzialismus gab, den der moderne Staat zu entwurzeln hatte, um seine eigene höchste und unbestrittene Souveränität zu etablieren, und der Kakophonie der »dogmatischen Schulen«, die zum Schweigen gebracht werden mußten, damit die Stimme der universalen und ewigen Vernunft (und infolgedessen der einen und unbestrittenen Vernunft: »so daß nichts für die Nachkommenschaft übrig bleibt als in der didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne darum den Inhalt im mindesten vermehren zu können« [A XX]) gehört und ihre apodiktische Gewißheit gewürdigt werden konnte. Moderne Herrscher und moderne Philosophen waren zuerst und vor allem Gesetzgeber; sie fanden Chaos vor und gingen daran, es zu zähmen und durch Ordnung zu ersetzen. Die Ordnungen, die sie einzuführen wünschten, waren per definitionem künstlich; sie mußten daher auf Entwürfen beruhen, die sich auf Gesetze beriefen, die sich einzig auf die Vernunft stützten und die aus ebendiesem Grunde aller Opposition die Legitimation entzogen. Der Planungsehrgeiz moderner Herrscher und derjenige moderner Philosophen waren füreinander bestimmt und wohl oder übel dazu verurteilt, zusammenzubleiben, sei es in Liebe oder Krieg. Wie alle Ehen zwischen eher ähnlichen als einander ergänzenden Partnern war sie dazu bestimmt, die Freuden leidenschaftlicher wechselseitiger Begierde zugleich mit den Folterqualen einer hemmungslosen Rivalität zu kosten.

    Die Sicherung des Supremats für eine geplante, künstliche Ordnung ist eine doppelte Aufgabe. Sie verlangt Einheit und Integrität des Reichs und Sicherheit seiner Grenzen. Beide Seiten der Aufgabe laufen auf eine hinaus: das »Innere« vom »Äußeren« zu trennen. Nichts, was innen bleibt, kann für den Gesamtentwurf irrelevant sein oder angesichts der ausnahmelosen Regelungen der Ordnung seine Autonomie bewahren (»gültig für jedes rationale Wesen«). Denn die reine spekulative Vernunft »enthält einen wahren Gliederbau, worin alles Organ ist, nämlich alles um eines willen und ein jedes einzelne um aller willen, mithin jede noch so kleine Gebrechlichkeit, sie sei ein Fehler (Irrtum) oder Mangel, sich im Gebrauche unausbleiblich verraten muß« (B XXXVII) – genau wie im Fall der politischen Vernunft des Staates. Im Reich der Vernunft und der Politik muß die Ordnung gleichermaßen sowohl exklusiv als auch umfassend sein. Deshalb verschmilzt die doppelte Aufgabe zu einer einzigen: zu der, die Grenze der »organischen Struktur« scharf und deutlich zu markieren, was bedeutet, das »Mittlere auszuschließen«, alles Zweideutige, alles, was quer über der Barrikade sitzt und auf diese Weise den vitalen Unterschied zwischen innen und außen kompromittiert, zu unterdrükken oder auszurotten. Ordnung zu schaffen und zu bewahren bedeutet Freunde zu erwerben und Feinde zu bekämpfen. Zuerst und vor allem freilich bedeutet es, sich von der Ambivalenz zu befreien.

    Im politischen Bereich bedeutet die Beseitigung der Ambivalenz, Fremde auszugrenzen und zu verbannen, einige lokale Mächte zu sanktionieren und die unsanktionierten zu entrechten, »Gesetzeslücken« zu füllen. Im intellektuellen Bereich bedeutet das Beseitigen von Ambivalenz vor allem, allen philosophisch unkontrollierten oder unkontrollierbaren Gründen des Wissens die Legitimation abzusprechen. Vor allem bedeutet es, den common sense zu verdammen und für ungültig zu erklären – sei es als »bloßer Glaube«, »Vorurteile«, »Aberglaube« oder bloße Manifestationen der »Ignoranz«. In seiner vernichtenden Kritik an der bestehenden dogmatischen Metaphysik war es Kants krönendes Argument, daß »die Geburt jener vorgegebenen Königin aus dem Pöbel der gemeinen Erfahrung abgeleitet wurde« (A IX). Die Pflicht des Philosophen, die Kant festsetzen wollte, war im Gegensatz dazu, »das Blendwerk, das aus Mißdeutung entsprang, aufzuheben, sollte auch noch so viel gepriesener und beliebter Wahn dabei zunichte gehen« (A XIII). In einer solchen Philosophie »ist es auf keine Weise erlaubt zu meinen«. Die Urteile, die in das philosophische Tribunal der Gründe Eingang fanden, sind notwendig und führen »Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit« bei sich, d.h. sie dulden keine Rivalität und lassen nichts außen vor, das irgendeine anerkannte Autorität beanspruchen könnte. Für Spinoza ist das einzige Wissen, das diesen Namen verdient, eines, das gewiß, absolut und sub specie aeternitatis ist. Spinoza teilte Ideen in strikt getrennte Kategorien (wobei er für »mittlere Fälle« keinerlei Raum ließ) von solchen, die Wissen konstituieren, und solchen, die falsch sind; den letzteren wurde pauschal jeder Wert abgesprochen, und sie wurden auf pure Negativität reduziert – auf die Abwesenheit von Wissen. (»Falsche und fingierte Ideen haben […] nichts Positives, wegen dessen sie als falsch oder fingiert bezeichnet werden; bloß wegen ihres mangelnden Erkenntniswertes werden sie als solche betrachtet.« Nach Kants Ansicht ist der spekulative Philosoph »ausschließlich Depositär einer dem Publikum ohne dessen Wissen nützlichen Wissenschaft« (B XXXIII) (für die Gültigkeit der Wohltaten ist das Bewußtsein der Öffentlichkeit, daß ihr wohlgetan wird, irrelevant; es ist die Berechtigung des Philosophen, die zählt). Kant wiederholt: »In Urteilen aus reiner Vernunft ist es gar nicht erlaubt zu meinen […] weil subjektive Gründe des Fürwahrhaltens wie die, so das Glauben bewirken können, bei spekulativen Fragen keinen Beifall verdienen.« (B 851) Descartes kommt in diesem Punkt bereitwillig zu Hilfe: »Ich sollte wohl, da ich klüger als die Menge sein will, mich schämen, aus den Redewendungen, welche doch die Menge erfunden hat, einen Anlaß zum Zweifel entnommen zu haben« (Zweite Meditation, § 22); Intuition und Deduktion, beide systematisch von den Philosophen angewandt, sind die »zuverlässigsten Wege zur Wissenschaft«, »und weitere darf man von seiten der Erkenntniskraft nicht zulassen, sondern alle anderen sind als verdächtig und Irrtümern preisgegeben abzuweisen […] Und so weisen wir mit diesem Grundsatz alle jene bloß wahrscheinlichen Erkenntnisse zurück und beschließen, daß ausschließlich vollkommen Erkanntem, das nicht bezweifelt werden kann, Vertrauen zu schenken ist« (Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, III, 9; II, 1).

    Dies sind im Umriß die Hauptcharakteristika dessen, was Richard Rorty die foundational philosophy, die Philosophie als Fundamentalwissenschaft, genannt hat – nachdem er zuerst Kant, Descartes und Locke der gemeinsamen Verantwortung dafür bezichtigt hatte, dieses Modell den folgenden beiden Jahrhunderten der Philosophiegeschichte aufgebürdet zu haben.⁶ Wie ich oben angedeutet habe, hatte eine solche fundierende Philosophie ihr Korrelat in dem, was die fundierende Politik des entstehenden modernen Staates genannt werden kann; es bestand eine auffällige Symmetrie zwischen den erklärten Ambitionen und praktizierten Strategien, wie auch eine vergleichbare Besessenheit von der Frage der Souveränität der als Prinzip der Universalität legaler oder philosophischer Prinzipien vorgestellt legislativen Gewalt.

    Kant, Descartes und Locke (wie Francis Bacon vor ihnen) waren alle vom Traum einer herrschenden (d.h. kollektiv von Zwängen freien) Menschheit bewegt – die einzige Bedingung, unter der, wie sie glaubten, die menschliche Würde respektiert und bewahrt werden könne. Die Souveränität der menschlichen Person war ihr erklärtes und subjektiv echtes Interesse; im Namen dieser Souveränität wollten sie die Vernunft in das Amt des höchsten Gesetzgebers einsetzen. Und dennoch gab es eine gewisse Wahlverwandtschaft zwischen der Strategie der legislativen Vernunft und der Praxis der Staatsmacht, die entschlossen war, die geplante Ordnung einer widerspenstigen Realität aufzuzwingen. Ungeachtet der bewußten Absichten der Denker standen die gesetzgebende Vernunft der modernen Philosophie und die moderne wissenschaftliche Mentalität im allgemeinen in Übereinstimmung mit den praktischen Aufgaben, die der moderne Staat stellte. Die beiden Aktivitäten bezogen sich aufeinander, verstärkten einander, bestärkten die Glaubwürdigkeit des jeweils anderen und das Vertrauen zueinander. So wie der ehrgeizige Despot der Gewißheit der universalen Gültigkeit seiner partikulären Intentionen bedurfte, konnte die gesetzgebende Vernunft der Versuchung nicht widerstehen, zu erziehen – den Despoten aufzuklären und zu der Rolle zu befähigen, diese Vernunft in die Praxis umzusetzen.

    Der Staat als Gärtner

    An der Schwelle der Neuzeit gab Friedrich der Große, zugestandenermaßen der Monarch, der dem Idealbild, das sich les philosophes von einem aufgeklärten Despoten gemacht hatten, am nächsten kam und der auch tatsächlich ein Lieblingsadressat ihrer Pläne war, das Stichwort für die sozialreformerischen Ambitionen des neuen Staates:

    »Ich ärgere mich, wenn ich sehe, welche Mühe man sich in diesem rauhen Klima gibt, um Ananas, Bananen und andere exotische Pflanzen zum Gedeihen zu bringen, während man so wenig Sorgfalt auf das menschliche Geschlecht verwendet. Man mag sagen, was man will: Der Mensch ist wertvoller als alle Ananasse dieser Welt. Er ist die Pflanze, die man züchten muß, die alle unsere Mühe und Sorgfalt verdient; denn sie bildet die Zier und den Ruhm des Vaterlandes.«

    Zeigte Friedrich der Große nur, wie leidenschaftlich er die Lehre der Aufklärung in sich aufzunehmen wünschte, taten zumindest einige seiner Nachfolger ihr Bestes, »Philosophie zu einer materiellen Gewalt« zu machen und Menschen wie Bananen und Ananas zu behandeln, wobei sie zu diesem Zwecke die beispiellosen technologischen Hilfsmittel und Verwaltungskapazitäten nutzten, die der moderne Staat zur Verfügung stellte. Und sie nahmen die Züchtungsvorschrift, die für Friedrich den Großen kaum mehr als eine sehnsüchtige Metapher war, wörtlich. Im Jahre 1930 schrieb R. W. Darré, der spätere Reichsernährungsminister der Nazis:

    »Wer in einem Garten die Pflanzen sich selbst überläßt, wird zu seiner Überraschung feststellen müssen, daß in kurzer Zeit alle Pflanzungen vom Unkraut überwuchert sind, daß sich also das Bild des Pflanzenbestandes grundlegend geändert hat. Soll daher der Garten die Stätte pflanzlicher Vererbung bleiben, d.h. sich über das rauhe Walten der Naturkräfte emporheben, dann gehört dazu der gestaltende Wille des Gärtners, der mit hegender Hand das fördert – (sei es durch Zurverfügungstellen von geeigneten Lebensbedingungen, sei es durch Fernhalten von schädlichen Einflüssen oder durch beide Maßnahmen zusammen) –, was gefördert werden soll, und mit merzender Hand das ausjätet, was den höher gearteten Pflanzen den Ernährungsraum beengen und ihnen Luft, Licht und Sonne zu rauben vermöchte […] Wir stehen so bereits vor der Erkenntnis, daß die Zuchtfragen nicht Nebensachen staatlichen Denkens sind, sondern daß sie im Mittelpunkt aller Betrachtungen zu stehen haben […] Man muß wohl sogar sagen, daß die seelische und sittliche Gleichgewichtslage eines Volkes erst erreicht ist, wenn ein wohlverstandener Zuchtgedanke im Mittelpunkt seiner Gesittung steht […]«

    Im Jahre 1934 wurde der weltbekannte Biologe Erwin Baur, Träger vieler akademischer Auszeichnungen, damals Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Züchtungsforschung, noch konkreter:

    »Jeder Landwirt weiß, daß seine Zucht hoffnunglos entarten würde, wenn er die besten Exemplare seiner Haustiere schlachten würde, ohne sie sich fortpflanzen zu lassen, und er statt dessen weiterhin minderwertige Tiere züchten würde. Diesen Fehler, den kein Bauer bei seinen Tieren und Kulturpflanzen begehen würde, lassen wir in unserer Mitte in einem großen Ausmaß zu. Zur Erhaltung unserer heutigen Menschheit müssen wir darauf achten, daß diese minderwertigen Völker sich nicht vermehren. Eine einfache Operation, die sich in wenigen Minuten vornehmen läßt, macht dieses ohne weiteres möglich […] Niemand begrüßt die neuen Sterilisierungsgesetze mehr als ich, aber ich muß immer wieder betonen, daß sie nur ein Anfang sind.«

    Im gleichen Sinne äußerte sich sein gelehrter Kollege Martin Stämmler im Jahr 1935:

    »Ausrottung und Selektion sind die beiden Pole, um die sich die ganze Rassenzüchtung dreht. Ausrottung ist die biologische Zerstörung des erblich Minderwertigen durch Sterilisation, dann quantitative Unterdrückung des Ungesunden und Unerwünschten […] Die […] Aufgabe besteht darin, das Volk vor einem Überwuchern des Unkrauts zu schützen.«

    Um die Ambitionen des Staates zu unterstreichen, der jetzt fest entschlossen war, einen vom Staat überwachten Plan an die Stelle der unkontrollierten und spontanen Mechanismen der Gesellschaft zu setzen, verband sich die medizinische Metapher bald mit der traditionellen des Gärtners. So erklärte einer der prominentesten und berühmtesten Zoologen, Professor Konrad Lorenz, ein Mann von weltweitem Ruhm und Nobelpreisträger des Jahres 1973, im Juni 1940:

    »Aus der weitgehenden biologischen Analogie des Verhältnisses zwischen Körper und Krebsgeschwulst einerseits und einem Volke und seinen durch Ausfälle asozial gewordenen Mitgliedern andererseits ergeben sich große Parallelen in den notwendigen Maßnahmen […] Jeder Versuch des Wiederaufbaus der aus ihrer Ganzheitsbezogenheit gefallenen Elemente ist daher hoffnungslos. Zum Glück ist ihre Ausmerzung für den Volksarzt leichter und für den überindividuellen Organismus weniger gefährlich als die Operation des Chirurgen für den Einzelkörper.«

    Ich möchte betonen, daß keine der obigen Aussagen ideologisch motiviert war; insbesondere war keine von ihnen spezifisch gegen die Juden gerichtet oder entsprang vorwiegend antisemitischen Gefühlen. (Tatsächlich gab es unter den wortgewaltigsten gelehrten Predigern der gärtnerischen und medizinischen Techniken in der Sozialtechnologie einige Juden. So empfahl z.B. noch im Jahre 1935, kurz bevor er wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen wurde, der bekannte Psychiater Dr. F. Kallmann die Zwangssterilisierung selbst der gesunden, heterozygoten Träger »einer Kopie des Schizophrenie-Gens«. Da Kalimanns Plan die Sterilisierung von nicht weniger als 5 Prozent der Gesamtpopulation zur Folge gehabt hätte, mußte der Eifer dieses Autors von seinen nicht-jüdischen Kollegen gebremst werden.) Die zitierten Wissenschaftler ließen sich einzig und allein vom eigentlichen und unbestrittenen Verständnis der Rolle und Aufgabe der Wissenschaft leiten – und von dem Gefühl der Verpflichtung gegenüber der Vision einer guten Gesellschaft, einer gesunden Gesellschaft, einer ordentlichen Gesellschaft. Insbesondere ließen sie sich von der gar nicht einmal idiosynkratischen, eher typisch modernen Überzeugung leiten, daß der Weg zu einer solchen Gesellschaft über das endgültige Zähmen der inhärent chaotischen natürlichen Kräfte und über die systematische und, wenn nötig, rücksichtslose Ausführung eines wissenschaftlich entworfenen, rationalen Plans führte. Wie es sich ergab, war das zugegebenermaßen eigensinnige und anarchistische Judentum eines der vielen Unkräuter, die das Stück Land bewohnten, das für den sorgfältig entworfenen Garten der Zukunft vorgesehen war. Aber es gab auch andere Unkräuter – Träger von Erbkrankheiten, Schwachsinnige, körperlich Deformierte. Und ebenso gab es Pflanzen, die sich einfach deshalb in Unkraut verwandelten, weil eine höhere Vernunft forderte, daß das Land, das sie für sich in Anspruch nahmen, in den Garten eines anderen verwandelt werden sollte.

    Die extremsten und gut dokumentierten Fälle globaler »Sozialtechnologie« (social engineering) in der modernen Geschichte (die von Stalin und Hitler organisierten) waren, ungeachtet all ihrer begleitenden Scheußlichkeiten, weder Ausbrüche einer Barbarei, die noch nicht vollkommen von der neuen rationalen Ordnung der Zivilisation ausgelöscht war, noch der Preis, der für Utopien entrichtet wurde, die dem Geist der Moderne fremd waren. Ganz im Gegenteil, sie waren legitime Kinder des modernen Geistes, jenes Dranges, den Fortschritt der Menschheit zur Vollkommenheit zu unterstützen und zu beschleunigen, der durchweg das hervorstechendste Merkmal der Moderne war – jener »optimistischen Ansicht, daß wissenschaftlicher und industrieller Fortschritt im Prinzip alle Beschränkungen der möglichen Anwendung von Planung, Erziehung und Sozialreform im Alltagsleben beseitigt habe«, jenes Glaubens, »daß soziale Probleme endgültig gelöst werden konnten«. Die Vorstellung der Nazis von einer harmonischen, ordentlichen, uniformen Gesellschaft bezog ihre Legitimität und Attraktivität aus Ansichten und Überzeugungen, die sich durch anderthalb Jahrhunderte einer Nach-Aufklärungsgeschichte längst im öffentlichen Bewußtsein festgesetzt hatten und mit szientistischer Propaganda sowie einer sichtbaren Zurschaustellung der phantastischen Macht der modernen Technologie angefüllt waren. Weder die nazistische noch die kommunistische Vision standen im Widerspruch zu dem kühnen Selbstvertrauen und der Hybris der Moderne. Sie boten lediglich an, das besser zu tun, wovon andere moderne Mächte träumten, was sie vielleicht sogar versuchten, aber nicht

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